Angst ist in diesen Krisentagen weit verbreitet. Sehen wir Angst zunächst als ein Gefühl, das primär unserem Schutz dient. Ausprägung und Stärke der Angst, der Umgang mit der CoronaKrise und ihren Folgen, ist individuell. Bei jedem Menschen fallen Krisen und die damit auftretenden Ängste auf einen biografischen Boden: jede/r hat Unterschiedliches erlebt und auf unterschiedliche Weise bewältigt. Was wir in unserem Leben erfahren haben und unser Umgang damit, bestimmt, wie wir auf neue Situationen zugehen. Unser Umgang mit der aktuellen Corona-Krise ist bestimmt durch vorhergehende Krisenerfahrungen. Menschen mit frühen und dauerhaften belastenden Erfahrungen in ihren Familien sind somit geprägt: sie entwickeln teils große Ängste, wenn Situationen unkontrollierbar erscheinen und sie auf deren Verlauf offensichtlich keinen Einfluss haben. Zugleich haben belastete Kinder auch besondere Stärken und Copings entwickelt, die sie im Jetzt unterstützen können- die Zugänge zu diesen Krisenhelfern sind ihnen teils abhanden gekommen, in Vergessenheit geraten oder unter ängstlicher Erstarrung verschütt gegangen.
Was Krisen, Stress, Gefühle und das Gehirn miteinander zu tun haben
Die schlechte Nachricht, die Ihnen als Betroffene sicher bereits bekannt ist, vorab: Kinder, die dauerhaft Krisen ihrer belasteten Familien ausgesetzt sind, können massive Folgen davontragen; diese Folgen sind teils messbar an ihrem Serum-Cortisolspiegel und in Hirnstrukturen, können sie doch neuronale Strukturen des Hippocampus, der Amygdala sowie des Corpus Callosum zerstören. Verursacht werden zum Teil organisch begründbare Regulationsstörungen, später auch komplexe Störungen von Lernen, Emotionen und Verhalten (Trost 2003). Auch wenn dieser Zusammenhang von neuronaler Schädigung für betroffene Kinder in quantitativen Untersuchungen noch nicht hinreichend untersucht ist, muss vermutet werden, dass Gehirne von Kindern aus belasteten Familien durch das emotionale Klima ihrer Familien stark geprägt sind. Es steht zu befürchten, dass lang andauernde wiederholte Belastungen der familiären Umwelt neuronal entsprechend verankert werden und diese‚ emotionalen Straßen’ auch dann aufgesucht werden, wenn es nicht mehr von Nöten ist. Dies zeigte sich bei denjenigen erwachsenen Personen, die bis ins hohe Alter keine Auflösung des familiären Tabus erfahren hatten, bei denen sich etwa Suchtbelastung durch etliche Jahrzehnte zog und auch im Erwachsenenalter lebensbestimmend blieb. Es scheint in diesem Fall schwer zu sein, eingefahrene Hirnstraßen zu verlassen (etwa die der Angst und Ohnmacht) und neue Straßen (Freude,Hoffnung etc.) zu befahren. Damit kann ein wesentlicher Faktor zur Orientierung in der Welt durch das familiäre Erleben maßgeblich negativ beeinflusst werden.
Vererbt durch die Generationen?
Sogar genetisch scheinen diese Erfahrungen Spuren zu hinterlassen (In jüngerer Zeit wurde an Mäusen nachgewiesen, dass die Gene bei Nachkommen traumatisierter Mütter in Mitleidenschaft gezogen waren; sie zeigten sich als weniger Stressresistent und verzweifelter in eigenen Krisensituationen). „Muss ich das auch noch wissen?“, denken Sie nun vielleicht,“ das ist doch nur traurig. Ich finde, ja, sie sollten das wissen, um sich selbst ein Stück besser zu verstehen und sich in Ihrem „So-Sein“ annehmen und nicht noch zusätzlich abwerten, als „Weichei, Mimose, Versager“. Erst, wenn wir verstehen, warum wir wurden, wie wir sind, können wir besser neue Krisen bewältigen, einen Zugang zu unserer wahren Identität bekommen: im anderen Falle, wenn wir Altes unerkannt abspalten, drohen wir uns selbst fremd zu bleiben und in alten, ungünstigen Krisencopings ( zum Beispiel dem Erstarren) feststecken zu bleiben. Angst ist ein Signalgeber, im besten Fall Wachrüttler.
