Heilung braucht Hoffnung

Wenn Kinder wiederholt von Eltern enttäuscht wurden, (wenn etwa das Versprechen, sich von der Sucht zu lösen oder gewalttätiges Verhalten zu unterlassen, wieder und wieder nicht eingehalten wurde oder elterliches Verhalten nicht „diskutiert“ oder angesprochen werden darf), dann fällt es   besonders schwer, noch an jemanden oder an etwas zu glauben.In der Folge wird es sogar zu einem Problem, auf die Möglichkeit der Veränderung überhaupt zu hoffen, auch als Erwachsene. Es fällt dann schwer, überhaupt noch hoffnungsvoll zu sein, überhaupt noch etwas zu ersehnen und wünschen.Manche dieser erwachsenen Kinder haben sich über die Jahre in der hoffnungslosen Traurigkeit eingerichtet: sie ist ihnen zur inneren Heimat geworden. Dieses Vertraute zu verlassen, ist schwer.

Manche Menschen, die in ihrer Kindheit besonderen Belastungen ausgesetzt waren, erkranken zudem körperlich oder/und seelisch. Hier wird es besonders schwierig, die Hoffnung auf die Heilung und Veränderung zu beleben, sie nicht gänzlich zu verlieren. Viele Beispiele zeigen uns, wie mächtig Hoffnung in das Leben spielt, wenn es um existenzielle Erkrankung geht: „Totgesagte“ lebten entgegen aller gegenteiligen Voraussagen lange weiter, „Kerngesunde“ starben, nachdem ihnen irrtümlich mitgeteilt wurde, dass sie nur noch sehr kurze Zeit zu leben hätten.  Ungewöhnliche Heilungswege zeigt Anne Devillard in ihrem Buch „Heilung aus der Mitte“ in Experteninterviews unterschiedlicher Couleur (Kuby, Dahlke, Dürr, Willigis Jäger  usw.) – Die Bedeutsamkeit von Einstellung, Hoffnung und Glaube zeigt sich eindrücklich – wenngleich dort, wo die persönliche Erfahrung kurzerhand zum Rezept für jedermann erhoben wird, m.E. Vorsicht angezeigt scheint.

Wie sich die Kindheitsbelastung auch im Jetzt auswirkt:  der Wunsch nach Heilung ist  groß. „Sehnsucht“  nach Heilung und einem besseren Leben, zeigt sich als wertvoller Motor: sie treibt an und ist ein guter Verbündeter. Diese Sehnsucht braucht  Unterstützung durch den Faktor „Hoffnung“.  Es mag für Sie befremdlich klingen, aber  in der Zusammenarbeit mit Betroffenen zeigte sich: Erwachsene mit schweren Kindheitsbelastungen müssen „Hoffen“ üben –  also, packen wir es mit der zeitgemäßen Formulierung an: Train your hope!

Übung Train your hope

Wenn Hoffnung, Glaube und Vertrauen auf der Strecke geblieben sind, dann ist der Weg ebendahin nicht leicht: diese Fähigkeit muss wie im Sport erst trainiert und aufgebaut werden. Beginnen Sie jetzt: Seien Sie geduldig mit sich, was viele Jahre nicht möglich war, ist nicht in einer Übungseinheit in wenigen Minuten zu ändern…

Probieren Sie aus…passt es gerade?

Dann nehmen  sich jetzt einige Minuten Zeit. Gehen Sie, so wie es auf dieser Seite an anderen Stellen beschrieben wurde, in der bewährten Weise mit der Achtsamkeit zu Ihrem Atem, gehen Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit zu sich selbst. Nun sinnieren Sie ein wenig: was hoffen Sie ganz und gar nur für sich selber (Hinweis: in vielen Fällen etwa wünschen sich Menschen in Beziehungen, die in großer Abhängigkeit voneinander geführt werden, dass sich der Partner verändern möge, also dass er aufhört mit einem schädigenden Suchtverhalten etc.- meist erfolglos)-. 

