Wer hat eigentlich das Problem? Verantwortung abgeben und Probleme bei den Eltern lassen

Herrn R.s Vater ist depressiv…solange Herr R. denken kann. Behandlungen vermeidet der Vater, Ärzte und Therapeuten, so denkt der Vater,  machten sein Leiden nur noch schlimmer. Für Herrn R. bedeutet das, „von Kindesbeinen an mit dem Leiden meines Vaters ziemlich alleine dazustehen“ – seine Mutter tat zeitlebens so, als habe der Vater nichts, erzählt er. Sein Vater interessiere sich wenig für ihn, sei vor allem  mit sich selbst beschäftigt und schwermütig. Er wirft seinem Sohn Herrn R. vor, wie gut es ihm doch gehe… während er „vor die Hunde gehe“. Herr R. kann kaum noch abschalten, befürchtet, ähnlich depressiv zu werden wie sein Vater, hat nun Eheprobleme wegen derer er Hilfe sucht. Von seiner Frau fühlt Herr R. sich nicht wirklich geliebt (er hat Angst, dass sie ihn verlasse), seine Kinder beklagen seine Verschlossenheit.

In Gesprächen wird deutlich, das Herr R. bis heute annimmt, das Verhalten seines Vaters ginge auf ihn zurück. Er sei nicht der Sohn, den der Vater sich gewünscht habe. Er sei kein guter Gesprächspartner und hätte sich noch viel stärker engagieren sollen, dem Vater zu helfen. Er hätte wahrscheinlich nie aus dem Elternhaus ausziehen dürfen, vermutet Herr R.

Herr R. bezieht die Krankheit seines  Vaters auf sich. Er glaubt, die Depression des Vaters hätte grundlegend etwas mit ihm zu tun, sei letztlich durch ihn verursacht. Der Vater sei so, weil er, Herr R. nicht interessant, nicht kooperativ , nicht klug genug sei usw. Dies ist nicht ein „schrulliger Zug“ des Herrn R., wie vielleicht manch einer annehmen könnte, sondern eine schwere Belastung aus KIndheitstagen: da er seit Kindestagen mit der Erkrankung des Vaters belastet wird und mit dieser Belastung alleine gelassen wird, aktivieren sich seine kindlichen Erklärungen wiederholt (Geiser-Heinrichs 2017)

Eltern haben ihre Probleme in 99% aller Fälle unabhängig von ihren Kindern – dies ist wichtig zu erkennen. Der Vater ist depressiv, die Mutter trinkt. Punkt! Die Eltern haben alle damit verbundenen Probleme –  Kinder sind mitbetroffen und fühlen sich verständlicherweise diesen Krankheiten gegenüber ohnmächtig. Sie haben die Erkrankung aber nicht verursacht – ihre übernommene Verantwortung liegt meist im Verborgenen und ist den erwachsenen Kindern oftmals zunächst ebensowenig  bewusst wie die übernommene Schuld.

Wie kommt es, dass viele Kinder sich für die Krankheit der Eltern verantwortlich fühlen? Versuchen wir zu verstehen, wie es zu diesem Mechanismus kommen kann, indem wir Entwicklungspsychologie und Neurowissenschaften zu Rate ziehen: Kinder machen unterschiedliche Entwicklungsstadien durch. Im Kindesalter durchlaufen sie eine Phase, die Psychologen auch als Phase des Egozentrismus bezeichnen (Piaget). Kinder glauben in diesem Alter, alles erschaffen zu können und für alles, was um sie herum passiert, verantwortlich zu sein. Bei Streitigkeiten der Eltern etwa fragen sich Kinder, welchen Grund es dafür  wohl gibt. Da das Kind noch nicht in der Lage ist, Beziehungskonflikte und Probleme der Eltern tiefergehend zu durchschauen, gibt es sich selbst daran die Schuld. Unangemessenes Handeln der Eltern, das mit bestimmten Krankheiten wie Sucht oder Beziehungsproblemen zusammenhängt,  beziehen die Kinder auf sich (Geiser-Heinrichs/Barnowski-Geiser 2017). Halten diese Probleme über viele Jahre an, so wird diese dauernd genutzte Hirnspur „Ich bin verantwortlich für unsere familiären Probleme“, bis hin zum „Ich bin schuld am So-Sein, an der Krankheit meiner Eltern“ zu einer breiten vielbefahrenen Hirn-Autobahn, wie es die Neurowissenschaftler vereinfachend erklären (Hüther). Da die entstandenen Probleme von Kindern nicht befriedigend bewältigt werden können, resultiert daraus in der Folge meist ein herabgesetzter Selbstwert: ein grundlegendes Gefühl der Unzulänglichkeit sowie das Gefühl, überhaupt nicht liebenswert zu sein. Im ungünstigen Falle entsteht ein Lebensproblem, das mit in die nächste Beziehung genommen wird und sogar die neu gegründete Familie, wie im Falle von Herrn R., nachhaltig negativ beeinflussen kann. „Ich bezieh  nicht mehr alles auf mich“, kann ein wichtiger Schritt sein zu mehr Lebens-und Beziehungsqualität sein. Damit aus dieser Aussage eine gelebte Haltung wird, muss sie täglich, wie beim Sport, eingeübt werden: damit einen neue Hirnspur langsam aufgebaut wird, um im Bild zu bleiben, zu einer neuen Hirnautobahn werden kann. Oft hilft es, einen mantraartigen Satz zu formulieren und diesen zu wiederholen.