Hirne sind nutzungsabhängig: warum Kinder mit familiärer Belastung leicht ängstlich werden
Schauen wir weiter aus neurowissenschaftlicher Perspektive. Versuchte Erklärungen müssen im Angesicht der hochkomplizierten Vorgänge in unseren Hirnen unverschämte Vereinfachungen bleiben…versuchen wir dennoch eine Annäherung: Außenwelt hinterlässt Spuren in der Innenwelt. Neurologisch spricht man hierbei von inneren Repräsentationen der Außenwelt. Auch die Repräsentationen unserer Gefühlswelt (neurowissenschaftlichen Untersuchungen u.a. von Braun, Spitzer) spiegeln erlebte Erfahrungen. Unsere Gefühlswelt ist erlernt, vor allem in sozialer Erfahrung. Befinden, Stimmungen und Gefühle sind bei Kindern aus belasteten Familien stark in Mitleidenschaft gezogen. Kinder lernen etwa: „Wenn Papa trinkt, gibt es Ärger für mich!“ Wird diese Erfahrung wiederholt gemacht, wird diese Erfahrung auch neuronal verschaltet: sie bildet eine Hirnspur. Je öfter diese Erfahrung gemacht werden, umso tiefer gräbt sich diese Spur im Hirn ein, sprich: Kinder entwickeln Ängste ( eine Hirnautobahn „Angst“) und weitere mit diesem Erleben verbundene Gefühle werden nutzungsabhängig verschaltet. Aus dem Kind, das in einer Szene Angst hat, wird bei dauerhafter Wiederholung, leicht ein überängstliches Kind: insbesondere dann, wenn, wie oft in tabuisierenden Familien, das Gefühl des Kindes nicht benannt und besprochen werden darf, das Kind folglich keine angemessene Unterstützung in Form von Trost oder Halt erfährt.
Kindheit prägt unser Erleben als Erwachsene
Das Befinden Betroffener wird durch dieses kindliche Krisenerleben geprägt, das Gehirn entsprechend gebaut – auch als Erwachsene, wenn das Elternhaus längst verlassen wurde, sind diese grundlegenden Verschaltungen angelegt. Es ist also nachvollziehbar, dass ein in der Kindheit entsprechend „verschalteter“ Erwachsener, der die Spur Angst zu einer regelrechten Autobahn im Kopf entwickelt hat (Formulierung in Anlehnung an Hüther), auch als Erwachsener schnell auf eben dieser Autobahn landet. Denkweisen, Selbstbild, Körpererfahrung usw. sind neuronal verschaltet: sie bilden ein Erlebens- Panorama im Jetzt, das im familiären System erlernt wurde.
Denken wir die vorangestellten Forschungen für Erwachsene aus belasteten Familien weiter, so wird deutlich:
- es besteht ein Zusammenhang zwischen emotionalen Belastungen in Kindheitstagen und emotionaler Befindlichkeit im Erwachsenenalter
- es besteht ein Zusammenhang von wiederholten stressenden Kindheitserfahrungen und chronischen/schweren Erkrankungen im Erwachsenenalter.
Eine große Belastung der Lebensqualität von Menschen mit belasteter Kindheit erscheint evident. Somit stellt die aktuelle Corona-Krise neben medizinisch-alltäglichen Überlegungen insbesondere Menschen mit Kindheitsbelastungen vor große psychische Herausforderungen – .