Formulieren Sie nun diese Hoffnung, die sich auf ihr Leben bezieht, sehr genau. Schreiben Sie Ihren Satz auf und formulieren Sie ihn solange um, bis er exakt für sie stimmt. Bei anderen Betroffenen lautet ein Satz etwa :“

Ich weiß, dass ich ruhig und zufrieden leben kann!“ oder

„Unabhängig davon, wie sich die Menschen um mich herum entwickeln, weiß ich, dass ich mein Leben positiv gestalten kann.“ oder

„Ich werde ab sofort gut für mich sorgen!“

Wenn Sie Ihren Satz gefunden haben und er Ihnen, so wie er nun formuliert ist, stimmig erscheint, so ist er Satz wichtig für Ihr weiteres Leben. Ihn heute zu formulieren, war ein wichtiger erster Schritt. Damit dieser Satz Sie auf dem Weg in Ihr neues Leben wirklich stützt, also wirklich Teil ihres neuen Denkens und Hoffens wird, müssen Sie ihn fortan wertschätzen, indem sie ihn regelmäßig wiederholen. Finden Sie ein Ritual, zu einem festen Zeitpunkt am Tag, an dem Sie diesem Satz durch mehrmaliges Wiederholen einen Platz geben. Ihre Gehirnbahnen, so zeigen uns Forschungen, können neugebaut werden und damit auch ihr Hoffnungspotenzial- diese neuronalen Bahnen brauchen Wiederholung und Ihre Begeisterung bei der Sache…

Vielleicht haben Sie Bilder im Kopf, wie dieses  Leben mit Heilung sich anfühlen wird: Finden Sie ein Symbol, einen Klang ,ein Musikstueck oder eine Landschaftsszene, etwas, was dieses Gefühl wiedergibt.  Kombinieren  Sie dieses mit Ihrem Satz. Wichtig ist: Tun Sie es mit dem Bewusstsein, dass Sie Ihr Leben gerade jetzt in die Hand nehmen. Wenn Sie all dies halbherzig und ohne Glauben auf Hoffnung machen, diese Zeilen lesen, nur um Sie, wie gewohnt, abzuspeichern unter: „Klar, man kann viel reden, bei mir klappt das alles eh nicht!“ dann wird sich diese Aussage wahrscheinlich auch in dieser negativen Weise erfüllen.

Seien Sie in der nächsten Woche achtsam, wo Ihnen Wünsche nicht materieller Art begegnen, Visionen, Sehnsüchte…notieren Sie diese.

Wenn Sie alleine nicht zu Glaube und Hoffnung finden, suchen Sie nach einen wertschätzenden Anderen, dem Sie sich anvertrauen: auch das kann wahre Wunder bewirken! Wenn es diesen Menschen in Ihrem Leben gerade nicht gibt, schauen Sie in guten Selbsthilfeforen nach Online-Gesprächspartnern. Auch das kann ein erster Schritt sein, Ihrer Hoffnung nachzugehen.

Wie finden Menschen mit Kindheitsbelastungen ihre Heilung?…Damit beschäftigen sich viele Beiträge auf dieser Seite. Als ein entscheidender Einflussfaktor für ihr gelingendes Leben zeigte sich, wie wir nun angesehen habe, die Fähigkeit, zu hoffen. Diese Fähigkeit ist eng verknüpft mit dem, was Erikson das Urvertrauen nennt. Dieses entsteht nach Eriksons Auffassung im ersten Kontakt mit den Eltern. Petzold spricht in diesem Zusammenhang von Grundvertrauen, das auf dem Grund menschlicher Existenz fuße, einem Fundament, das unsere Existenz trage (Petzold , S.231). Diesem Verständnis nach verfügen Menschen über ein Grundvertrauen, das „einfach da“  ist. Es wird durch die frühen Beziehungen  bekräftigt. Für manche ist auf diesem Urgrund eine enge Gottesverbindung, eine Kosmos-Verbindung oder Spiritualität angesiedelt. Wie sich dieser Grund auch jeweils gestaltet, zu diesem Grund und dem Grundvertrauen müssen und können Menschen mit Kindheitsbelastungen zurückfinden. Diesen Weg zum Grund zu ermöglichen, stellt  eine zentrale Aufgabe von Therapie für Erwachsene mit Kindheitsbelastungen. Eine therapeutische Beziehung kann hier eine wichtige Rolle auf dem Weg zu Grundvertrauen und Hoffnung übernehmen. Eine andere wichtige Bedeutung kann darin bestehen, Einstellungswandel zu begleiten. Wann wir entlastet, gesund, heil sind, ist eine Frage der Perspektive:

Jacob Klaesi

„Gesundheit ist das Vermögen, auch Krankheit und Gebrechen gleichmütig, wenn nicht gar heiter und dankbar, jedenfalls aber würdig und fruchtbringend zu ertragen.“

zitiert nach Petersen, in: Die Rolle des Therapeuten und die therapeutische Beziehung, S.22/23)

