Viele Erwachsene aus suchtbelasteten Familien wissen nicht, ob sie wirklich als betroffen gelten. Sie fragen sich oftmals quälend: „Bin ich ein Suchtkind?“ Denn Vater, Mutter, Kind: dieses alte Kinderspiel erfährt in Familien mit Suchtkranken eine tragische Abwandlung. Wenn Eltern suchtkrank sind, nehmen ihre Kinder einen anderen Platz ein, als es bei Kindern mit gesunden Eltern der Fall ist. Bei einem Menschen, der an einer Sucht leidet, kommt diese immer an erster Stelle. Die Sucht nimmt den Platz ein, der eigentlich den Kindern zusteht. Das Handeln des Süchtigen ist nicht auf seine Kinder, sondern auf sich und das Suchtmittel konzentriert, letzteres ist bei Suchtkranken der Dreh- und Angelpunkt. Wie und wann ist das Suchtmittel zu bekommen? Wie ist es zu vermeiden. Das sind die Fragen, die den Alltag bestimmen. Die Gedanken eines alkoholkranken Elternteils kreisen letztlich nur darum, wie er an Alkohol kommen kann, der Tablettensüchtige denkt ständig an seine Tabletten, der Drogensüchtige an seinen Stoff, der Workaholic an seine Arbeit usw. Dies bleibt nicht ohne Folgen für das System, für die Umgebung, in der Suchtkranke leben, hier vor allem für die Familien.
Alle in der Familie sind von der Sucht betroffen
Der Gebrauch des Suchtmittels greift in das Familienleben ein, bestimmt, wie die Mitglieder zusammen leben können oder eben auch nicht mehr.
So bekommen Kinder aus Suchtfamilien ungewollt einen Platz zugewiesen, der ihnen wenig gerecht wird. Die mit der elterlichen Sucht einhergehende Belastung wird nie mehr von ihnen weichen, denn wie eine Betroffene es ausdrückte: »Suchtkind bleibt man ein Leben lang!« Selbst wenn sie das Elternhaus schon lange verlassen haben oder der süchtige Elternteil verstorben ist: Sucht gleicht einem Zombie, der die Seelen der Kinder zu zerfressen droht – und das unbemerkt. Die Menschen aus dem Umfeld werden leicht zu Statisten, zu hilflosen Zuschauern, die unbeteiligt wegsehen, weil das Leid und die Ohnmacht zu unfassbar erscheinen, nicht begreifbar, nicht veränderbar. So sehen Erzieher/innen, Lehrer/innen und Nachbarn in der Regel untätig zu, während sich hinter den verschlossenen Türen der Suchtfamilie womöglich tagtäglich Dramatisches abspielt. Die Kinder dürfen nicht über ihr Leid sprechen, die Eltern schweigen aus Scham. Wenn sie doch mit ihrer Sucht an die Öffentlichkeit gehen, finden sie vielleicht einen Platz, an dem ihnen geholfen wird, ihre Kinder dagegen bleiben meistens selbst dann noch auf tragische Weise im Abseits.
Kommt die Sucht, wie so oft, nicht laut, sondern mehr schleichend, leise daher, wird es noch schwieriger, sie zu erkennen. Die Belastung für die Betroffenen nimmt immens zu, denn sie fragen sich, ob es diese Sucht überhaupt gibt oder gab, ob sie sich diese nur einbilden. »Ist das nicht normal, was meine Eltern da gemacht haben!«, lautet dann die Frage der Verunsicherten, oder: »Ist es nicht normal, dass Mama täglich Tabletten nimmt, die sie doch braucht!«, »Ist es nicht normal, ein paar Bier zu trinken?«, »Ist es nicht normal, auf sein Gewicht zu achten?« Oft noch als Erwachsene sind die Kinder suchtkranker Eltern tief verunsichert.
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Übung 4: Bin ich ein „Suchtkind“?
Vielleicht fragen Sie sich, ob sie selbst zum Kreis der betroffenen Erwachsenen gehören, die hier (auch im Buchtitel) angesprochen werden. Das wäre sehr typisch für die Art und Weise, wie erwachsene Kinder aus Suchtfamilien mit ihrer Kindheitsbelastung umgehen. »Suchtkinder«, wie ich erwachsene Kinder suchtkranker Eltern hier im Folgenden nennen möchte, nehmen oft grundsätzlich an, dass dieses Thema aus Kindertagen erledigt sei, und zum anderen, dass sie keine Probleme haben, oder wenn doch, dass diese Probleme (Symptome etwa körperlicher Art) nichts mit der früheren Situation in der Herkunftsfamilie zu tun haben. Dies kann ein tragischer Fehlschluss sein, mit weitreichenden Folgen für Ihre Lebensqualität…
Was Suchtkinder erzählen
Zitate aus Befragungen (2008/2009; 2015) im Folgenden unkommentiert: Vielleicht finden Sie sich oder jemanden, der Ihnen wichtig ist, in diesen Aussagen wieder?
Die nachfolgenden Zitate stammen von Erwachsenen, die über mehrere Jahre mit suchtkranken Eltern gelebt haben:
„Es (das Suchtverhalten/ Anm. d.Verf.) war in unserer Familie zu einem stummen Thema geworden!“/Frau L.
„Es ging fortwährend darum, dass wir nach Außen eine perfekte Fassade lieferten – wie es mir ging, spielte keine Rolle!“/Frau I.
„… denn offensichtlich ist dieser familiäre Wahnsinn das Leben!“/Frau H.
„Wenn meine Mutter schreckliche Dinge im Suff getan hatte, taten alle so, als wäre nichts passiert!“/Frau Z.
„… ich bettle schon ein Leben lang um Liebe.“/Frau I.
„Entsetzt bemerkte ich, dass es dieses „Ich“ nicht mehr gab!“ /Frau I.
„… ich verschwinde, während ich sein Verschwinden zu verhindern suche.“/Frau E.
„Wir sind du und du bist wir!“/Frau E. zur Einstellung ihrer Mutter
„Ich habe lieber, wenn etwas Schreckliches passiert! – Wenn es mal gut ist, warte ich nur auf das Schreckliche- das WARTEN ist noch furchtbarer“/Frau I.
„Vielleicht hätte ich ihn mehr lieben müssen! Dann hätte mein Vater vielleicht nicht getrunken“ (Frau S.)
„Ich tanze auf einer Hochspannungsleitung im kühlen Korsett!“/Frau P.
„Und ich war ihrer Ansicht nach schuld, dass sie immer mehr trank…“/Herr I.
„Drogen waren für meine Eltern „Lifestyle“- sprach ich von Belastung wurde ich ausgelacht und als spießig dargestellt.“/Herr H.
„Bei uns zu Hause gab es gar keine Grenzen.“/Frau O.
„Ich habe oft schon Angst gehabt, bevor meine Mutter nach Hause gekommen ist/Felix
„…alle Männer in unserer Familie waren depressiv…und süchtig.“ (Frau G)
„Ich kann ihm wirklich nicht die Mutter ersetzen!“ (Frau R.)