„Help…I need somebody“
Fasst man die vorab geschilderten Forschungsergebnisse zusammen, so sind die Belastungen und Folgen bei Kindheitsbelastungen hoch einzustufen. Und dennoch eine gute Nachricht aus der Forschung: es gibt Stärkendes! Widerstandskräfte, die uns schützen, sogenannte Resilienzen. Resilienzen sind also das, was uns stark macht. Resilienzen sorgen dafür, dass viele Menschen mit Kindheitsbelastungen eben auch nicht erkranken. Eine bedeutsame stabile Beziehung im Umfeld eines aufwachsenden Kindes ist eine solch hochwirksame Resilienz. Sind Erkrankungen vorhanden, zeigten sich etwa Meditation und soziale Anbindung als hochwirksam. Vernetzen und andere Menschen mit ins Boot Holen zeigt in allen Lebensphasen Wirkung. Nervensystem und Immunsystem können einander verständigen, dies können wir für uns nutzen. Decartes Dualismus hat lange Medizin bestimmt. Aber neuere Forschungen überprüfen, wie Gehirn und Immunsystem zusammenhängen und es wird deutlich: sie sind in ständigem Austausch. Ein gestresstes Gehirn beeinflusst das Immunsystem, somit gilt auch die Umkehrung: ein entspanntes Gehirn entlastet den Körper. Körper und Geist sind eine Einheit, was ganzheitliche, integrative, leiborientierte, kreative und komplementär-Medizin für Betroffene auf den Plan ruft. Basis bildet weiterhin die Schulmedizin. Gute Erfolge ließen sich auch durch kognitive Umstrukturierung erzielen, also problematische, dysfunktionale Gedanken, etwa durch einen anderen Gedanken zu ersetzen ( wie es in einigen Religionen und Philosophien auch seit Jahrtausenden gelehrt wird)… Selbstheilung können Sie aktiv unterstützen. Sogar ein EEG kann signifikant verändert werden. Sie können durch Ihre Lebens-und Denkweise Einfluss nehmen.
Ein wichtiger Faktor: eine soziale Umgebung, ein Feld der Hoffnung (gerade dürfen wir auf einen Impfstoff hoffen) und Zuwendung (teils Liebe genannt), im Idealfall im eigenen Zuhause. Der Satz: „Ich kann gesund werden!“, oder: „Ich kann meine Kindheitswunden überwinden!“ gehört zur hochwirksamen Einstellung, die Veränderung und damit Wege aus der erstarrten Angst möglich werden läßt. Hilfe für Betroffene muss individuell erfolgen, spezifisch zugeschnitten sein: sie benötigt mindestens einen wohlwollenden Anderen. Immer sollte sie Anregung zur Selbsttätigkeit beinhalten (hierzu auch das AWOKADO-Selbsthilfe-Programm in Vater, Mutter, Sucht 2015 und Meine schwierige Mutter 2017).
Das hilft
Glauben wir den Erkenntnissen der Psychoneuroimmunologie, so helfen Krisenkindern bei der schwierigen Bewältigung vor allem: Optimismus, stabile Sozialkontakte, ein Alltag mit guten Erfahrungen sowie körperliche Nähe.
Der in der Kapitelüberschrift verwendete Oldie der Beatles bringt auf den Punkt, was wir Kindheitsbelastungen, Stimmungs-und Befindlichkeitstörungen entgegensetzen können: Hilfe suchen und annehmen, die Verbindung und Zuwendung von anderen, nahestehenden Menschen…die entstehende Überlastung im Beruf würdigen und zunehmend mehr Menschen müssen sich eingestehen, dass längst nicht mehr alles schaffbar ist, bestimmt nicht alles wir früher, perfekt laufen kann- nur, so gut es eben geht. Vielleicht schreiben Sie anderen hier, indem Sie die Kommentarfunktion nutzen, wie Sie es gerade schaffen trotz Corona-Krise, vielleicht trotz Ihrer Angst – ich freue mich, von Ihnen zu lesen.
Bleiben Sie gesund und behalten Sie bei aller nötigen Hygiene vor allem auch Ihre Seele im Blick,
bis ganz bald
Ihre
Waltraut Barnowski-Geiser
„Und alle schwingen mit“-wie Ihre familiären Beziehungen präg(t)en, wie Sie heute sind
„Gewöhnlich haben wir die Familie als den Ort betrachtet, an dem wir Liebe, Verständnis und Unterstützung finden können, selbst wenn alles andere versagte. Sie ist der Platz, an dem wir uns erfrischen können und an dem wir auftanken, um mit der Welt draußen besser fertig zu werden. Aber für Millionen belasteter Familien ist das ein Mythos.“ (Satir 1993, S.27)
Kinder belasteter Eltern sehen es als ihre Aufgabe an, ihre unglücklichen Eltern glücklich zu machen: Diese Tatsache hat vielschichtige Folgen, die Betroffene bis ins Erwachsenenalter prägen können: das, was die anderen brauchen, ist so wichtig, dass betroffene Kinder sogar für sie existenzielle Bedürfnisse bei sich selbst übergehen, um den belasteten Elternteil glücklich und zufrieden zu machen… und dieses Beziehungsmuster im nicht seltenen Fall mit in ihre weiteren nahen Beziehungen im Erwachsenenalter nehmen. Sie scheinen sich selbst verloren gegangen zu sein.