Hat dieses Zitat des Schweizer Psychiaters Klaesi auch in Ihnen Widerspruch hervorgerufen?  Ein hoher Anspruch liegt in dieser Aussage: aber auch eine interessante Perspektive. Die Ansprüche an das eigene Heilsein zu reduzieren, die angestrebte Heilung nicht mit vollständiger Gesundung gleichzusetzen sondern den guten Umgang mit Krankheit als „gesund“ zu definieren, kann entlastend wirken. Betroffene, die in der Lage waren, auch kleine Verbesserungen zu würdigen (Krankheits-, Belastungs- und Schmerztagebücher waren dabei hilfreich), fühlten sich gesünder, bezeichneten sich insgesamt als „heiler“. Es zeigte sich, dass Heilung für Betroffene mit Kindheitsbelastungen das Gelingen eines Balanceaktes bedeutete: der Balance zwischen Akzeptanz und Gestaltung. Die Akzeptanz, dass kindliche Belastung nicht folgenlos geblieben ist einerseits, und das Zutrauen zur eigenen Gestaltungsfähigkeit andererseits: ein Bewusstsein für die eigene Wirkmächtigkeit, das Ausmaß und die Einstellung zu den Belastungen aktiv zu wandeln ebenso wie das Wissen, um die Grenzen des menschlichen Einfluss.

Ich wünsche Ihnen eine gute Balance und Mut zur Hoffnung. Vielleicht versetzen Sie mit Ihrem Glauben noch nicht „Berge“, aber einen kleinen wichtigen Stein in die richtige Richtung!

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Zitate aus

Dr. Waltraut Barnowski-Geiser ist Therapeutin und Autorin.

Ihre Bücher zum Thema: Vater, Mutter, Sucht (2015) und Hören, was niemand sieht ( 2009).

Arbeit und Unterstützung nach dem AWOKADO-Hilfe-Konzept (auch in individuell zugeschnittenen Kompaktblöcken) in ihrer Praxis KlangRaum in Erkelenz

Heimweh, Sehnsucht und Co: Coronazeiten als Brutstätten der Sehnsucht

Corona stellt uns, wie wir hier schon einige Male beleuchtet haben, vor besondere Herausforderungen. Die Folgen der sozialen Distanzierung werden gerade erst präziser in den Blick genommen. In meiner Arbeit fällt mir auf, dass die Themen „Leere“ und „Verlorenheit“ verstärkt eine Rolle spielen im Leben der Menschen mit Kindheitsbelastungen. Manch einem kommt die staatlich erzwungene Diustanzierung zu schwierigen Eltern nicht ungelegen: und dennoch lässt sie in manch Kindheitsbelastetem ein ungutes Gefühl zurück: etwas fehlt, seit Kindheitstagen. Betroffene empfinden Leere, „Nichts“, bei genuaerem Nachforschen werden alte Wunden, Verlorenheit, mangelnde Geborgenheit, spürbar. Dieses Gefühl gleicht dem kindlichen Heimweh der Menschen, die die elterliche Nähe ein Leben lang suchten und nie fanden.

Die offene Rechnung: Kindheitsbelastungs-Heimweh

Fühlen auch Sie sich manchmal scheinbar grundlos traurig und niedergeschlagen, haben an kaum etwas Interesse, fühlen sich appetitlos im Wechsel mit Heißhungerattacken?…Sie haben das Gefühl, nicht richtig dazuzugehören, verspüren wenig Motivation zur Arbeit und auch nicht, tatkräftig etwas Neues zu beginnen? Dann kann es sein, dass sie unter chronischem Belastungs-Heimweh leiden…

Wenn kindliche Bedürfnisse nach elterlicher Liebe und Zuwendung nicht befriedigt wurden, dann scheint oft lebenslang etwas offen zu bleiben. Etwas Unbestimmtes scheint verloren. Etwas, das am ehesten mit dem Begriff Heimweh zu beschreiben ist. In der Folge richten erwachsene Kinder ihr Bemühen darauf, dieses Heimweh wegzubekommen, es von den Eltern doch noch gestillt zu bekommen oder auch, es einfach nicht mehr zu fühlen.

