„Ich möchte dazugehören“- die Sehnsucht der Kindheitsbelasteten

Menschen aus belasteten Familien fühlen sich oftmals einsam und nicht zughörig. Zugehörigkeit zu finden wird dann eine bestimmende Lebensaufgabe. Oftmals haben diese Gefühle ihre Wurzeln in Kindheitstagen. Familien, die im Tabu gefangen sind, entwickeln eine eigene Dynamik. Die familiäre Wahrnehmung wird so ausgerichtet, dass das Tabu und die Täuschung in jedem Fall  aufrecht erhalten werden kann. Daran arbeiten alle Familienmitglieder mit, dieser Prozess läuft meist unbewusst ab. Besonders tragisch gestaltet er sich für all diejenigen, die sich in ihrer Familie um das Aussprechen der Wahrheit bemühen. Da sich das tabuisierende System bedroht fühlt, geraten diejenigen Familienmitglieder, die um Wahrhaftigkeit ringen, an den Rand des Systems: sie gelten als Sündenböcke, als Verräter, paradoxer Weise sogar als „nicht richtig“, „nicht glaubwürdig“. Wenn dieser Prozess über wichtige Jahre in der Kindheit anhält, wird die familiäre Fremdzuschreibung den betroffenen Familienmitgliedern zur eigenen Sicht, sozusagen zur zweiten Haut. MIt dieser Selbstzuschreibung gehen sie künftig in andere Systeme Gruppen, in Klassengemeinschaften, in eigene Familienbeziehungen usw.: ein zu schwerer kindlicher Rucksack, der kaum alleine zu tragen ist!

An diesem Punkt brauchen derart belastete Menschen andere Menschen: Menschen, die wohlwollend mit ihnen auf ihre Wahrnehmung schauen, die stärkend in ihrem Rücken sind, die aufmerksam zu-und  hinhören. Manchmal ist es dann auch an der Zeit, therapeutische Hilfe zu suchen.

Ich wünsche Ihnen eine gute Sommerzeit mit lieben Menschen an Ihrer Seite und vielen schönen Momenten,

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Bin ich ein Suchtkind? Könnte „Vater, Mutter, Sucht“ auch die Überschrift über Ihrer Kindheit sein?

Viele Erwachsene aus suchtbelasteten Familien wissen nicht, ob sie wirklich als betroffen gelten. Sie fragen sich oftmals quälend: „Bin ich ein Suchtkind?“ Denn Vater, Mutter, Kind: dieses alte Kinderspiel erfährt in Familien mit Suchtkranken eine tragische Abwandlung. Wenn Eltern suchtkrank sind, nehmen ihre Kinder einen anderen Platz ein, als es bei Kindern mit gesunden Eltern der Fall ist. Bei einem Menschen, der an einer Sucht leidet, kommt diese immer an erster Stelle. Die Sucht nimmt den Platz ein, der eigentlich den Kindern zusteht. Das Handeln des Süchtigen ist nicht auf seine Kinder, sondern auf sich und das Suchtmittel konzentriert, letzteres ist bei Suchtkranken der Dreh- und Angelpunkt. Wie und wann ist das Suchtmittel zu bekommen? Wie ist es zu vermeiden. Das sind die Fragen, die den Alltag bestimmen. Die Gedanken eines alkoholkranken Elternteils kreisen letztlich nur darum, wie er an Alkohol kommen kann, der Tablettensüchtige denkt ständig an seine Tabletten, der Drogensüchtige an seinen Stoff, der Workaholic an seine Arbeit usw. Dies bleibt nicht ohne Folgen für das System, für die Umgebung, in der Suchtkranke leben, hier vor allem für die Familien.

Alle in der Familie sind von der Sucht betroffen

Der Gebrauch des Suchtmittels greift in das Familienleben ein, bestimmt, wie die Mitglieder zusammen leben können oder eben auch nicht mehr.Featured image
So bekommen Kinder aus Suchtfamilien ungewollt einen Platz zugewiesen, der ihnen wenig gerecht wird. Die mit der elterlichen Sucht einhergehende Belastung wird nie mehr von ihnen weichen, denn wie eine Betroffene es ausdrückte: »Suchtkind bleibt man ein Leben lang!« Selbst wenn sie das Elternhaus schon lange verlassen haben oder der süchtige Elternteil verstorben ist: Sucht gleicht einem Zombie, der die Seelen der Kinder zu zerfressen droht – und das unbemerkt. Die Menschen aus dem Umfeld werden leicht zu Statisten, zu hilflosen Zuschauern, die unbeteiligt wegsehen, weil das Leid und die Ohnmacht zu unfassbar erscheinen, nicht begreifbar, nicht veränderbar. So sehen Erzieher/innen, Lehrer/innen und Nachbarn in der Regel untätig zu, während sich hinter den verschlossenen Türen der Suchtfamilie womöglich tagtäglich Dramatisches abspielt. Die Kinder dürfen nicht über ihr Leid sprechen, die Eltern schweigen aus Scham. Wenn sie doch mit ihrer Sucht an die Öffentlichkeit gehen, finden sie vielleicht einen Platz, an dem ihnen geholfen wird, ihre Kinder dagegen bleiben meistens selbst dann noch auf tragische Weise im Abseits.
Kommt die Sucht, wie so oft, nicht laut, sondern mehr schleichend, leise daher, wird es noch schwieriger, sie zu erkennen. Die Belastung für die Betroffenen nimmt immens zu, denn sie fragen sich, ob es diese Sucht überhaupt gibt oder gab, ob sie sich diese nur einbilden. »Ist das nicht normal, was meine Eltern da gemacht haben!«, lautet dann die Frage der Verunsicherten, oder: »Ist es nicht normal, dass Mama täglich Tabletten nimmt, die sie doch braucht!«, »Ist es nicht normal, ein paar Bier zu trinken?«, »Ist es nicht normal, auf sein Gewicht zu achten?« Oft noch als Erwachsene sind die Kinder suchtkranker Eltern tief verunsichert.