„Wir waren voll mit Gefühlen, die aus der Suchterkrankung resultierten und doch durften wir nie über unsere Gefühle reden. Gefühle waren das absolute Tabu!“/Herr I.
Wenn einige dieser Aussagen auch von Ihnen stammen könnten und sie sich zugleich schon lange fragen, ob das Verhalten ihrer Eltern mit dem Etikett „süchtig“ zu bezeichnen ist/war, dann könnten das Hinweise auf eine (möglicherweise auch verdeckte) elterliche Suchterkrankung oder andere familiäre Belastungen in der Kindheit sein. Vielfach ist die elterliche Suchterkrankung, wie Suchtkinder oftmals fälschlich annehmen, nicht nur an der konsumierten Menge fest zu machen (und auf die Kontrolle und Beweisführung wird oft viel Energie bei Angehörigen verwendet): Bedeutsamer und wirksamer für den eigenen Weg der Suchtkinder ist das Aufspüren krankmachender Familiendynamiken sowie der spezifischen Familienatmosphäre. Denn diese Dynamik und Atmosphäre kann massive Auswirkungen auf das Erleben der Suchtkinder haben, sogar wenn sie viele Jahrzehnte zurückliegt. Wenn Sie sich oftmals, (scheinbar grundlos) leer, schuldig und „unnütz“, nicht „richtig“, nicht zugehörig oder wertlos fühlen (obwohl sie z.B. „objektiv“ viel leisten), dann kann die Wurzel dieser Gefühle in elterlicher Suchterkrankung begründet sein.Dann kann es für Sie wichtig sein, sich mit Familienatmosphären näher zu beschäftigen. Häufig stellen Suchtkinder in dieser Beschäftigung fest, dass diese negativen Stimmungen und Gefühle eigentlich gar nicht zu ihnen gehören, sondern zu ihren belasteten Eltern. Diese haben sie über Jahre während ihrer Erkrankung, meist unbewusst, an sie weitergegeben oder abgegeben (delegiert).
Zusatzanregung: Suchen Sie ein Musikstück, das erzählt, wie Sie sich eine gute Familienatmosphäre vorstellen…Lassen Sie sich Zeit: Hören Sie in den nächsten Tagen Stücke im Radio oder zu Hause bewusster aus dieser Perspektive.
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Zu Beginn meiner Tätigkeit habe ich, wie viele professionell Tätige in diesem Bereich, mit erwachsenen Kindern aus Suchtfamilien gearbeitet, ohne wirklich das Ausmaß ihrer Belastung zu kennen. In meiner Praxis, in der Schule, in Ausbildungszusammenhängen gehörte dieses Thema zu meinem Aufgabenfeld, doch ich bemerkte zunächst nicht, wie weitreichend die Folgen der elterlichen Suchtbelastung wirklich waren – ich wusste ebenso wenig darum wie die Betroffenen selbst. Erwachsene Kinder aus Suchtfamilien ahnen oftmals nichts von ihrer Belastung und deren Ausmaß, sie sprechen nicht über ihre Herkunftsfamilie, scheint das alles doch viel zu lange her zu sein. Viele wissen nicht mehr, dass ihnen etwas angetan wurde – aufgrund diffuser körperlicher und seelischer Beschwerden merken sie nur, dass irgendetwas nicht mit ihnen stimmt. Da ihnen das Ausmaß selbst nicht bewusst ist, sie zudem gelernt haben, zu tabuisieren und zu verdrängen, sprechen sie nicht über das in der Kindheit Erlittene. Betroffene lebten und leben mit Eltern, die ihre Sucht verleugnen, und so verleugnen sie selbst, was ihnen angetan wurde.
Es soll nicht etwa »Grässliches«, Schlimmes und Traumatisches, das in Suchtfamilien passiert ist, gewaltsam an die Oberfläche gezerrt oder als Sensation zur Schau gestellt werden, vielmehr wird versucht, mit Hilfe eines gemeinsamen Blicks auf die kindliche Vergangenheit, eine neue Basis für ein zufriedeneres Leben mit sich und anderen zu schaffen.
Frau L. 44 Jahre: „Ich habe eigentlich neu laufen gelernt!“
„Ich fühlte mich vor der Therapie wie in einem Hamsterrad gefangen. Alles war schwarz und grau. Ich sah und spürte nichts mehr, ich wusste weder, wo ich hinwollte, noch warum sich alles so furchtbar anfühlte – ich gab mir daran die Schuld. Jetzt fühle ich mich gut, was mir auch sehr fremd ist, da es das in meinem Leben so wenig gab. Da brauche ich immer wieder Mut, dem Neuen zu vertrauen. Ich glaube, mir hat geholfen, dass ich in der Therapie Schritt für Schritt Begleitung hatte. Ich musste bei jedem noch so kleinen Schritt Hilfe haben, ob er gerade wieder wirklich für mich stimmig ist, ob es richtig ist für mich – oder ob ich nur reagiere auf das, was andere erwarten.
Das war mühsam, aber ich empfinde nun oftmals Frieden und Freude. Ich musste von Stunde zu Stunde Wegweiser haben, um jeweils zu wissen, wie es genau weitergeht. Ich habe eigentlich neu laufen gelernt. Es haben sich neue Ziele und Blickwinkel in dieser Zeit entwickelt. Ich habe meine Belastungen erkannt und abgeworfen.„
Nach meinen Erfahrungen können erwachsene Kinder, auch wenn die Erfahrungen mit süchtigen Eltern schon Jahrzehnte zurückliegen, nur dann wirkliches Verständnis für sich selbst, ihr Verhalten, ihre Gefühle und ihre Nöte entwickeln, wenn sie einen Blick auf das, was ihnen angetan wurde, wagen. Oftmals sind sie erst dann in der Lage, ihre Stärken zu würdigen und Rollenmodelle des eigenen Lebens zu verstehen – im Buch Vater, Mutter, Sucht ermöglicht ein Selbsttest darüber näheren Aufschluss. Mittels meiner Forschungen und Praxiserfahrungen habe ich das AWOKADO-Programm zusammengestellt, das Suchtkinder auf dem Weg in ein glücklicheres Leben unterstützen kann; auch professionell Tätige können es bei der Arbeit mit Suchtkindern einsetzen. Wer verdrängt, steckt fest! Wer hinschaut und aktiv wird, kann wachsen – …
Text in Anlehnung an eine Leseprobe zu Vater, Mutter, Sucht beim Klett-Cotta-Verlag.
Berechtigte Hoffnung oder Irrglaube: Ist es wirklich nie zu spät für eine glueckliche Kindheit?
In dieser Woche möchte ich mit Ihnen einer wichtigen Fragestellung folgen: Kann man eine glückliche Kindheit als Erwachsener nachholen? Diese Versprechung soll zumindest den Versprechungen einiger Autoren und Seminarleitern zufolge, zu jeder Zeit einzulösen sein. Ben Furmann benannte sein Buch nach dieser Aussage…und wollte wohl vor allem Hoffnung machen. Jedoch: Wenn es möglich wäre, glückliche Kindheit nachzuholen, dann beinhaltete das doch unendliche Möglichkeiten…Vergangenes Leid wäre demnach in der Gegenwart zu verwandeln, Glück wäre machbar. Ist es wirklich nie zu spät für eine glückliche Kindheit? Machen Sie etwas falsch, wenn Sie sich aktuell nicht gut fühlen? Die Beantwortung unserer Ausgangsfrage scheint nicht leicht.