Viele Kinder aus belasteten Familien leiden im hohen Erwachsenenalter  an chronischem Heimweh, ohne darum zu wissen: belastete Familien sind wahre Brutstätten der Sehnsucht (zit. Vater, Mutter, Sucht, s.u.). Der Begriff Heimweh wird allgemein als Beschreibung gewählt, wenn in früher Kindheit eine Gemeinschaft verloren gegangen ist. Bei belasteten Kinder bekommt Heimweh eine andere Dimension.  Heimweh, das ich als Belastungsheimweh bezeichnen möchte, ist vielmehr bei all denjenigen vorhanden, die eine familiäre Gemeinschaft nie befriedigend erlebt haben und bei denjenigen, die sich selbst in der Suche nach elterlicher Liebe verloren gegangen sind. Belastungsheimweh ist immer auch ein Suche nach uns selbst, nach der eigenen Identität – oft einhergehend mit großer Verzweiflung.

Die junge Frau ist außer sich. Ihr Freund betrüge sie permanent, schlage sie, wenn sie ihn darauf anspreche und sie nehme diese Behandlung wieder und wieder in Kauf. Sie verstehe sich selbst nicht, Biografisches kommt ihr in den Sinn. Sie ist Tochter eines Alkoholikers und einer depressiven, tablettenabhängigen Mutter. In der Arbeit zu diesem Thema äußert sie, süchtig nach Ihrem Freund zu sein. „In meiner Familie hat das angefangen: ich bin der Liebe, die ich nicht bekam, hinterhergelaufen. Wie ein Stier hinter dem roten Tuch, so laufe  ich seitdem der Liebe hinterher!“

(mehr …)

„Fakenews waren in meiner Familie an der Tagesordnung“ – über Vertrauen und Misstrauen in schwierigen Zeiten

Herr K., Sozialarbeiter, 35 Jahre alt, ruft an. Er sei verunsichert. Er wisse nicht mehr, wo ihm der „Kopf stehe“. „Corona und die beruflichen Unsicherheiten machen mir Angst. Ich verliere zunhemend die Orientierung, ich weiß nicht, wem und was ich glauben soll. Was ist Fake, was muss ich ernst nehmen?“

Herr K. ist Erwachsener aus einer Alkoholikerfamilie. Viele Menschen mit diesen und anderen Kindheitsbelastungen fühlen sich augenblicklich besonders verunsichert. „In unserer Familie wusste man nie, wo man dran war, eigentlich war alles Fake – Fakenews über das Trinken meines Vaters waren bei uns an der Tagesordnung. Ja, Fake ist bis heute die Normalität bei meinen Eltern!“

Oftmals wird Menschen wie Herrn K. entgegengehalten: „Du musst einfach mehr Vertrauen haben!“ Menschen mit Kindheitsbelastungen würden ja gerne…sie kennen aus ihrer Kindheit jedoch oft so verzerrte Wahrheiten, dass sie längst nicht mehr wissen, wem und was sie glauben schenken können. Pauschales Vertrauen erscheint da wenig hilfreich, wie uns Fakenews und andere ungute mediale Entwicklungen zeigen. Auch Politiker demonstrierten in der garnicht fernen Vergangenheit teils, nicht nur in Amerika,  einen sehr speziellen Umgang mit Wahrheit und Wirklichkeit: die Wahrheit, das Eigentliche und Offizielle wird kurzerhand umdefiniert, uminterpretiert oder so gezeigt ( retuschiert), wie es der eigenen Vorstellung entspricht. Dieser Mechanismus ist Kindern aus belasteten Familien oft zutiefst vertraut: Ihre Eltern haben familiäre Geschichte genauso interpretiert, umgeschrieben oder umgedeutet wie es für sie selbst am ehesten „passte“ oder wie es, so glaubten diese Eltern, für alle am ehesten zu verkraften war: Eben  so, dass  das Familiengefüge zusammenblieb. Fakenews, alternative Fakten und andere Verzerrungen sind für Kindheitsbelastete heimatlich vertrauter Boden, ein Boden der familienspezifischen Narration (Erzählung): die Erzählung einzelner Familienmitglieder kann sehr unterschiedlich ausfallen, wie Sie es vielleicht auch aus Ihrem Leben kennen (s. Meine schwierige Mutter 2017). Diese Uminterpretation wird in manchen Familien so intensiv betrieben, dass die Betroffenen kaum noch zwischen Realität und Verzerrung unterscheiden können, weder die Erzählenden noch die Hörenden. Blind abverlangtes Vertrauen führt oft in chronische Verwirrung. „Jedes Leben ist voller Illusionen, wohl weil uns die Wahrheit zu unerträglich erscheint. Und doch ist uns die Wahrheit so unentbehrlich, dass wir ihren Verlust mit schweren Erkrankungen bezahlen.“ (Alice Miller 1997, S.11)