Wie Krisen Sie praegten
Wie kommt es dazu? Die Antworten sind vielschichtig, ein Blick auf die Situation der Familie lohnt sich. Belastete Familien befinden sich oftmals in Dauerkrisen, in denen sie zusammenrücken müssen; oft entsteht eine besondere Abhängigkeit, ein besonderes Angewiesensein aufeinander, manchmal ohne emotionale Nähe und Liebe, die die Kinder benötigen. Diese enge Anbindung, die Minuchin Ende der 70er Jahre als familiäre „Verstrickung“ beschrieb, wurde als sehr problematisch für die Entwicklung des Individuums angesehen.IN diesem Feld hat die systemische Forschung viel Pionierarbeit geleistet.
„Aber in der verstrickten Familie geht das Individuum gewissermaßen im System verloren. Seine individuelle Autonomie ist so schwach definiert, dass ihm ein Funktionieren auf individuelle und eigene Weise so gut wie unmöglich gemacht ist.“ (Minuchin/Rosman/Baker 1978, S.43f).
Wenn Reden nicht mehr hilft-die Stoerung in der familiaeren Kommunikation
Es entwickelt sich eine belastete Famlienstruktur mit einer eigenen Dynamik, sie nimmt Einfluss auf die gesamte innerfamiliäre Kommunikationsstruktur. Die verstorbene Familientherapeutin Virginia Satir beschreibt vier Formen der gestörten Kommunikation: Beschwichtigung, Anklage, Rationalisieren und Ablenken. Diese Formen begegneten mir besonders in der Arbeit mit Familien, die sich in der Phase der tabuisierten schleichenden oder/und chronischen Belastung befinden (Phasen nach Barnowski-Geiser 2009).
Beschwichtigung zeigt sich insbesondere in der Form, Empfindsamkeit zu entwerten. Sie gipfelt in Äußerungen wie „Ach, die x ist einfach so ein überempfindliches Kind!“
Rationalisieren zeigt sich oft, indem Eltern in therapeutischen Gesprächen dem Erleben des Kindes wenig angemessen erscheinende Vorträge halten. Äußern die Kinder Gefühle und weinen, zeigen sich diese Eltern in der Interaktion zu ihren Kindern seltsam erstarrt und unerreichbar, wenig tröstlich: sie rufen das KInd zurück zur Vernunft.
Anklagen Besonders bitter für Kinder werden Strukturen, die sie zum „Angeklagten“ machen; oftmals um von familiären Problemen abzulenken. Dies passiert etwa dann, wenn Eltern einen Konsens finden, etwa die Suchtbelastung und familiären Probleme weiterzuleben, ohne sie öffentlich werden zu lassen. Kinder übernehmen hier teilweise sehr selbstverständlich die Rolle des „Sündenbockes“, in die sie gedrängt werden. „Wenn Anna nicht so viele Probleme in der Schule häte, müsste ich nicht trinken“, lautet die elterliche Logik, teils vom Partner mitgetragen.
Ablenken: Während Dramatisches und Schlimmes passiert, das eigentlich die gesamte Aufmerksamkeit aller erfordert, wird der Fokus auf eigentlich Nebensächliches gerichtet, etwa“Die Kinder haben ihre Pflichten nicht erfüllt, den Essenstisch nicht abgeräumt“ etc.
Und alle schwingen mit-das Resonanzvirus
Und zugleich gehen die Auswirkungen in den belasteten Familien weit über die Kommunikationsstruktur hinaus: die beschriebene Dynamik des Familiengeheimnisses bringt Resonanzmuster hervor, in denen das Eigene teilweise zugunsten der Systemschwingung aufgegeben werden muss. Betroffene spüren von Klein auf, dass sie vor allem im System einen guten Platz finden, wenn sie sind, was das System braucht. Sie leben in erzwungenen Resonanzräumen, in denen sie irgendwann vergessen haben, dass sie eigene Bedürfnisse haben und erfüllen müssen, vergessen, wer sie eigentlich sind… weil sie es schlichtweg vergessen mussten.