Perspektivwechsel
Ist jeder einfach seines Glückes Schmied? Betroffene mit Kindheitsbelastungen ( im Folgenden kurz Bel-Kids genannt) gewinnen den Eindruck, einfach falsch zu denken, unfähig zu sein…oder zu sensibel…einfach „zu“: die Kette der Selbstbeschuldigungen kann unendlich fortgesetzt werden… und mündet dann oft in der Frage: Mache ich etwas falsch in meinem Leben? Oftmals stellt sich in therapeutischer Arbeit heraus, dass Eltern oder andere Menschen viel falsch gemacht haben, ihrer Sucht gefolgt sind etwa: und nicht der Belastete selbst. Um dies herauszufinden, benötigen Menschen oft Krisen: alles bricht zusammen, die alte Weise zu denken, das Wertsesystem, womöglich wichtrige Beziehungen…und nun wird die Krise zum Wendepunkt. Und damit oft zur Chance..
Auf das Maß kommt es an…
Ob „Einfach glücklich sein“ durch einen Entschluss möglich ist, ist zumindest auch maßgeblich vom Schweregrad der kindlichen Belastung abhängig. Je früher die Kindheitsbelastung einsetzte und dort womöglich frühe Traumata (tiefgreifende seelische Verletzungen) hinterließ, umso weniger können sich Menschen ausschließlich durch eine bloße Einstellungsänderung in glücklichere Menschen verwandeln. Dies zu behaupten (und das ist in bestimmten Szenen durchaus verbreitet), stellt eine große Ignoranz traumatisierten Menschen gegenüber dar. Wenn die Belastung keine tiefgreifenden seelischen Spuren hinterlassen hat, ist die Palettte des Einflußnahme größer: dann ist über den Einsatz des Willens und sogenannte kognitive Umstrukturierung (vereinfacht gesagt ein Wandeln der Denkmuster) oft ein zufriedenes und glücklicheres Leben möglich. Bei Menschen mit schweren Kindheitstraumatisierungen ist eine längerfristige Therapie meist unumgänglich: und auch diese ist längst kein Garant für ein glückliches Leben. Auch Therapieprozesse sind dann von Höhen und Tiefen gezeichnet- aber die Gesamtbilanz fällt für Betroffene in der Regel glücklicher aus.
Was bedeutet Glück?
Nehmen Sie ein paar Atemzüge Zeit… was bedeutet für Sie Glück?…Wann haben Sie sich glücklich gefühlt zuletzt?…und als Kind?…Ist Glück für Sie erstrebenswert?
Was Glück bedeutet, ist für jeden etwas anderes. In der Glücksforschung hat man herausgefunden, dass materielles Glück sich schnell verflüchtigt: wer also etwa einen großen Geldbetrag gewinnt, der kann kurzfristig mehr Glück erleben- nach kurzer Zeit pendelt sich der Gewinner jedoch auf Normalniveau ein.
Schauen wir aus philiosophischer Perspektive, so wird Glück sowohl als etwas Individuelles und als etwas Flüchtiges beschrieben. Um nach dem Glück zu suchen, muss man demnach zunächst benennen können, was glücklich macht. Als Glücksuchende brauche ich also eine Vorstellung davon, was denn Glück für mich genau ist. Um diese Vorstellung überhaupt entwickeln zu können, muss jemand glückliche Zustände erlebt haben und sie auch erinnern – das setzt voraus, Glücksmomente auch als eben solche wahrgenommen zu haben. Manchmal wissen Menschen mit Kindheistbelastungen schlicht nicht, wie sich Glück anfühlt – sie haben es wenig erlebt.Damit fehlt ihnen eine wichtige Voraussetzung, glücklich zu werden: sie müssen also im Jetzt achtsam sein, was Sie angenehm, schön, bereichernd empfinden. Oft ist die kurzfristige Beglückung wenig hilfreich: ist etwas zugleich in Übereinstimmung mit dem eigenen Lebenssinn, mit dem eigenen Wesen, wird es dann besonders „glücklich“ erlebt.
Im Buddhismus geht man davon aus, dass man erst Freude und Glück empfinden sollte, bevor man sich dem Leiden zuwendet. Wenn jemand krank ist, muss erst gestärkt werden, bevor er Schweres erfährt (etwa das Ausmaß seiner Erkrankung). Die alltägliche Praxis der Meditation soll den Menschen darin unterstützen. Buddha leitete an, wie man zu Freude und Glück kommt durch die Praxis der Meditation. Es muss erst Stärke gefunden werden, imdem man sich um Freude und Glück kümmert. Wenn man zu schwach ist, kann das Ansehen des Leides zu früh sein. Wie bei einer OP: auch hier muss das Kräftig Werden im Blick sein bevor operiert wird. Wenn man noch schwach ist, so nimmt man an, sei das Ansehen der Sorgen zu schwierig.
„Ich achte auf mich“ statt „Ich bin für dein Glück verantwortlich“ – Loslassen, Betrauern und Selbstachtsamkeit als heilsamer Weg
Gefühle von Freude und Glück aufzubringen ist für manche alltägliche Praxis. Wie geht das? Folgt man buddhistischen Lehrern (Thich Nhat Hanh, Buddha) und christlichen Kontemplationspraktitken hat dies viel mit Loslassen zu tun. Der Buddha sagt, dass Glück hänge eng zusammen mit der Fähigkeit, loszulassen und nicht anzuhaften. Wenn man an Beziehungen und Ideen festhalte, bereite das Schmerzen. Etwas sehr Bekanntes für Menschen mit KIndheitsbelastungen: oft kreisen sie lebenslang um ihre Eltern, in der Hoffnung, dass diese doch endlich glücklich werden sollen. Von vielem denken wir demzufolge, dass wir es nicht loslassen können, weil wir glauben, das wäre unabkömmlich für unser Glück. Oft ist gerade diese Idee loszulassen. Für Bel-Kids bedeutet dies oftmals die Aufgabe der Idee: wenn ich meine Eltern glücklich gemacht habe, werden sie mich lieben: dann werde ich selbst glücklich sein. Je mehr sie diese Vorstellung loslassen statt sie festzuhalten, um so besser scheint dann ihr eigenes Leben. Sie haben dann die Vorstellung losgelassen, das sie die Verantwortung für das Lebensglück ihrer Eltern tragen. Sie bemerken erst als Erwachsene, dass sie ein Recht auf ein gutes Leben haben; auch wenn es jemand anderem ( etwa dem erkrankten Elternteil) noch schlecht geht. Dann können eigene Bedürfnisse endlich Raum bekommen, auch kindliche Wünsche können durch den Erwachsenen, der sie im Jetzt sind, erfüllt werden. Oftmals setzt das glücklich Sein eine Zeit des Betrauerns voraus: was war nicht möglich früher, was ist nicht nachholbar?… erst dann können Betroffene achtsam für sich selbst sorgen und sich auf einen glücklicheren Weg mit ihren verletzten kindlichen Anteilen begeben : um unsere Frage aufzugreifen. Es ist oftmals nicht zu spät für eine gute Kindheit: je schwerer die KIndheitsrefahrungen waren, umso weniger einfach ist das Nachholen.