Warum der klare Blick sie ganz schön verwirren kann

Jahrzehntelanges Ansehen von täglicher Werteverschiebung oder Umdeutung bleibt nicht ohne Folgen: Betroffene Kinder und Erwachsene wissen oftmals nicht mehr, was richtig und falsch, was wichtig oder unwichtig ist. Für Betroffene liegt das, was sie erleben oder erlebt haben, oftmals im Nebel, im Diffusen, ist unklar und nicht greifbar. Manchmal fehlen jegliche Erinnerungen an die Kindheit, zurückgeblieben ist nur ein dumpfes Gespür, dass irgendetwas nicht stimmt, ohne dafür einen Grund benennen zu können. Das Unaushaltbare in den „Nebel des Vergessens“ zu hüllen, erscheint als not-wendiges Coping, den in der elterlichen Sucht begründeten Krisen zu begegnen. Zugleich löst dieses „Nebulöse“ Unsicherheit aus, vor allem, wenn es zum chronifizierten Erleben wird. Der Verlust des gerichtet Seins, unterdrückte Gefühle, einhergehend mit der Beeinträchtigung der Bewertungsfähigkeit, wirken verstärkend in Richtung eines sich unklar und diffus Fühlens Betroffener. Letztlich wird nicht nur das Erleben der Krise weggeblendet, sondern das gesamte Erleben in den Nebel getaucht: Betroffene beginnen vor ihren eigenen Wahrnehmungen, vor ihren ureigenen Gefühlen davonzulaufen. Oftmals äußern Menschen im therapeutischen Prozess gerade dann, wenn sie die familiäre Realität im Erwachsenenalter erstmals klar sehen: Jetzt bin ich total verwirrt! Das erscheint paradox: aber Der Verdrängungsschutz hat eingesetzt, der Klarblick unterliegt dem Tabu. Es hilft vielen Betroffenen, Verwirrung als eigenen Schutzmechanismus zu akzeptieren und würdigen.

Wie Raffaela das Glauben lernen will – ein Beispiel aus einer kreativtherapeutischen Einheit

 „Und jetzt will ich endlich glauben!“

Raffaela, 13 Jahre alte und Tochter einer drogenabhängigen Mutter, hat einen Stimmungsstein mit in die Therapie gebracht. Sie findet an diesem gerade unter Jugendlichen in Mode gekommenen Accessoire interessant, herauszufinden, welche Stimmungen sie denn habe. „Ich möchte gerne positive Stimmungen haben, die anderen lieber nicht!“, meint sie. Sie sprüht auf meine Anregung hin ihre aktuellen Stimmungen mit Gouachefarbe auf Papier und kommentiert jeweils: „Rot: Das ist meine Liebe zu verschiedenen Personen, auch zu Mama, ich freue mich, dass sie jetzt eine Wohnung nimmt, Grün ist meine Hoffnung, Lila meine Unsicherheit. Am meisten beunruhigt sie die Stelle, an der alles ineinander geht, ganz viele Gefühle und Stimmungen, die sie mit absoluter Verwirrung verbindet. „Ich weiß oft meinen Weg nicht mehr!“, sagt sie leise.  „Ich weiß nicht, woran ich glauben soll. Ich will glauben, dass Mama es jetzt schafft, trocken zu werden und dann klappt das manchmal doch wieder nicht. Und wenn andere daran zweifeln, dass Mama trocken wird, wenn andere was anderes sagen, dann bin ich total verwirrt. Ich will jetzt aber glauben, dass das klappt diesmal.“ Wir suchen in ihrem Bild nach einer Stelle für das Gegenteil der Verwirrung. Dies ist eine Stelle mit geraden Linien. „Hier weiß ich, wo es lang geht. mein Leben hat eine Richtung. Jetzt ist mal die Mama in meinem Leben dran!“ ( Sie hofft, mit ihrer Mutter wieder zusammenleben zu können, Anm. d. Verf.) Das Bild der Klarheit und des geraden Weges gefällt ihr. Sie setzt es in Klang um, trommelt. Sie hört ein spannenderes Leben, das kommen wird. Ich höre in ihrem Spiel eine hohe Dauererregung, die ich in meiner Resonanz anstrengend finde. „Das ist es auch!“, sagt sie. „Ich will gar nicht mehr runter kommen. Pausen mag ich nicht.“ Ich ermuntere sie, in ihr Spiel Pausen einzubauen, was sie tut. „Pausen schlaffen mich ab, dann komme ich nicht zurück in den Glauben. Wenn ich Zeit habe und es ruhig ist, dann habe ich Zweifel. Und jetzt will ich endlich glauben!“ Raffaela,13 Jahre aus Barnowski-Geiser 2009: Hören, was niemand sieht)

