…und nie ist es genug-Sysiphosfamilien
Unsere Herkunft prägt unsere Zukunft. Unsere Herkunftsfamilie prägt, wer wir sind…und noch vielmehr, wer wir zu sein glauben. Als die- oder derjenige wir im familiären System unserer Kindheit gehandelt wurden, sehen wir uns oft noch im hohen Erwachsenenalter: Sündenbock, Sonnenschein, Versager, Hexe…die Rollen, die zugeschrieben werden, sind ebenso vielfältig wie oftmals überhaupt nicht auf das betreffende Kind zutreffend ( s.a. Barnowski-Geiser/Vater, Mutter, Sucht und Wegscheider). Und diese einmal erfolgten Rollenzuschreibungen und ihre Übernahmen halten sich doch hartnäckig: starre Rollenübernahmen und Zuweisungen wirken in desolaten Familiensystemen offenbar Halt gebend: für die Kinder sind sie oftmals das einzig Aufmerksamkeit versprechende Korsett.
Gerade besonders belastete Eltern haben oftmals Mühe, ein gelingendes Leben zu führen: tragisch naheliegend, diese schwierige Aufgabe nun an die Kinder weiterzugeben, zu delegieren..und bei weiterem Nichtgelingen des elterlichen Lebens Versagen und Schuld teils unreflektiert an die Kinder zu geben. Unbewusst meist, ohne Worte, als stummer Vorwurf. Den Eltern ein gutes Leben zu ermöglichen…für diese Aufgabe rackern viele dieser Kinder ihr Leben lang, bis zur Selbstaufgabe, unermüdlich, tragischerweise erfolglos meist: Belastete Eltern seien oftmals wie ein Fass ohne Boden, nimmersatt und nie zufrieden, so beschreiben es betroffene Kinder. Sie geben hinein und hinein und das Angebotene scheint durch die Eltern wundersam hindurchzufallen, ohne je auf einen fruchtbaren Boden zu fallen, verschluckt im Nichts…die süchtige Mutter bleibt süchtig und unzufrieden, der depressive Vater bleibt in Depression und in seinem Weltschmerz, trotz aller großen Anstrengung: aussichtslos! Gerade, weil so vieles eigentlich eine elterliche Aufgabe wäre, die ungetan bleibt, wird das Geschehene in einen Tarnmantel aus Scham gehüllt. Das erwachsen gewordene Kind spürt, wenn die elterliche Beziehung in der bekannten Weise bestehen bleibt, kaum Veränderung: es ist und bleibt nie genug! Aus diesem wiederholt erlebten Nicht-Genügen ( und der Anklang an die Zeugnisnote ungenügend ist nicht zufällig) wird leicht persönliches Versagen, ein chronisches „Ich genüge nicht!“. Diese existenzielle Erfahrung drohen Betroffene zu generalisieren, sie übertragen sie auf weitere Bereiche, auf ihre Arbeit etwa oder ihre Partnerschaften und nahen Beziehungen. Mit weitreichend negativen Folgen: erfolglose Anstrengung erschöpft, Dauerfrustration kann in eigene Erkrankung führen (Forschungen belegen das hohe Risiko der betroffenen Kinder).
Vielleicht finden Sie sich in diesen Beschreibungen wieder? Dann machen Sie den heutigen Tag doch zum ersten Tag Ihres neuen Lebens: Schauen Sie mit offenem und klaren Blick, würdigen Sie, was Sie an Einsatz geleistet haben…und lassen es nun dort, wo es nicht gewürdigt werden kann oder wird, genug sein.Vielleicht stimmt auch für Sie die Aussage: Ich habe sehr viel gegeben, aber leider waren meine Eltern nicht in der Lage, das zu würdigen oder anzunehmen...Sie können eines ab jetzt anders machen: in Ihrer inneren Bewertung und Zuschreibung. Mit dem verstorbenen Roger Willemsen ( Wer wir waren) mag ich Sie einladen, Ihre Gegenwart aus der Zukunftsperspektive zu betrachten…und aktiv zu ändern.
„Erspare ich mir die müßige Frage danach, wie wir wohl künftig sein werden, und nutze die Zukunft vielmehr als die Perspektive meiner Betrachtung der Gegenwart, dann werde ich nicht mehr fragen, wer wir sind, sondern wer wir gewesen sein werden. Nachzeitig werde ich schauen, aus der Perspektive dessen, der sich seiner Zukunft berauben will, weil sie ihn schauert, im Vorauslaufen zurückblickend, um sich so besser erkennen zu können, und zwar in den Blicken derer, die man enttäuscht haben wird.“ ( Willemsen, S.24f)
Willemsen hat treffende Worte gefunden, um gesellschaftliche Entwicklungen zu charakterisieren; manche Perspektive scheint wertvoll im Kontext der belasteten Familie,gerade auch zu Coronazeiten… „Nichtwissen im Wissen zu behaupten; nicht gewusst zu haben werden, während man doch wusste.“ ( S.10)
Ich wünsche Ihnen, dass Sie Ihr Wissen für sich nutzen können.
Eine gute Woche wünscht
Ihre
Waltraut Barnowski-Geiser