Schweigen – das stumme Leiden in belasteten Familien
Schweigen kann viele Gesichter haben. Während das Miteinanderschweigen in einer guten Atmosphäre des Miteinanders ein Ausdruck tiefer Verbundenheit sein kann, oder eine schweigende Gemeinschaft in einem Retreat Erholung und Getragensein ermöglicht, kennen viele Kinder belasteter Eltern besonders die Schattenseite des Schweigens: Schweigen in eisiger und gespannter Atmosphäre. Ein oftmals unbemerktes und unerkanntes Schreckensgesicht ihrer Kindheitstage, kommt es doch leise daher, ist kaum sichtbar und wird leicht überhört. Diese Kinder erinnern sich mit einem Schaudern an dieses in ihren Ohren dröhnende „eisige Schweigen“, oftmals eines Elternteils, an emotionale Kälte, die die gesamte Atmosphäre bestimmt, ihr zu Hause bewohnt und sich irgendwann in ihnen selbst niederlässt, zur unangenehmen inneren Heimat wird. Wenn die Mutter die Schweigende ist, so wird dies oft besonders schmerzlich erlebt, wenn diese von Beginn des Lebens an die meiste Zeit mit den KIndern verbringt und ihr Schweigen womöglich erpresserisch, machtvoll oder anderweitig nachteilig einsetzt
Wer zuerst spricht, hat verloren – Macht und Kontrolle durch Schweigen
Wenn Eltern beispielsweise selbst als Kinder wiederholt Ohnmachtserfahrungen machen mussten, dann sind sie gefährdet, Schweigen in ihrer elterlichen Rolle als Machtmittel einzusetzen. Schweigen wird dann zum Mittel durch das Kontrolle über andere ausgeübt wird. Die Familienmitglieder werden etwa solange ignoriert, „bekommen“ keine Worte, bis sie wieder so funktionieren, wie es dieser Elternteil erwartet. Der so agierende Elternteil siegt so über seine eigene als Kind erlebte Ohnmacht, indem er nun Macht über die Kontaktgestaltung seiner Familienmitglieder ausübt. Er oder sie bestimmt, wann gesprochen wird und wann nicht. Schweigen wird manipulativ eingesetzt, kindliche Abhängigkeit sträflich missachtet und ausgenutzt
Wenn Krankheit stumm macht…und Kinder ins Leere laufen
Manchmal ist Schweigen Teil einer Erkrankung: maipulatives Schweigen tritt etwa bei narzistisch und borderlinestrukturierten Menschen als Teil der Störung auf. In der elterlichen Depression begegnen Kinder einer anderen Form des Schweigens: die mit der Erkrankung oft einhergehende Teilnahmslosigkeit prägt dann auch die Interaktionen zwischen Eltern und Kind. Dies führt dazu, dass Reaktionen auf kindliche Fragen ausbleiben, kaum Einfühlung und Mitgefühl ausgedrückt wird, Kinder wiederholt ins Leere laufen. Dem depressiv Erkrankten ist dies meist nicht bewusst. Wird es ihm doch bewusst, verursacht es ihm weitere Schuldgefühle, die in der Erkrankungszeit schwer aushaltbar sind. Kinder von erkrankten Eltern brauchen dringend Hilfen von anderen Menschen: denn wenn Kinder diese Leere-Erfahrungen über längere Zeit und in den ersten Lebensjahren machen müssen, kann das nachhaltige Auswirkungen für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung haben, die weit in das Erwachsenenalter hineinreichen, hier insbesondere als Selbstwert-und Bindungsprobleme oder auch als quälende Einsamkeitsgefühle
Kollektives Schweigen: wenn das Tabu das Zepter schwingt
Besonders dramatisch ist das kollektive familiäre Schweigen, wenn einem Familienmitglied ein großes Leid zugefügt wird und darüber geschwiegen wird, wenn Missbrauch oder Gewaltanwendung durch Eltern stillschweigend geduldet wird, wenn das Wahren des Tabus stärker zählt als die Würde des betroffenen Kindes. Die Missbrauchs- oder Gewalterfahrung ist das eine, die fehlende Unterstützung durch die anderen Familienmitglieder, so beschreiben es Betroffene, ist eine weitere Quelle des Leidens, die teils traumatisch erlebt wird. Ebenso leiden oftmals Geschwisterkinder, die in ihrer Hilflosigkeit Gewalt mitansehen müssen und dem familiären Tabu stillschweigend verpflichtet werden. Der Nachhall in das erwachsene Leben ist gewaltig. Kinder in tabuisierenden Familien brauchen achtsame Menschen außerhalb des direkten Familiensystems, die in Loyalität die Wahrnehmung der KInder stärken, eine Zuflucht außerhalb anbieten, und zunächst das Schweigen der Kinder respektieren. Manche finden diese Personen erst als Erwachsene, manche müssen aus ihren Familien genommen werden. Andere leiden insbesondere unter elterlicher Gewalt, wenn Eltern pflegebdürftig und zugleich machtvoll werden. Auch triggern neuerliche Bedrohungsszenarien die erlebte Hilflosigkeit aus Kindheitstagen.
