Fast ein Krimi: Von vergessenen Kindern, vermeintlichen Boykotteuren und früher Sabotage im Gehirn… was die Forschung zur familiären Alkoholbelastung sagt (Hören, was niemand sieht/Teil 2)
Aus meinen Studien 2009 und 2015, Teil 2
Vergessene Kinder
Erst seit dem beginnenden 20.Jahrhundert wurden Kinder aus alkoholbelasteten Familien überhaupt in den Blick der Forschung genommen. Zurecht spricht Cork von „vergessenen Kindern“. Besonders die Entdeckung der Tatsache, dass ca. 1/3 aller Alkoholiker selbst einen trinkenden Elternteil hat und ein sechsfach erhöhtes Risisko, selbst zu erkranken vergleicht man sie mit Kindern von nicht alkoholerkrankten Eltern, löste einen Forschungsboom aus. Die Suchterkrankung droht, so erkannte man bald, von Generation zu Generation weitergegeben zu werden – ein tragischer Fakt für die Betroffenen,ein unterschätztes Problem für die Gesellschaft: denn das Ausmaß ist riesig. Längst betrifft Alkoholismus nicht nur sogenannte „Unterschichtsfamilien“ – maskierte Sucht kommt auch in noblem Gewand daher. Sucht ist ein Problem in allen gesellschaftlichen Schichten – sie betrifft immer mehr Angehörige. Nicht zuzletzt, und es ist traurig, dass öffentliche Maßnahmen aufgrund des materiellen Aspektes ergriffen werden, belastet Sucht die Volkswirtschaft mit immensen Summen, insbesondere wenn man die Folgekosten und Folgeerkrankungen der Angehörigen mitberücksichtigt (interessante Zahlen von Dr. Mathias Efferts hier nacoa.de/index.php/neuigkeiten/709-100914-berlin-zehn-jahre-nacoa-deutschland-die-vortraege-unseres-jubilaeumsfachtages-zum-downloadDass in der belastenden Kindheit auch Stärken ausgebildet werden (Barnowski-Geiser 2011/2015), wie das Erleben sich genau gestaltet und warum 2/3 der derart Betroffenen nicht selbst an Alkoholismus erkranken, muss Gegenstand weiterer Forschungen sein.
Schauplatz Familie in der Forschung: Angehörige im Boykott? Insbesondere die systemische Forschung leistete wichtige Beiträge zum Verständnis alkoholbelasteter Familien. Vor allem das Zusammenspiel in einer Suchtfamilie wurde hier genau untersucht, vor allem Interaktionen und Dynamik, um es fachsprachlich auszudrücken. Es wurde aufgezeigt, dass alle Familienmitglieder etwas tun müssten, damit der Abhängige die Sucht ablegt. Die mit betroffenen Angehörigen wurden in dieser Prespektive vor allem entdeckt als Boykotteure und potentielle Urheber von Suchtkrankheit identifiziert und nicht als diejenigen, die etwas erlitten. In ihrer eigenen Bedürftigkeit wurden sie erst in jüngerer Zeit in den Blick genommen.Diese Perspektive ist dringend erforderlich. Hier ist ein Paradigmenwechsel angezeigt, der in den Büchern von Monika Rennert http://lambertus.de/de/shop-details/co-abhaengigkeit,1075.html , den Neuerscheinungen zur Co-Abhängigkeit von Jens Flassbeck klett-cotta.de/buch/Fachratgeber/Ich_will_mein_Leben_zurueck!/49096 und in den Büchern der Verfasserin klett-cotta.de/buch/Fachratgeber/Vater_Mutter_Sucht/55896 (s. a. weitere BuchLinks auf dieser Seite) angestoßen wird.
Alkoholbelastung: ein vergessenes Thema der Musiktherapie Musik kann Gefühle und Unaussprechliches zur Sprache bringen: das löst in Betroffenen Angst und Sehnsucht zugleich aus. Obwohl gerade Musik gemeinhin als ein Medium gilt, das etwas zur Sprache bringt, was Menschen nicht mit Worten ausdrücken können, muss die Thematik der familiären Alkoholbelastung in der Musiktherapie zu den vergessenen gezählt werden: weder national noch international hat dieses Thema vor dem Erscheinen der vorliegenden Studie Beachtung gefunden, obwohl Hartmut Kapteina und Isabelle Frohne-Hagemann interessante Einstiege eröffnet hatten. Auch Petzold und Michaelis griffen die Thematik in der Integrativen Therapie auf.