Ich wünsche Ihnen eine erfüllte Woche mit glücklichen Momenten
Ihre
Waltraut Barnowski-Geiser
Besser leben? Wie ein Atemzug, der Mount Everest und ein ungewöhnliches Früchtchen Sie dabei unterstuetzen kann
Von Waltraut Barnowski-Geiser
Jetzt besser leben – das wollen die meisten Menschen! Vor allem natürlich wünschen das all jene, die in ihrer Kindheit Schweres erlebt haben. Oftmals haben aber gerade diese Menschen ihre Hoffnung auf ein besseres Leben aufgegeben. Soviel Enttäuschung, so viele leere Versprechungen haben sie bereits erlebt! Jetzt besser leben: „Wie könnte das gehen?“ fragen sie sich, und vor allem: „Wie sieht mein Weg zu einem besseren Leben aus?“ Denn: jede und jeder hat eine andere Vorstellung davon, was ein Leben zu einem besseren macht
…Vielleicht wollen Sie auf kreativem Weg etwas über Ihre persönliche Vorstellung erfahren.Dann könnte die folgende Übung hilfreich sein. Wenn Sie gerade Zeit nehmen wollen, dann starten Sie jetzt in die Übung. Sie können diese auch jetzt überspringen und später nach dem Lesen machen!
Übung MEINE Besser-Leben-Landschaft
Nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit: schließen Sie, wenn Sie mögen, die Augen…nehmen Sie Ihren Atem wahr…wenigstens drei Atemzüge wahrnehmen: wie Sie ein und wieder ausatmen…
Nun lassen Sie vor Ihrem inneren Auge langsam eine Landschaft entstehen, in der Sie sich gut und glücklich fühlen. Wie duftet es hier, wie schmeckt es, welche Farben sehen Sie. Wie klingt es, welche Geräusche hören Sie? Lassen Sie sich ein wenig Zeit…vielleicht wollen Sie diese Landschaft später malen.
Kommentar zur Übung: Bilder können helfen, etwas zur Sprache zu bringen, für das wir noch keine Worte haben. Indem wir unsere Sinne aktivieren, aktivieren wir auch Potenziale, Sehnsüchte und Wünsche,die vielleicht längst vergessen schienen.
Flucht aus dem Jetzt
Viele Menschen mit Kindheitsbelastungen pendeln sich mehr schlecht als recht auf einem sie wenig befriedigenden Level ein: zwischen Vergessen und Verdrängen, zwischen Trauer und Zorn. Sie beschreiben, nichts mehr zu fühlen, oftmals allenfalls Leere. Das Fühlen des Unangenehmen wurde unbewusst aufgehoben, unglücklicher Weise aber auch das Fühlen von Schönem. Andere leben ständig im Gestern, wälzen schlimme Ereignisse von damals. Sie werden bis zum heutigen Tag von der Vorstellung gequält, an den Ereignissen der Kindheit Schuld zu tragen:
Ein trinkender Vater? Das erwachsene Suchtkind denkt, es hätte damals ein besseres Kind sein müssen, dann wäre der Vater nicht unglücklich gewesen und hätte folglich auch nicht trinken müssen.
Die Mutter, die in Depressionen aus dem Leben schied? Bestimmt hätte der Sohn vielmehr für sie Dasein müssen, ihr mehr Freude bereiten sollen, mehr und Besseres leisten sollen.
In diesen und anderen Gedankenketten sitzen Menschen fest.
Andere nehmen die Flucht nach vorn: sie leben in der Zukunft. Sie träumen, nicht nur ein bisschen und manchmal, sondern eigentlich immer und überall. Träumen hat sie als Kind gerettet, um dem Schlimmen zu entfliehen. Diesem Mechanismus können sie nun bis heute schwer entfliehen (manche haben bereits die Diagnose ADS/Aufmerksamkeitsdefizitstörung ohne Hyperaktivität erhalten): So träumen sie auch heute… von einem Traumprinzen, der so ganz anders ist als der enttäuschende Mann jetzt an ihrer Seite, anders als der Vater früher. Sie träumen von einer Zeit, in der sie endlich glücklich sind, weil sie zum Beispiel materiell unabhängig sein werden. Morgen, irgendwann in ferner Zukunft. wird alles besser sein. Und so warten sie und warten und warten, während das Leben an ihnen ungelebt vorbeizieht.
Mit einem Atenzug ins Jetzt
Bei all diesen Arten der Lebensbewältigung verpassen die Menschen etwas sehr Wesentliches: nämlich das Jetzt. Auch Glück findet immer gerade jetzt statt. Wenn keine Achtsamkeit für das Jetzt vorhanden ist, dann gehen kostbare Momente einfach verloren, dann rauscht das Glück vorbei, da es nicht einmal wahrgenommen wird.
Das Zurückerobern des Lebensglückes bedeutet, sich in das Jetzt zurückzutrauen.
Ein wichtiger Helfer in das Jetzt ist unser Atem: wahrnehmen, ohne jede Absicht und ohne jede Bewertung, wie der Atem einfließt und wie er wieder den Körper verlässt: Das ist die Brücke in die Gegenwart. Das klingt so einfach: und ist doch gerade für Menschen aus schwierigen Elternhäusern so schwer. Da damals das Jetzt so unangenehm war, haben sie, um ihre Seele zu retten, begonnen aus dem Jetzt zu fliehen. Und damals viel Lebensqualität verloren. Diese gilt es heute wieder zurückzugewinnen: und diesen Schritt können nur Sie selbst für sich tun. Vielleicht sagen Sie jetzt: „Ich habe viel zu tun, wann das noch?“ oder „Das fühlt sich so unangenehm an, wenn alles ruhig ist und ich mich spüre!“
Meditation ohne Geheimnnis
Es gibt viele Wege zur Achtsamkeit und Meditation. Als eine weise Lehrerin giltie buddhistische Nonne Ayya Khema (leider ist sie inzwischen längst verstorben, aber ihre Ausführungen sind auf youtube abrufbar) Ayya Khema vermittelt Meditation ohne Geheimnis, aus der ich hier nur sehr vereinfachend Wichtiges zusammengefasst und sehr gekürzt darstelle. Eine Einsicht lautet, dass alle Empfindungen vergehen, wenn man sie einfach nur beobachtet: so wie alles vergeht! Auch Gedanken lassen sich demnach beobachten, sie werden in dieser Praxis etikettiert – die vorbeiziehenden Gedanken erhalten gleichsam einen Karton, in den man sie steckt. So merkt der Meditierende, welche Kartons er meistens benutzt, sprich, womit er sich meist beschäftigt und lernst sich dabei selbst bestens (er)-kennen. Erwachsene Kinder aus Suchtfamilien beschreiben, mit ihren Gedanken ständig um einen ihnen wichtigen Menschen zu kreisen. Ihr Wohl hängt dann, so erleben sie es, von diesem einen Menschen ab – Abhängigkeit entsteht. Im Sinne der Lehre des Buddhas lässt sich hier als Methode anwenden: Etikettieren und Ersetzen. Eine spannende Idee! Probieren sie es aus: Wenn Sie an einen bestimmten Menschen denken, förmlich um ihn kreisen, sagen Sie innerlich „Stop!“ Ersetzen Sie diese Gedanken an den anderen, indem Sie zu sich selbst zurückkehren: Achten Sie auf Ihren Atem, nehmen Sie wahr, was Sie gerade spüren. Und in einem weiteren Schritt erspüren Sie, was sie selbst jetzt gerade brauchen.
Es gibt viele unterschiedliche Verfahren und Wege, um Achtsamkeit zu erlernen. Neben alten Lehren wie dem Buddhismus (hier auch Thich Nhat Hanh), unterschiedlichen Formen im Yoga usw. gibt es diese Ansätze auch in modernen Therapieverfahren, wie etwa dem MBSR nach Kabat-Zinn, der Hypnotherapie nach Milton Ericson oder auch im Integrativen und Hypnosystemischen Therapieverfahren. Suchen Sie im Vertrauen auf sich selbst den für Sie passenden Weg. Es gibt viele Cds und Bücher. zu diesem Feld, die Ihnen Hilfe anbieten können.
AWAOKADO…was für ein Früchtchen!
In meinen Befragungen von Erwachsenen und Kindern aus Suchtfamilien (Barnowski-Geiser 2009) beschrieben Menschen neben der Achtsamkeit sechs weitere Faktoren, die Ihnen auf dem Weg zu einem besseren Leben geholfen haben:
A chtsamkeit
W ürdigung der Kindheitsbelastungen, aber auch der eigenen Stärken
O rientierung finden, einen eigenen Standpunkt
K reativität und Ausdruck
A nklang und Beziehung
D eckung und De-Parenting ( Sicherer Raum und Kind sein dürfen)
O ffenheit und Öffnung
Sie haben es wahrscheinlich schon gesehen: die Anfangsbuchstaben ergeben in der Vertikalen das Wort AWOKADO und erinnern somit an eine kleine sehr heilsame Frucht. Ihre große Wirkung entfaltet diese Frucht, so wird es von Betroffenen beschrieben, indem man sie dosiert einsetzt. Das gilt auch für Sie und den Beginn Ihrer Veränderung hin zu einem besseren Leben. Dosiert sollten Sie, vertrauen wir den Erfahrungen, beginnen: der erste Baustein ist Achtsamkeit (vgl. Das AWOKADO-Hilfe-Konzept in Barnowski-Geiser/2015:Vater,Mutter,Sucht. Wie erwachsene Kinder suchtkranker Kinder trotzdem ihr Glück finden). Achtsam ist gleichsam die Mutter der Heilung!
Jetzt starten…schließlich haben Sie schon den Mount Everst bestiegen!
Alle große Veränderung, auch in Ihrem Leben, beginnt mit einem kleinen Schritt. Diesen können Sie gerade heute tun. Atmen Sie sich für Augenblicke ins Jetzt und steigern Sie diese Zeit innerhalb der nächsten Tage, wenn wir uns hier wieder treffen. Ich bin sicher: Wenn Sie den Weg auf diese Seite gefunden haben, dann haben Sie in ihrer Kindheit viel zu früh Großes geleistet. Sie haben wahrscheinlich schon ganz früh, um einen Vergleich zu wählen, den Mount Everest bestiegen. Nur: Das hat Ihnen niemand gesagt, man hat Ihnen erst recht nicht gedankt, weil vielleicht die Probleme ihrer Eltern, um die sie sich viel zu früh kümmern mussten, angeblich gar nicht vorhanden waren. Tabuisieren war dann der Weg ihrer Eltern; Ihre Eltern haben es nicht anders geschafft. Es ist wichtig, aus dieser familiären Negativkette auszusteigen, damit Sie Neues an ihre Kinder und Partner weitergegeben können. Mit nur einem Atemzug kann Neues in ihr Leben und das Leben Ihrer Familie treten.
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Du bist, also bin ich: was Martin Buber, eine frühkindlich erlebte Trennung und Goldgräber verbindet
Martin Buber – ein Clubmitglied im Kreise der Kindheitsbelasteten? Diese Frage muss mit „Ja!“ beantwortet werden.
Buber galt als bedeutender Humanphilosoph: in das Zentrum seiner Überlegungen stellte er die zwischenmenschliche Begegnung. Begegnung sah er als grundlegend für menschliche Identität, das Leben selbst vor allem als Ansammlung von Begegnungen. Wenig bekannt ist, dass Buber auch zum Kreis der Kindheitsbelasteten zu zählen ist: Im Alter von 4 Jahren trennen sich Bubers Eltern, die Mutter geht, Buber leidet entsetzlich. Wiederholt beschreibt er, diesen Verlust nicht verwunden zu haben. Seine Aussage (in Fortführung des Philosophen Descartes) Du bist…also bin ich läßt sich auch im Umkehrschluss weiterdenken, dann kommt sie der Vernichtung nahe: wenn du nicht bist, kann ich nicht sein… Überall suche er nach diesem Du, nach der Mutter, so beschreibt er es. Man könnte erwarten, dass er an diesem Leiden zerbricht: er aber leidet und nutzt seine Kindheitswunde, um anderen Menschen zu helfen. Die tiefgreifende Kindheitsverletzung des Verlustes wird heute als Motor gesehen für seine teils als genial eingestuften Arbeiten zur Zwischenmenschlichkeit. Sich selbst in seinem Mutterverlust zu verstehen wurde seine Triebfeder und unermüdlicher Motor.. und dabei gelingt es ihm, ein großes Lebenswerk zu schaffen. Indem er seine Wunde zu verstehen sucht, findet er letzlich sein „Gold“: Beziehungswissen, dass er in einem großen Werk auf vielfältige Wege an andere Menschen weitergibt.
Nur eine gute Begegnung reiche, um vergangene Begegnungen zu kompensieren, schreibt Buber später ( und findet selbst ein „heilsames Du“ in der Beziehung zu seiner Partnerin). Die Wunden verwandeln, sie zum Wunder, zu Ihrem ganz persönlichen Gold werden zu lassen: wie genau haben Sie das bewerkstelligt? Dieser Blick ist vielleicht unvertraut, aber lohnenswert. Wagen Sie einen wohlwollenden, wertschätzenden Blick auf Ihre Biografie…werden Sie ihr eigener Goldgräber. Schreiben Sie doch eine kleine Erzählung dazu…ich werde gern lesen, wenn Sie sie mir schicken mögen.
Herzliche Grüße
Ihre
Waltraut Barnowski-Geiser
„Einfach“ glücklich sein oder: Ist es wirklich nie zu spät für eine schöne Kindheit?
In dieser Woche möchte ich mit Ihnen einer wichtigen Fragestellung folgen: Kann man eine glückliche Kindheit als Erwachsener nachholen? Diese Versprechung soll zumindest den vollmundigen Versprechungen einiger Autoren und Seminarleitern zufolge, zu jeder Zeit einzulösen sein. Wenn es möglich wäre, glückliche Kindheit nachzuholen, dann beinhaltete das doch unendliche Möglichkeiten: Vergangenes Leid wäre demnach in der Gegenwart zu verwandeln, Glück wäre machbar. Ist es wirklich nie zu spät für eine glückliche Kindheit? Machen Sie etwas falsch, wenn Sie sich aktuell nicht gut fühlen? Die Beantwortung unserer Ausgangsfrage scheint nicht leicht.
Perspektivwechsel
Ist jeder einfach seines Glückes Schmied? Betroffene mit Kindheitsbelastungen ( im Folgenden kurz Bel-Kids genannt) gewinnen den Eindruck, einfach falsch zu denken, unfähig zu sein…oder zu sensibel…einfach „zu“: die Kette der Selbstbeschuldigungen kann unendlich fortgesetzt werden… und mündet dann oft in der Frage: Mache ich etwas falsch in meinem Leben? Oftmals stellt sich in therapeutischer Arbeit heraus, dass Eltern oder andere Menschen viel falsch gemacht haben, ihrer Sucht gefolgt sind etwa: und nicht der Belastete selbst. Um dies herauszufinden, benötigen Menschen oft Krisen: alles bricht zusammen, die alte Weise zu denken, das Wertsesystem, womöglich wichtrige Beziehungen…und nun wird die Krise zum Wendepunkt. Und damit oft zur Chance..
Auf das Maß kommt es an…
Ob „Einfach glücklich sein“ durch einen Entschluss möglich ist, ist zumindest auch maßgeblich vom Schweregrad der kindlichen Belastung abhängig. Je früher die Kindheitsbelastung einsetzte und dort womöglich frühe Traumata (tiefgreifende seelische Verletzungen) hinterließ, umso weniger können sich Menschen ausschließlich durch eine bloße Einstellungsänderung in glücklichere Menschen verwandeln. Dies zu behaupten (und das ist in bestimmten Szenen durchaus verbreitet), stellt eine große Ignoranz traumatisierten Menschen gegenüber dar. Wenn die Belastung keine tiefgreifenden seelischen Spuren hinterlassen hat, ist die Palettte des Einflußnahme größer: dann ist über den Einsatz des Willens und sogenannte kognitive Umstrukturierung (vereinfacht gesagt ein Wandeln der Denkmuster) oft ein zufriedenes und glücklicheres Leben möglich. Bei Menschen mit schweren Kindheitstraumatisierungen ist eine längerfristige Therapie meist unumgänglich: und auch diese ist längst kein Garant für ein glückliches Leben. Auch Therapieprozesse sind dann von Höhen und Tiefen gezeichnet- aber die Gesamtbilanz fällt für Betroffene in der Regel glücklicher aus.
Was bedeutet Glück?
Nehmen Sie ein paar Atemzüge Zeit… was bedeutet für Sie Glück?…Wann haben Sie sich glücklich gefühlt zuletzt?…und als Kind?…Ist Glück für Sie erstrebenswert?
Was Glück bedeutet, ist für jeden etwas anderes. In der Glücksforschung hat man herausgefunden, dass materielles Glück sich schnell verflüchtigt: wer also etwa einen großen Geldbetrag gewinnt, der kann kurzfristig mehr Glück erleben- nach kurzer Zeit pendelt sich der Gewinner jedoch auf Normalniveau ein.
Schauen wir aus philiosophischer Perspektive, so wird Glück sowohl als etwas Individuelles und als etwas Flüchtiges beschrieben. Um nach dem Glück zu suchen, muss man demnach zunächst benennen können, was glücklich macht. Als Glücksuchende brauche ich also eine Vorstellung davon, was denn Glück für mich genau ist. Um diese Vorstellung überhaupt entwickeln zu können, muss jemand glückliche Zustände erlebt haben und sie auch erinnern – das setzt voraus, Glücksmomente auch als eben solche wahrgenommen zu haben. Manchmal wissen Menschen mit Kindheistbelastungen schlicht nicht, wie sich Glück anfühlt – sie haben es wenig erlebt.Damit fehlt ihnen eine wichtige Voraussetzung, glücklich zu werden: sie müssen also im Jetzt achtsam sein, was Sie angenehm, schön, bereichernd empfinden. Oft ist die kurzfristige Beglückung wenig hilfreich: ist etwas zugleich in Übereinstimmung mit dem eigenen Lebenssinn, mit dem eigenen Wesen, wird es dann besonders „glücklich“ erlebt.
Im Buddhismus geht man davon aus, dass man erst Freude und Glück empfinden sollte, bevor man sich dem Leiden zuwendet. Wenn jemand krank ist, muss erst gestärkt werden, bevor er Schweres erfährt (etwa das Ausmaß seiner Erkrankung). Die alltägliche Praxis der Meditation soll den Menschen darin unterstützen. Buddha leitete an, wie man zu Freude und Glück kommt durch die Praxis der Meditation. Es muss erst Stärke gefunden werden, imdem man sich um Freude und Glück kümmert. Wenn man zu schwach ist, kann das Ansehen des Leides zu früh sein. Wie bei einer OP: auch hier muss das Kräftig Werden im Blick sein bevor operiert wird. Wenn man noch schwach ist, so nimmt man an, sei das Ansehen der Sorgen zu schwierig.
„Ich achte auf mich“ statt „Ich bin für dein Glück verantwortlich“ – Loslassen, Betrauern und Selbstachtsamkeit als heilsamer Weg
Gefühle von Freude und Glück aufzubringen ist für manche alltägliche Praxis. Wie geht das? Folgt man buddhistischen Lehrern (Thich Nhat Hanh, Buddha) und christlichen Kontemplationspraktitken hat dies viel mit Loslassen zu tun. Der Buddha sagt, dass Glück hänge eng zusammen mit der Fähigkeit, loszulassen und nicht anzuhaften. Wenn man an Beziehungen und Ideen festhalte, bereite das Schmerzen. Etwas sehr Bekanntes für Menschen mit KIndheitsbelastungen: oft kreisen sie lebenslang um ihre Eltern, in der Hoffnung, dass diese doch endlich glücklich werden sollen. Von vielem denken wir demzufolge, dass wir es nicht loslassen können, weil wir glauben, das wäre unabkömmlich für unser Glück. Oft ist gerade diese Idee loszulassen. Für Bel-Kids bedeutet dies oftmals die Aufgabe der Idee: wenn ich meine Eltern glücklich gemacht habe, werden sie mich lieben: dann werde ich selbst glücklich sein. Je mehr sie diese Vorstellung loslassen statt sie festzuhalten, um so besser scheint dann ihr eigenes Leben. Sie haben dann die Vorstellung losgelassen, das sie die Verantwortung für das Lebensglück ihrer Eltern tragen. Sie bemerken erst als Erwachsene, dass sie ein Recht auf ein gutes Leben haben; auch wenn es jemand anderem ( etwa dem erkrankten Elternteil) noch schlecht geht. Dann können eigene Bedürfnisse endlich Raum bekommen, auch kindliche Wünsche können durch den Erwachsenen, der sie im Jetzt sind, erfüllt werden. Oftmals setzt das glücklich Sein eine Zeit des Betrauerns voraus: was war nicht möglich früher, was ist nicht nachholbar?… erst dann können Betroffene achtsam für sich selbst sorgen und sich auf einen glücklicheren Weg mit ihren verletzten kindlichen Anteilen begeben : um unsere Frage aufzugreifen. Es ist oftmals nicht zu spät für eine gute Kindheit: je schwerer die KIndheitsrefahrungen waren, umso weniger einfach ist das Nachholen.