Wenn Leid stumm macht – Leben mit traumatisierten Eltern
Auch Kinder traumatisierter Eltern beschreiben Erfahrungen mit elterlichem Schweigen: so müssen sie etwa erleben, dass die Eltern über erlebten Schrecken verstummt sind und/oder Teile von sich abspalten (in der Fachsprache auch dissoziieren genannt). Sie sprechen partiell nicht oder verstummen, wenn bestimmte Themen oder Gefühle zur Sprache kommen (tragisch eindrücklich etwa bei Kriegsgeschädigten zu beobachten). Ein Beispiel einer solch nachhaltigen Auswirkung und die damit verbundenen Folgen für das Kind beschreibt der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil eindrucksvoll in seinem autobiografischen Buch Die Erfindung des Lebens.
Wenn Vater da war, war jedoch alles viel einfacher, ich war dann erleichtert, weil ich dann nicht mehr allein auf Mutter aufpassen musste. Immerzu befürchteten Vater und ich nämlich, es könnte ihr etwas zustoßen…Ich wusste aber, dass so etwas früher einmal passiert war, und ich wusste auch, dass es etwas ganz besonders Schlimmes gewesen sein musste…gegenwärtig war die Vergangenheit in Mutters Stummsein.“ ( S. 13/14)
„…als wäre ich in meinen ersten Lebensjahren wahrhaftig nur mit zwei Menschen in Berührung gekommen und hätte in einer Art verschwiegenem Geheimbund mit nur den notwendigsten Außenkontakten gelebt.“ (S.43)
„So war die Welt der Kleinfamilie Catt damals, in den frühen fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, auf eine beinahe unheimliche Weise geschlossen, und jeder von uns wachte mit all seinen Sinnen darüber, dass sich daran nichts änderte (S.16)
Wie Worte erlösen können
In der Kindheit erlebtes Schweigen bleibt nicht folgenlos. Wer über Jahre und manchmal gar Jahrzehnte ins Leere gelaufen ist, ist oftmals stark selbstverunsichert. „Ich bin unattraktiv… Ich bin langweilig… Ich bin es einfach nicht wert, dass andere auf mich reagieren…lauten dann Selbstzuschreibungen im Erwachsenenalter. Das Schweigen aus der Kindheit kann weiteres Leiden in den Partnerschaften der derart Aufgewachsenen verursachen. Oftmals ziehen sich derart Betroffene wie in einem unguten Schlüssel-Schloss-Prínzip an, sie finden exakt diejenigen, mit denen sie dieses schweigende Kindheitsdrama wiederholen. Manche nehmen unbewusst das schweigende Elternteil zum Modell, etwas, was sie partout vermeiden wollten: sie werden selbst zu schweigenden Partnern, schweigenden Vätern oder schweigenden Mütter.
Sie fühlen sich betroffen? Wenn Sie um Ihre eigenen Worte schwer ringen müssen, können kreative Wege für sie ein Mittel der Wahl sein. Dazu finden sie auf deisen Seiten einige Anregungen. Wenn Sie um die Worte eines anderen Menschen bis heute kämpfen müssen, sich gar durch Wohlverhalten Worte „erst verdienen“ müssen, dann sind sie und ihre Seele an diesem Ort nicht gut aufgehoben. Wenn Ich-Botschaften wie „Ich leide, wenn du nicht mit mir sprichst!“, ohne jeden Nachhall ins Leere verklingen, ist Unterstützung von anderen Menschen sicher hilfreich und von Nöten: Sie sind heute kein Kind mehr, Sie sind nicht abhängig wie früher (auch wenn sich das manchmal so anfühlt). Durchbrechen Sie die Kette: sprechen sie Worte, suchen sie „Erlösung“ – bei anderen, die Ihnen gern Ohren und Worte schenken.
(Text in Anlehnung an Geiser-Heinrichs/Barnowski-Geiser (2017): Meine schwierige Mutter)