Die Gründe sind vielschichtig: Alkoholismus und die damit einhergehende Schädigung von Kindern durch trinkende Eltern wird einerseits gesellschaftlich immer noch stark tabuisiert, mit offenbar nicht unerheblichen Auswirkungen auf Forschungsaktivitäten. Andererseits arbeiten MusiktherapeutInnen bislang vorwiegend In Kliniken: handelt es sich dabei um Suchtkliniken, und das ist ein geringer Prozentsatz, so wurde gerade Angehörigentherapie lange Zeit „vergessen“ oder nicht als erklärtes Arbeitsfeld definiert. In freien Praxen ist Anmeldung vor allem durch Eltern möglich – Eltern, die ihre Krankheit verheimlichen, scheuen den Weg dorthin: sie lassen sich zum größten Teil weder selbst noch ihre Kinder „freiwillig“ behandeln.
Finden Betroffene doch den Weg in die Musiktherapie (wie etwa im Angebot der Musiktherapie in der Gesamtschule Mülfort / hier auch das BEL-Kids-Projekt: lernwelt.at/projekte/bel-kids/index.html zeigte sich, dass das Musikmachen in der Therapie nicht allen Kindern eine Freude war. Häufig wurde Musik machen genau so lange vermieden, bis Kinder und Jugendliche in der Lage waren, der Tabuisierung Eigenes entgegen zu setzen. Musik deckt auf: Musik gefährdet das Wahren des familiären Geheimnis – so ist dann die Einschätzung der im Tabu Gefangenen.
Kaum genutzt, wenig erforscht – Neurowissenschaft light für Suchtkinder Noch wenig Einzug gehalten in die Arbeit mit Kindern aus alkoholbelasteten Familien haben neurowissenschaftliche Erkenntnisse. Während dieser Bereich allgemein boomt, gibt es kaum nennenswerte Brückenschläge. Was hier im Telegrammstil beschrieben wird, muss zwangsläufig eine beinahe unverschämte Verkürzung der Vorgänge im Hirn darstellen. Interessantes zur Hirnforschung in verständlcher Sprache auch bei Gerald Hüther lernwelt.at/bibliothek/bildung/die-neue-lust-am-eigenen-denken.html
Top 1 Die Ausbildung des Gehirns ist nutzungsabhängig
Erfahrungen, die Kinder wiederholt machen, werden in ihrem Hirn abgespeichert: es bilden sich nutzungsabhängige neuronale Netzwerke. Kinder, die von klein auf in alkoholbelasteten Familien leben, speichern auch ungute Erfahrungen neuronal. Belastende Emotionen, die wiederholt und über Jahre erlebt werden, werden ebenfalls abgespeichert. Sie werden zu Trampelpfaden im Gehirn, die sie oftmals auch als Erwachsene schwerlich verlassen können. Die andauernde Hocherregung, die chronifizierte Belastung führt , gerade wenn sie viele Jahre andauert, zu Erschöpfungs-und Stressreaktionen. Für viele Erwachsene, die die familiäre Situation verdrängen mussten, empfinden sich selbst fortan „Zu empfindlich“ ,“zu sensibel“ (Hochsensibel) und „nicht belastbar“. Meist werden diese Selbstzuschreibungen ihnen nicht wirklich gerecht.
Top 2 Eine gute Nachricht: Gehirne sind veränderbar
Das Wissen um die Plastizität des Gehirns birgt wunderbare Chancen für KInder aus belasteten Familien. Die Verschaltungen im Gehirn lassen sich demnach verändern.Wiederholte Erfahrungen bilden gleichsam Trampelpfade im Hirn: das Kind kann also wiederholt den Pfad der Angst „laufen“ und zu einem ängstlichen Kind werden, es kann aber auch neuartige Verknüpfungen lernen, etwa den „Pfad“ des Wohlfühlens erfahren,neu begehen und als neue Hirn-Spur anlegen. Dazu braucht es frühzeitig gute Orte: gute Bindungserfahrungen und Schutzräume außerhalb der Stammfamilie.