Eine schwere elterliche Erkrankung ist schwer auszuhalten. Viele Kinder fühlen sich ohnmächtig ausgeliefert, bis ins hohe Erwachsenenalter. Erst das Eingestehen der Ohnmacht, gerade wenn die unmittelbare Belastung vorbei ist (die erwachsenen Kinder Kontakt zu den Eltern und Dosierung des Kontaktes selbst bestimmen können), erlaubt es jedoch, aus dem Anstrengungs-Hamsterrad auszusteigen. Da Ohnmacht so schwer zu ertragen ist, erscheint der „Verursacherglaube“ der erwachsen gewordenen Kinder in manchen scheinbar als leichtere Wahl (diese Wahl wird jedoch unbewusst getroffen), gibt es doch hier einen aktiven Anteil, eine scheinbare Gestaltungsmöglichkeit. Ein Trugschluss: das Abarbeiten an der Krankheit, der Wunsch, die Krankheit zu besiegen und elterliche Liebe, „gesehen werden wie man wirklich ist“, endlich zu bekommen, werden leicht zum Sysiphos-Projekt. Ein Reset, ein zurück auf Null, tut hier oft gut: die elterlichen Probleme nicht mehr auf sich beziehen. Dabei unterstützt, den Kopf zu Hilfe zu nehmen und innerlich deutlich Stop zu sagen, wenn das Kreisen um Schuld einsetzt.

Eine gutes Wochende wünscht

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Achtung: Worte gestalten Ihre Welt..und Ihre Beziehungen

Ist eine Beziehung zu Ende gegangen, so erleben das die Beteiligten oft als  schwerwiegendes Ereignis. Wenn diese Menschen über das Beziehungsende sprechen, treten meist ihre inneren Bewertungen zutage. Auffallend oft bewerten Menschen mit Kindheitsbelastungen ein Beziehungsende negativ oder/und als ihr persönliches Versagen: „Ich bin schon wieder gescheitert!“ oder  „Ich habe komplett versagt!“, heißt es dann. Wenn sie ihre Geschichte erzählen, ist auffallend, dass andere Menschen ihnen wiederholt Beschämendes antaten, was das Maß des Erträglichen weit überschritt oder auch dass andere Menschen sich mit Schuld beluden. Natürlich kann es wertvoll sein und ist unabdingbar, in einer Beziehung den eigenen Anteil zu beleuchten: Kinder schwieriger Eltern haben offenbar jedoch oftmals erlernt, unabhängig von der Sach-und Beziehungslage, sich selbst alle Schuld und alleinige Verantwortung zuzuschreiben. Sie nehmen dieses schwere Bewertungspaket mit in ihre nächsten Beziehungen und in ihr Bild von sich selbst…negative Zuschreibungen prägen ihre Identität. Manche können, nachdem sie diesen unguten Mechanismus durchdrungen haben, zu einer anderen Einschätzung kommen:

„Ich habe mich weiterentwickelt und dann hat unsere Beziehung nicht mehr gepasst!“, heißt es dann etwa.

Wie wir Ereignisse bewerten und dies in Worte fassen, wie wir es zur Sprache bringen, gestaltet maßgeblich unsere Welt und unsere Lebensqualität. Aussagen über unsere Beziehungen und Taten sind Aussagen über unser Denken und Bewerten…Achtsamkeit ist auch hier ein zentraler Schlüssel zum besseren Leben.

Wie Sprache Identität bildet, hat Ilse Orth, Integrative Therapeutin, in einem lesenswerten Aufsatz 2009 dargestellt. Bei weiterführendem Interesse empfehle ich Frau Orths Text zur weiblichen Identitätsbildung.

Eine gute Woche wünscht

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser