Vergessenen Kindern eine Stimme geben- Texte zur Coa-Aktionswoche/2

„Ich hatte sozusagen keine Kindheit“

Severine, 14, erzählt: „Ich weiß nicht, ob Sie sich so etwas vorstellen können, ich hatte sozusagen keine Kindheit. Bis ich drei Jahre alt war, ging es, aber dann fing mein Vater an, Alkohol zu trinken. Ab da war jeden Tag Hölle und Krieg!“
Immer wieder hat er meine Mutter vor meinen Augen verprügelt. Völlig betrunken zerrte er mich und meine Geschwister mitten in der Nacht, ohne jede Vorwarnung, aus dem Bett, stellte sich vor uns auf, um uns zu bestrafen und verprügelte uns wahllos für Dinge, die ihm gerade in den Kopf kamen. Mitten in der Nacht. Wenn dann das Strafgericht und die Schläge gerade zu Ende schienen, öffnete sich die Tür erneut, alles begann genauso wie vorher und lief erneut ab, manchmal bis in die Morgenstunden. Mein Vater, wahrscheinlich im Filmriss, erinnerte sich an nichts.“

Meine Mutter hat oft versucht, weg zu kommen, ins Frauenhaus, aber es hat nie geklappt, mein Vater hat sie immer wider zurückgeholt: Und wieder ging alles von vorne los. Als meine Mutter uns verlassen wollte, besorgt mein Vater eine Waffe, um zu verdeutlichen, was mit uns Kindern im Falle der Flucht meiner Mutter passieren werde. Ich hatte große Angst. Seit ich sechs bin, habe ich meinen Vater gebissen und getreten, habe mich gewehrt und gesagt, was er meiner Mutter antut, versucht zu sagen, was in der Familie abläuft. Es hat nichts genützt, ich bekam dadurch sogar mehr Schläge. Dann, als ich neun war, hatte mein Vater eine andere Frau. Da wollte meine Mutter sich umbringen, immer wieder. Ich konnte Tag und Nacht an nichts anderes mehr denken, ich war immer in Angst um sie, hatte aber auch Angst, dass mein Vater plötzlich wieder betrunken aufläuft und uns allen etwas antut.

Was mich rettet, fragen Sie? Ich habe, glaube ich, so etwas wie einen Schutzengel, der mir eine große Sicherheit gegeben hat. Überhaupt finde ich einen Halt in meinem Glauben. Und meine Freundin! Die ist immer für mich da.

„Und:“, zum ersten Mal geht ein Strahlen über Severines Gesicht: „Ich schreibe Lieder!“(Auszug aus Barnowski-Geiser 2009: Hören, was niemand sieht)