Ich wünsche Ihnen eine erfüllte Woche mit glücklichen Momenten
Ihre
Waltraut Barnowski-Geiser
Vater, Mutter, Sucht – Wie erwachsene Kinder suchtkranker Eltern trotzdem ihr Glück finden.
Vater, Mutter, Kind: dieses alte Kinderspiel erfährt in Familien mit Suchtkranken eine tragische Abwandlung. Wenn Eltern suchtkrank sind, nehmen ihre Kinder einen anderen Platz ein, als es bei Kindern mit gesunden Eltern der Fall ist. Bei einem Menschen, der an einer Sucht leidet, kommt diese immer an erster Stelle. Die Sucht nimmt den Platz ein, der eigentlich den Kindern zusteht. Das Handeln des Süchtigen ist nicht auf seine Kinder, sondern auf sich und das Suchtmittel konzentriert, letzteres ist bei Suchtkranken der Dreh- und Angelpunkt. Wie und wann ist das Suchtmittel zu bekommen? Wie ist es zu vermeiden. Das sind die Fragen, die den Alltag bestimmen. Die Gedanken eines alkoholkranken Elternteils kreisen letztlich nur darum, wie er an Alkohol kommen kann, der Tablettensüchtige denkt ständig an seine Tabletten, der Drogensüchtige an seinen Stoff, der Workaholic an seine Arbeit usw. Dies bleibt nicht ohne Folgen für das System, für die Umgebung, in der Suchtkranke leben, hier vor allem für die Familien. Der Gebrauch des Suchtmittels greift in das Familienleben ein, bestimmt, wie die Mitglieder zusammen leben können oder eben auch nicht mehr.
So bekommen Kinder aus Suchtfamilien ungewollt einen Platz zugewiesen, der ihnen wenig gerecht wird. Die mit der elterlichen Sucht einhergehende Belastung wird nie mehr von ihnen weichen, denn wie eine Betroffene es ausdrückte: »Suchtkind bleibt man ein Leben lang!« Selbst wenn sie das Elternhaus schon lange verlassen haben oder der süchtige Elternteil verstorben ist: Sucht gleicht einem Zombie, der die Seelen der Kinder zu zerfressen droht – und das unbemerkt. Die Menschen aus dem Umfeld werden leicht zu Statisten, zu hilflosen Zuschauern, die unbeteiligt wegsehen, weil das Leid und die Ohnmacht zu unfassbar erscheinen, nicht begreifbar, nicht veränderbar. So sehen Erzieher/innen, Lehrer/innen und Nachbarn in der Regel untätig zu, während sich hinter den verschlossenen Türen der Suchtfamilie womöglich tagtäglich Dramatisches abspielt. Die Kinder dürfen nicht über ihr Leid sprechen, die Eltern schweigen aus Scham. Wenn sie doch mit ihrer Sucht an die Öffentlichkeit gehen, finden sie vielleicht einen Platz, an dem ihnen geholfen wird, ihre Kinder dagegen bleiben meistens selbst dann noch auf tragische Weise im Abseits.
Kommt die Sucht, wie so oft, nicht laut, sondern mehr schleichend, leise daher, wird es noch schwieriger, sie zu erkennen. Die Belastung für die Betroffenen nimmt immens zu, denn sie fragen sich, ob es diese Sucht überhaupt gibt oder gab, ob sie sich diese nur einbilden. »Ist das nicht normal, was meine Eltern da gemacht haben!«, lautet dann die Frage der Verunsicherten, oder: »Ist es nicht normal, dass Mama täglich Tabletten nimmt, die sie doch braucht!«, »Ist es nicht normal, ein paar Bier zu trinken?«, »Ist es nicht normal, auf sein Gewicht zu achten?« Oft noch als Erwachsene sind die Kinder suchtkranker Eltern tief verunsichert.
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Übung 4: Bin ich ein „Suchtkind“?
Vielleicht fragen Sie sich, ob sie selbst zum Kreis der betroffenen Erwachsenen gehören, die hier (auch im Buchtitel) angesprochen werden. Das wäre sehr typisch für die Art und Weise, wie erwachsene Kinder aus Suchtfamilien mit ihrer Kindheitsbelastung umgehen. »Suchtkinder«, wie ich erwachsene Kinder suchtkranker Eltern hier im Folgenden nennen möchte, nehmen oft grundsätzlich an, dass dieses Thema aus Kindertagen erledigt sei, und zum anderen, dass sie keine Probleme haben, oder wenn doch, dass diese Probleme (Symptome etwa körperlicher Art) nichts mit der früheren Situation in der Herkunftsfamilie zu tun haben. Dies kann ein tragischer Fehlschluss sein, mit weitreichenden Folgen für Ihre Lebensqualität…
Zitate aus Befragungen (2008/2009; 2015) im Folgenden unkommentiert: Vielleicht finden Sie sich oder jemanden, der Ihnen wichtig ist, in diesen Aussagen wieder?
Die nachfolgenden Zitate stammen von Erwachsenen, die über mehrere Jahre mit suchtkranken Eltern gelebt haben:
„Es (das Suchtverhalten/ Anm. d.Verf.) war in unserer Familie zu einem stummen Thema geworden!“/Frau L.
„Es ging fortwährend darum, dass wir nach Außen eine perfekte Fassade lieferten – wie es mir ging, spielte keine Rolle!“/Frau I.
„… denn offensichtlich ist dieser familiäre Wahnsinn das Leben!“/Frau H.
„Wenn meine Mutter schreckliche Dinge im Suff getan hatte, taten alle so, als wäre nichts passiert!“/Frau Z.
„… ich bettle schon ein Leben lang um Liebe.“/Frau I.
„Entsetzt bemerkte ich, dass es dieses „Ich“ nicht mehr gab!“ /Frau I.
„… ich verschwinde, während ich sein Verschwinden zu verhindern suche.“/Frau E.
„Wir sind du und du bist wir!“/Frau E. zur Einstellung ihrer Mutter
„Ich habe lieber, wenn etwas Schreckliches passiert! – Wenn es mal gut ist, warte ich nur auf das Schreckliche- das WARTEN ist noch furchtbarer“/Frau I.
„Vielleicht hätte ich ihn mehr lieben müssen! Dann hätte mein Vater vielleicht nicht getrunken“ (Frau S.)
„Ich tanze auf einer Hochspannungsleitung im kühlen Korsett!“/Frau P.