Die Frage: Was brauche ich? muss in diesen Fällen als neue Orientierung von Tag zu Tag gestellt werden, die Erfüllung der Bedürfnise kleinschrittig geübt werden. Probieren Sie es vielleicht in der nächsten Woche aus, nehmen Sie diese wichtige Frage als Begleiter mit in Ihre Woche, auch wenn Ihre Eltern oder Partner erkrankt und bedürftig sind…und das ist, wenn Sie zu den Betroffenen erwachsenen Kindern gehören, wirklich eine schwierige Übung!
Eine gute Woche
Ihre
Waltraut Barnowski-Geiser
„Einfach“ glücklich sein oder: Ist es wirklich nie zu spät für eine schöne Kindheit?
In dieser Woche möchte ich mit Ihnen einer wichtigen Fragestellung folgen: Kann man eine glückliche Kindheit als Erwachsener nachholen? Diese Versprechung soll zumindest den vollmundigen Versprechungen einiger Autoren und Seminarleitern zufolge, zu jeder Zeit einzulösen sein. Wenn es möglich wäre, glückliche Kindheit nachzuholen, dann beinhaltete das doch unendliche Möglichkeiten: Vergangenes Leid wäre demnach in der Gegenwart zu verwandeln, Glück wäre machbar. Ist es wirklich nie zu spät für eine glückliche Kindheit? Machen Sie etwas falsch, wenn Sie sich aktuell nicht gut fühlen? Die Beantwortung unserer Ausgangsfrage scheint nicht leicht.
Perspektivwechsel
Ist jeder einfach seines Glückes Schmied? Betroffene mit Kindheitsbelastungen ( im Folgenden kurz Bel-Kids genannt) gewinnen den Eindruck, einfach falsch zu denken, unfähig zu sein…oder zu sensibel…einfach „zu“: die Kette der Selbstbeschuldigungen kann unendlich fortgesetzt werden… und mündet dann oft in der Frage: Mache ich etwas falsch in meinem Leben? Oftmals stellt sich in therapeutischer Arbeit heraus, dass Eltern oder andere Menschen viel falsch gemacht haben, ihrer Sucht gefolgt sind etwa: und nicht der Belastete selbst. Um dies herauszufinden, benötigen Menschen oft Krisen: alles bricht zusammen, die alte Weise zu denken, das Wertsesystem, womöglich wichtrige Beziehungen…und nun wird die Krise zum Wendepunkt. Und damit oft zur Chance..
Auf das Maß kommt es an…
Ob „Einfach glücklich sein“ durch einen Entschluss möglich ist, ist zumindest auch maßgeblich vom Schweregrad der kindlichen Belastung abhängig. Je früher die Kindheitsbelastung einsetzte und dort womöglich frühe Traumata (tiefgreifende seelische Verletzungen) hinterließ, umso weniger können sich Menschen ausschließlich durch eine bloße Einstellungsänderung in glücklichere Menschen verwandeln. Dies zu behaupten (und das ist in bestimmten Szenen durchaus verbreitet), stellt eine große Ignoranz traumatisierten Menschen gegenüber dar. Wenn die Belastung keine tiefgreifenden seelischen Spuren hinterlassen hat, ist die Palettte des Einflußnahme größer: dann ist über den Einsatz des Willens und sogenannte kognitive Umstrukturierung (vereinfacht gesagt ein Wandeln der Denkmuster) oft ein zufriedenes und glücklicheres Leben möglich. Bei Menschen mit schweren Kindheitstraumatisierungen ist eine längerfristige Therapie meist unumgänglich: und auch diese ist längst kein Garant für ein glückliches Leben. Auch Therapieprozesse sind dann von Höhen und Tiefen gezeichnet- aber die Gesamtbilanz fällt für Betroffene in der Regel glücklicher aus.
Was bedeutet Glück?
Nehmen Sie ein paar Atemzüge Zeit… was bedeutet für Sie Glück?…Wann haben Sie sich glücklich gefühlt zuletzt?…und als Kind?…Ist Glück für Sie erstrebenswert?
Was Glück bedeutet, ist für jeden etwas anderes. In der Glücksforschung hat man herausgefunden, dass materielles Glück sich schnell verflüchtigt: wer also etwa einen großen Geldbetrag gewinnt, der kann kurzfristig mehr Glück erleben- nach kurzer Zeit pendelt sich der Gewinner jedoch auf Normalniveau ein.