Top 3 Ich fühle, was du fühlst – Empathie und Modell
Menschen aus Suchtfamilien verfügen oftmals über besondere Einfühlungsfähigkeiten. Wie die Neurowissenschaft zeigt, ermöglichen dies Spiegelneuronen. Betroffene Kinder in großer Liebe und Sorge um ihre erkrankten Eltern, entwickeln besondere Fähigkeiten, sich in die innere Landschaft des betroffenen Elternteils einzufühlen. Diese Fähigkeit wird oft zu einer besonderen Stärke ausgebildet, die sie auch anderen gegenüber im besonderen Maße einsetzen können.Zugleich birgt diese FähigkeitSchatten: das hohe Stresspotenzial der Eltern kann zu Dauerüberflutung mit heftigen Gefühlen führen, die den Kindern wenig zuträglich sind. Diese Gefühlsüberforderung wird dann tragischer Weise teils durch eigenes Suchtverhalten kompensiert. (Eindrucksvoll dargestellt im Film über Anna youtube.com/watch?v=iyYJGw-efn8&feature=youtu.be Dringend brauchen diese KInder Pausen und Erholung von der elterlichen Belastung.
Wenn elterliches Suchtverhalten zur einzigen Lösungsstrategie geworden ist, droht diese zudem zum Modell für ihre Kinder zu werden – Kinder brauchen neben ihren Eltern frühzeitig weitere Bezugspersonen. Sie brauchen gute Modelle für ihr eigenes Leben, indem andere Menschen anbieten, was die erkrankten Elternteile nicht anbieten können oder konnten.
Top 4 Klatschbase Körper: Warum Körper, Seele und Geist Teamplayer sind
Eine Trennung zwischen Denken und Fühlen ist ein gedankliches Konstrukt, das mit den tatsächlichen Vorgängen in menschlichen Gehirnen wenig zu tun hat. Hirnforscher fanden heraus, „Daß Großhirnrinde und Limbisches System eine unauflösliche Einheit bilden und dass Kognition nicht möglich ist ohne Emotion, dem erlebnismäßigen Ausdruck des Prozesses der Selbstbewertung des Gehirns.“ (Roth 1997, S.178) Das Wissensgedächtnis arbeitet hier eng mit den Teilen für Gefühl und Antrieb zusammen. Jedes Denken ist eng mit Emotionen und Fühlen verknüpft und ein körperlicher Prozess. Diese Komplexität pointiert Damasio wie folgt: „Die Seele atmet durch den Körper und Leiden findet im Fleisch statt, egal, ob es in der Haut oder in der Vorstellung beginnt.“ (Damasio 1997, S.19) Wenn Kinder und Erwachsene in belasteten Familien aufwachsen, so müssen die Spuren dieser Zeit auf körperlicher, seelischer und geistiger Ebene gesucht werden. Wenn das Fühlen belastet ist, so wird dies Folgen für das Denken haben (was immense Probleme beim Lernen zufolge haben kann) und wiederum nicht spurlos am Körper vorbei gehen. Wenn Kindern und Erwachsenen aus alkoholbelasteten Familien geholfen werden soll, ein besseres Leben zu führen, so müssen alle Ebenen in den Blick genommen werden. Eine rein psychoedukative Arbeit, in der lediglich über Sucht informiert wird, greift zu kurz. Für Betroffene aus Suchtfamilien muss und darf etwas mehr an Hilfe sein, so wie es auch im AWOKADO-Hilfekonzept (Barnowski-Geiser 2009 und 2015) aufgegriffen wurde.Wir müssen uns endlich den Gefühlen der Betroffenen stellen und ihnen positive Gefühlserfahrungen ermöglichen.
In Teil 3 werde ich in Kürze über Nicht-Orte, Geheimnisträger und Burgbewohner mit Haut und Haar erzählen. Bis dahin alles Beste für Sie und Euch.