Der Weg in das Vertrauen gelingt nach meinen Erfahrungen weder über blindes Vertrauen noch über ungeprüftes Zustimmen zu teils verdrehter Welt, sondern er führt über das Ernstnehmen, der radikalen Akzeptanz des eigenen Misstrauens, durch vorsichtiges Überprüfen: Misstrauen ist ein notwendiger Prozess. Dieser Prozess braucht Zeit und Selbst-Vertrauen, Hinwendung zum Ich. Das musste Raffaela mühsam lernen – ihre Mutter hatte immer wieder schlimme Rückfälle- irgendwann konnte Raffaela das Kreisen um die Sucht der Mutter aufgeben, ihre Hoffnungen relativieren- und ihre Mutter und ihre eigene Situation realistischer einschätzen. Nur da, wo Misstrauen und Zweifeln, Hinterfragen und in Frage stellen erlaubt ist, da, wo Zeit und Muße für Abwägen ist, kann nach meinen Erfahrungen wirkliches Vertrauen, das im eigenen Grund fußt, entstehen. In der Politik und in der Familie, insbesondere in so schweren Krisenzeiten wie der augenblichen.

Und..über den Weg nach Innen zur inneren Weisheit. Vielleicht auch heute mit einer kleinen Einheit, unserer Corona-Krisen-KreativChallenge, für Sie

Corona-Krisen-KreativChallenge Klingender Kraftort

Suchen Sie einen Ort, an dem Sie ungestört sind. Gehen Sie mit Ihrer Achtsamkeit zu Ihrem Atem…lassen Sie sich Zeit, in sich anzukommen…wenn Sie mögen, stellen Sie sich nun vor, dass Sie mit jedem Ihrer Ausatemzüge ein Stück näher zu Ihrem Inneren reisen, zu Ihrem inneren Kraftort…wie sieht es hier aus, welche Farben und Formen gibt es hier, welche Klänge?…Gestalten Sie diesen, suchen sie anschließend ein für Sie passendes Musikstück… spielen Sie es mehrmals, hören Sie es „mit dem ganzen Körper“

Neue Resonanzerfahrungen können bei alten Wunden verdammt Gutes bewirken – und da ist Musik ein echter Schatz…aber dazu vielleicht in den nächsten Tagen mehr. Wozu würden Sie gern etwas mehr erfahren, was können Sie noch gebrauchen, gerade in dieser Zeit? Lassen Sie es mich wissen, gern auch wieder über die Kommentarfunktion oder das Kontaktformular.

Lassen Sie es sich so gut wie eben möglich gehen -,

herzliche Grüße

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Heilung braucht Hoffnung

Featured image

„Glaube kann Berge versetzen!“ Diese Volksweisheit ist  für Menschen, die eine tiefgreifende Kindheitsbelastung erfahren haben, von besonderer Bedeutung. Viele erwachsene Kinder aus belasteten Familien haben früh Verletzungen  ihres Glauben und Hoffens erfahren. Als Erwachsene möchten sie die Folgen dieser Kindheitsbelastung verständlicherweise endlich hinter sich lassen. Wie dies auf gute Weise gelingen kann, darüber herrscht oft Ratlosigkeit, selbst bei Ärzten und Therapeuten. Schauen wir an, was Menschen als heilend auf ihrem persönlichen Weg beschreiben, so fällt auf: Wege zur Heilung sind vielfältig und individuell. Es gibt nicht  „das“ Rezept. Ob in Forschungen oder in therapeutischer Arbeit, immer jedoch zeigte sich eine Fähigkeit als zentral auf dem Weg zur Heilung: die Fähigkeit, zu hoffen. Das klingt schlicht und einfach… und ist doch für Menschen mit schweren Kindheitsbelastungen eine der schwierigsten Herausforderungen. ….mehr lesen

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Dr. Waltraut Barnowski-Geiser ist Therapeutin und Autorin.

Ihre Bücher zum Thema: Vater, Mutter, Sucht (2015) und Hören, was niemand sieht ( 2009).

Arbeit und Unterstützung nach dem AWOKADO-Hilfe-Konzept (auch in individuell zugeschnittenen Kompaktblöcken) in ihrer Praxis KlangRaum in Erkelenz