Schauen wir aus philiosophischer Perspektive, so wird Glück sowohl als etwas Individuelles und als etwas Flüchtiges beschrieben. Um nach dem Glück zu suchen, muss man demnach zunächst benennen können, was glücklich macht. Als Glücksuchende brauche ich also eine Vorstellung davon, was denn Glück für mich genau ist. Um diese Vorstellung überhaupt entwickeln zu können, muss jemand glückliche Zustände erlebt haben und sie auch erinnern – das setzt voraus, Glücksmomente auch als eben solche wahrgenommen zu haben. Manchmal wissen Menschen mit Kindheistbelastungen schlicht nicht, wie sich Glück anfühlt – sie haben es wenig erlebt.Damit fehlt ihnen eine wichtige Voraussetzung, glücklich zu werden: sie müssen also im Jetzt achtsam sein, was Sie angenehm, schön, bereichernd empfinden. Oft ist die kurzfristige Beglückung wenig hilfreich: ist etwas zugleich in Übereinstimmung mit dem eigenen Lebenssinn, mit dem eigenen Wesen, wird es dann besonders „glücklich“ erlebt.
Im Buddhismus geht man davon aus, dass man erst Freude und Glück empfinden sollte, bevor man sich dem Leiden zuwendet. Wenn jemand krank ist, muss erst gestärkt werden, bevor er Schweres erfährt (etwa das Ausmaß seiner Erkrankung). Die alltägliche Praxis der Meditation soll den Menschen darin unterstützen. Buddha leitete an, wie man zu Freude und Glück kommt durch die Praxis der Meditation. Es muss erst Stärke gefunden werden, imdem man sich um Freude und Glück kümmert. Wenn man zu schwach ist, kann das Ansehen des Leides zu früh sein. Wie bei einer OP: auch hier muss das Kräftig Werden im Blick sein bevor operiert wird. Wenn man noch schwach ist, so nimmt man an, sei das Ansehen der Sorgen zu schwierig.
„Ich achte auf mich“ statt „Ich bin für dein Glück verantwortlich“ – Loslassen, Betrauern und Selbstachtsamkeit als heilsamer Weg
Gefühle von Freude und Glück aufzubringen ist für manche alltägliche Praxis. Wie geht das? Folgt man buddhistischen Lehrern (Thich Nhat Hanh, Buddha) und christlichen Kontemplationspraktitken hat dies viel mit Loslassen zu tun. Der Buddha sagt, dass Glück hänge eng zusammen mit der Fähigkeit, loszulassen und nicht anzuhaften. Wenn man an Beziehungen und Ideen festhalte, bereite das Schmerzen. Etwas sehr Bekanntes für Menschen mit KIndheitsbelastungen: oft kreisen sie lebenslang um ihre Eltern, in der Hoffnung, dass diese doch endlich glücklich werden sollen. Von vielem denken wir demzufolge, dass wir es nicht loslassen können, weil wir glauben, das wäre unabkömmlich für unser Glück. Oft ist gerade diese Idee loszulassen. Für Bel-Kids bedeutet dies oftmals die Aufgabe der Idee: wenn ich meine Eltern glücklich gemacht habe, werden sie mich lieben: dann werde ich selbst glücklich sein. Je mehr sie diese Vorstellung loslassen statt sie festzuhalten, um so besser scheint dann ihr eigenes Leben. Sie haben dann die Vorstellung losgelassen, das sie die Verantwortung für das Lebensglück ihrer Eltern tragen. Sie bemerken erst als Erwachsene, dass sie ein Recht auf ein gutes Leben haben; auch wenn es jemand anderem ( etwa dem erkrankten Elternteil) noch schlecht geht. Dann können eigene Bedürfnisse endlich Raum bekommen, auch kindliche Wünsche können durch den Erwachsenen, der sie im Jetzt sind, erfüllt werden. Oftmals setzt das glücklich Sein eine Zeit des Betrauerns voraus: was war nicht möglich früher, was ist nicht nachholbar?… erst dann können Betroffene achtsam für sich selbst sorgen und sich auf einen glücklicheren Weg mit ihren verletzten kindlichen Anteilen begeben : um unsere Frage aufzugreifen. Es ist oftmals nicht zu spät für eine gute Kindheit: je schwerer die KIndheitsrefahrungen waren, umso weniger einfach ist das Nachholen.
Ich wünsche Ihnen eine erfüllte Woche mit glücklichen Momenten
Ihre
Waltraut Barnowski-Geiser