„Und ich war ihrer Ansicht nach schuld, dass sie immer mehr trank…“/Herr I.
„Drogen waren für meine Eltern „Lifestyle“- sprach ich von Belastung wurde ich ausgelacht und als spießig dargestellt.“/Herr H.
„Bei uns zu Hause gab es gar keine Grenzen.“/Frau O.
„Ich habe oft schon Angst gehabt, bevor meine Mutter nach Hause gekommen ist/Felix
„…alle Männer in unserer Familie waren depressiv…und süchtig.“ (Frau G)
„Ich kann ihm wirklich nicht die Mutter ersetzen!“ (Frau R.)
„Wir waren voll mit Gefühlen, die aus der Suchterkrankung resultierten und doch durften wir nie über unsere Gefühle reden. Gefühle waren das absolute Tabu!“/Herr I.
Wenn einige dieser Aussagen auch von Ihnen stammen könnten und sie sich zugleich schon lange fragen, ob das Verhalten ihrer Eltern mit dem Etikett „süchtig“ zu bezeichnen ist/war, dann könnten das Hinweise auf eine (möglicherweise auch verdeckte) elterliche Suchterkrankung oder andere familiäre Belastungen in der Kindheit sein. Vielfach ist die elterliche Suchterkrankung, wie Suchtkinder oftmals fälschlich annehmen, nicht nur an der konsumierten Menge fest zu machen (und auf die Kontrolle und Beweisführung wird oft viel Energie bei Angehörigen verwendet): Bedeutsamer und wirksamer für den eigenen Weg der Suchtkinder ist das Aufspüren krankmachender Familiendynamiken sowie der spezifischen Familienatmosphäre. Denn diese Dynamik und Atmosphäre kann massive Auswirkungen auf das Erleben der Suchtkinder haben, sogar wenn sie viele Jahrzehnte zurückliegt. Wenn Sie sich oftmals, (scheinbar grundlos) leer, schuldig und „unnütz“, nicht „richtig“, nicht zugehörig oder wertlos fühlen ( obwohl sie z.B. „objektiv“ viel leisten), dann kann die Wurzel dieser Gefühle in elterlicher Suchterkrankung begründet sein.Dann kann es für Sie wichtig sein, sich mit Familienatmosphären näher zu beschäftigen. Häufig stellen Suchtkinder in dieser Beschäftigung fest, dass diese negativen Stimmungen und Gefühle eigentlich gar nicht zu ihnen gehören, sondern zu ihren belasteten Eltern. Diese haben sie über Jahre während ihrer Erkrankung, meist unbewusst, an sie weitergegeben oder abgegeben (delegiert).
Zusatzanregung: Suchen Sie ein Musikstück, das erzählt, wie Sie sich eine gute Familienatmosphäre vorstellen…Lassen Sie sich Zeit: Hören Sie in den nächsten Tagen Stücke im Radio oder zu Hause bewusster aus dieser Perspektive.
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Zu Beginn meiner Tätigkeit habe ich, wie viele professionell Tätige in diesem Bereich, mit erwachsenen Kindern aus Suchtfamilien gearbeitet, ohne wirklich das Ausmaß ihrer Belastung zu kennen. In meiner Praxis, in der Schule, in Ausbildungszusammenhängen gehörte dieses Thema zu meinem Aufgabenfeld, doch ich bemerkte zunächst nicht, wie weitreichend die Folgen der elterlichen Suchtbelastung wirklich waren – ich wusste ebenso wenig darum wie die Betroffenen selbst. Erwachsene Kinder aus Suchtfamilien ahnen oftmals nichts von ihrer Belastung und deren Ausmaß, sie sprechen nicht über ihre Herkunftsfamilie, scheint das alles doch viel zu lange her zu sein. Viele wissen nicht mehr, dass ihnen etwas angetan wurde – aufgrund diffuser körperlicher und seelischer Beschwerden merken sie nur, dass irgendetwas nicht mit ihnen stimmt. Da ihnen das Ausmaß selbst nicht bewusst ist, sie zudem gelernt haben, zu tabuisieren und zu verdrängen, sprechen sie nicht über das in der Kindheit Erlittene. Betroffene lebten und leben mit Eltern, die ihre Sucht verleugnen, und so verleugnen sie selbst, was ihnen angetan wurde.
Es soll nicht etwa »Grässliches«, Schlimmes und Traumatisches, das in Suchtfamilien passiert ist, gewaltsam an die Oberfläche gezerrt oder als Sensation zur Schau gestellt werden, vielmehr wird versucht, mit Hilfe eines gemeinsamen Blicks auf die kindliche Vergangenheit, eine neue Basis für ein zufriedeneres Leben mit sich und anderen zu schaffen.
Frau L. 44 Jahre: „Ich habe eigentlich neu laufen gelernt!“
„Ich fühlte mich vor der Therapie wie in einem Hamsterrad gefangen. Alles war schwarz und grau. Ich sah und spürte nichts mehr, ich wusste weder, wo ich hinwollte, noch warum sich alles so furchtbar anfühlte – ich gab mir daran die Schuld. Jetzt fühle ich mich gut, was mir auch sehr fremd ist, da es das in meinem Leben so wenig gab. Da brauche ich immer wieder Mut, dem Neuen zu vertrauen. Ich glaube, mir hat geholfen, dass ich in der Therapie Schritt für Schritt Begleitung hatte. Ich musste bei jedem noch so kleinen Schritt Hilfe haben, ob er gerade wieder wirklich für mich stimmig ist, ob es richtig ist für mich – oder ob ich nur reagiere auf das, was andere erwarten.
Das war mühsam, aber ich empfinde nun oftmals Frieden und Freude. Ich musste von Stunde zu Stunde Wegweiser haben, um jeweils zu wissen, wie es genau weitergeht. Ich habe eigentlich neu laufen gelernt. Es haben sich neue Ziele und Blickwinkel in dieser Zeit entwickelt. Ich habe meine Belastungen erkannt und abgeworfen.„
Nach meinen Erfahrungen können erwachsene Kinder, auch wenn die Erfahrungen mit süchtigen Eltern schon Jahrzehnte zurückliegen, nur dann wirkliches Verständnis für sich selbst, ihr Verhalten, ihre Gefühle und ihre Nöte entwickeln, wenn sie einen Blick auf das, was ihnen angetan wurde, wagen. Oftmals sind sie erst dann in der Lage, ihre Stärken zu würdigen und Rollenmodelle des eigenen Lebens zu verstehen – im Buch Vater, Mutter, Sucht ermöglicht ein Selbsttest darüber näheren Aufschluss. Mittels meiner Forschungen und Praxiserfahrungen habe ich das AWOKADO-Programm zusammengestellt, das Suchtkinder auf dem Weg in ein glücklicheres Leben unterstützen kann; auch professionell Tätige können es bei der Arbeit mit Suchtkindern einsetzen. Wer verdrängt, steckt fest! Wer hinschaut und aktiv wird, kann wachsen – …
Text in Anlehnung an eine Leseprobe zu Vater, Mutter, Sucht beim Klett-Cotta-Verlag.