„Ich habe doch nur mitgetrunken, um meinen Mann besser steuern zu können!“

„Ich habe doch nur mitgetrunken, um meinen Mann besser steuern zu können!“, erzählt eine Angehörige (Flassbeck 2016, MuG). In diesem Satz zeigt sich die ohnmächtige Verstrickung von Angehörigen auf erschreckende Weise. Jens Flassbeck untersucht diese in seinem Artikel in der neuen MuG  anhand eines Praxisbeispiels eindrücklich: Co-Abhängigkeit live und anfühlbar. Nur langsam arbeitet es sich in die Szene der Behandler vor: dass auch die Angehörigen, hier vor allem Kinder, die erwachsenen Kinder und Partner von sucht-und psychisch erkrankten Menschen, selbst dringend Hilfe benötigen: Hilfe, die spezifisch auf sie zugeschnitten ist, von Behandlern, die sich in diesem sich erst langsam  etablierenden neuen Themenfeld  professionell auskennen. Allzu lange wurden die Angehörigen von sucht-und psychisch erkrankten Menschen eher in die Ecke der Verursacher von Erkrankung gestellt, einbezogen in die Therapie wurden sie dann lediglich im Blick auf den Erkrankten- weniger, um ihr eigenes Leid, ihre eigenen Beziehungsmuster etwa, aufzuarbeiten.

Diesem Themenkreis hat Jens Flassbeck auch zwei lesenswerte Bücher gewidmet. Leser können umfassend aus den reichen Erfahrungen des in einer Suchtklinik tätigen Psychologen profitieren.

Cover MuG 29 Musiktherapie und sucht

Ihre neue Ausgabe der Zeitschrift von Musik und Gesundsein widmen die Herausgeber, v.a. Professor H.H. Decker-Voigt nebst Gattin, ebenfalls dem Thema Suchtbelastung mit zwei Leitartikeln:

Gegen den Strom schwimmen lernen
Der co-abhängige Fall Frau Freundlich
Jens Flassbeck

Tabu trifft … Musiktherapie. Zur Arbeit mit Kindern
und erwachsenen Kindern suchterkrankter Eltern
Waltraud Barnowski-Geiser

http://musik-und-gesundsein.net/95-mug-ausgaben/mug-29-musiktherapie-und-sucht/212-editorial

Buchdeckel „978-3-608-86045-0Buchdeckel „978-3-608-89106-5

Anregende Lesenszeiten und eine gute Woche wünscht

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

 

Vergessenen Kindern eine Stimme geben – Texte zur Coa-Aktionswoche/3

„Alle tun, als gäbe es das nicht!“


Dass meine Mutter trank, das hat niemand gewusst. Wir haben auch in der Familie nie darüber gesprochen, das war wie ein schwarzes Loch, jeder wusste, dass es da ist, aber alle tun so, als gäbe es das nicht. Eben unsichtbar. Für mich war es glaube ich am schlimmsten, weil ich am meisten mit ihr zusammen sein musste, ich war ja die Jüngste. Meine Geschwister haben auch nie was gesagt, zu peinlich, glaube ich. Mein Bruder verliert bis heute kein Wort darüber. Ich glaube, er denkt, wenn er nicht drüber redet, dann gibt es das Trinken meiner Mutter auch nicht. In der Schule war ich nervös, weil ich ja nicht wusste, was mich zu Hause erwarten würde. Wenn ich nach Hause kam und sie schlief, dann war es ganz gut, dann standen da leere Flaschen rum und ich wusste, heute passiert mir nichts mehr. Schlecht war, wenn sie halb voll war. Dann saß sie mit der Rotweinflasche neben mir und kontrollierte meine Hausaufgaben, da konnte ich mir dann schnell mal ein paar einfangen. Mein Vater hat dazu nichts gesagt, er hat mich manchmal in den Arm genommen, er hat gesagt: Du musst tun, was deine Mutter sagt. Sei nicht so ein Dickkopf! Meine Lehrer haben meine Eltern mal angesprochen, warum ich immer so schnell ausflippe und dass man mit mir nicht reden kann und so, da haben sie gesagt, dass ich von Klein an zickig war und dann war das Thema vom Tisch.
Mit meinen Freunden habe ich da auch nicht drüber gesprochen: ich fand das peinlich. Ich glaube auch, die fanden, wenn sie mal bei uns waren, ich durfte ja kaum Besuch haben, meine Mutter cool. Sie hat dann alle in den Arm genommen und war lustig und hat meinen Freundinnen Alkohol angeboten, den sie ja sonst noch nicht trinken durften. Ich glaube, ich war die einzige, mit der meine Mutter Probleme hatte- vielleicht bin ich schuld, dass sie so getrunken hat. Wenn man eine Tochter hat, die einen nicht versteht und zickig ist, glaube ich, dann ist man traurig und will mit Trinken vielleicht bessere Laune kriegen… Sarah, 14

   Dr. Waltraut Barnowski-Geiser ist Therapeutin, Lehrende und Autorin. Vater, Mutter, Sucht (2015) und Hören, was niemand sieht (2009) sind ihre Bücher zur Thematik. In der Praxis KlangRaum in Erkelenz bietet sie Hilfe für Menschen mit Kindheitsbelastungen auf der Basis des von ihr entwickelten AWOKADO-7-Schritte-Programms

Hören, was niemand sieht.Kreativ zur Sprache bringen, was Kinder und Erwachsene aus alkoholbelasteten Familien bewegt

Kinder aus alkoholbelasteten Familien erleben täglich Krisen, die von ihren Eltern oftmals verleugnet und von ihrem Umfeld nicht wahrgenommen werden – mit teil großen Folgen für ihr Leben und Erleben. Im Buch werden praxisnahe Hilfen und kreativtherapeutische Wege für diese vergessene Hochrisikogruppe aufgezeigt. Grundlage dieses Buches ist meine Dissertation zur leiborientierten Musiktherapie an der Hochschule für Musik und Theater/Institut für Musiktherapie der Universität Hamburg.

Semnos-Verlag, 2009, 320 Seiten, 19,50€

„Wenn man dieses Buch gelesen hat, lichtet sich der Nebel, der immer wieder über dem Thema Alkoholismus schwebt, das Diffuse wird klarer, das Unfassbare greifbarer…Die Tendenz wegzuschauen, einem unangenehmen Thema, das Ohnmacht und Hilflosigkeit hervorruft, aus dem Weg zu gehen, verwandelt sich in einen starken Wunsch nach tatkräftigem Handeln.“

Ute Torspecken amazon Rezension