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Übung 4: Bin ich ein „Suchtkind“?

Vielleicht fragen Sie sich, ob sie selbst zum Kreis der betroffenen Erwachsenen gehören, die hier (auch im Buchtitel) angesprochen werden. Das wäre sehr typisch für die Art und Weise, wie erwachsene Kinder aus Suchtfamilien mit ihrer Kindheitsbelastung umgehen. »Suchtkinder«, wie ich erwachsene Kinder suchtkranker Eltern hier im Folgenden nennen möchte, nehmen oft grundsätzlich an, dass dieses Thema aus Kindertagen erledigt sei, und zum anderen, dass sie keine Probleme haben, oder wenn doch, dass diese Probleme (Symptome etwa körperlicher Art) nichts mit der früheren Situation in der Herkunftsfamilie zu tun haben. Dies kann ein tragischer Fehlschluss sein, mit weitreichenden Folgen für Ihre Lebensqualität…

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 Was Suchtkinder erzählen

Zitate aus Befragungen (2008/2009; 2015) im Folgenden unkommentiert: Vielleicht finden Sie sich oder jemanden, der Ihnen wichtig ist, in diesen Aussagen wieder?

Die nachfolgenden Zitate stammen von Erwachsenen, die über mehrere Jahre mit suchtkranken Eltern gelebt haben:

„Es (das Suchtverhalten/ Anm. d.Verf.) war in unserer Familie zu einem stummen Thema geworden!“/Frau L.

„Es ging fortwährend darum, dass wir nach Außen eine perfekte Fassade lieferten – wie es mir ging, spielte keine Rolle!“/Frau I.

„… denn offensichtlich ist dieser familiäre Wahnsinn das Leben!“/Frau H.

„Wenn meine Mutter schreckliche Dinge im Suff getan hatte, taten alle so, als wäre nichts passiert!“/Frau Z.

„… ich bettle schon ein Leben lang um Liebe.“/Frau I.

„Entsetzt bemerkte ich, dass es dieses „Ich“ nicht mehr gab!“ /Frau I.

„… ich verschwinde, während ich sein Verschwinden zu verhindern suche.“/Frau E.

„Wir sind du und du bist wir!“/Frau E. zur Einstellung ihrer Mutter

Ich habe lieber, wenn etwas Schreckliches passiert! – Wenn es mal gut ist, warte ich nur auf das Schreckliche- das WARTEN ist noch furchtbarer“/Frau I.

„Vielleicht hätte ich ihn mehr lieben müssen! Dann hätte mein Vater vielleicht nicht getrunken“ (Frau S.)

„Ich tanze auf einer Hochspannungsleitung im kühlen Korsett!“/Frau P.

„Und ich war ihrer Ansicht nach schuld, dass sie immer mehr trank…“/Herr I.

Drogen waren für meine Eltern „Lifestyle“- sprach ich von Belastung wurde ich ausgelacht und als spießig dargestellt.“/Herr H.

„Bei uns zu Hause gab es gar keine Grenzen.“/Frau O.

„Ich habe oft schon Angst gehabt, bevor meine Mutter nach Hause gekommen ist/Felix

                                          „…alle Männer in unserer Familie waren depressiv…und süchtig.“ (Frau G)

„Ich kann ihm wirklich nicht die Mutter ersetzen!“ (Frau R.)

„Wir waren voll mit Gefühlen, die aus der Suchterkrankung resultierten und doch durften wir nie über unsere Gefühle reden. Gefühle waren das absolute Tabu!“/Herr I.

Wenn einige dieser Aussagen auch von Ihnen stammen könnten und sie sich zugleich schon lange fragen, ob das Verhalten ihrer Eltern mit dem Etikett „süchtig“ zu bezeichnen ist/war, dann könnten das Hinweise auf eine (möglicherweise auch verdeckte) elterliche Suchterkrankung oder andere familiäre Belastungen in der Kindheit sein. Vielfach ist die elterliche Suchterkrankung, wie Suchtkinder oftmals fälschlich annehmen, nicht nur an der konsumierten Menge fest zu machen (und auf die Kontrolle und Beweisführung wird oft viel Energie bei Angehörigen verwendet): Bedeutsamer und wirksamer für den eigenen Weg der Suchtkinder ist das Aufspüren krankmachender Familiendynamiken sowie der spezifischen Familienatmosphäre. Denn diese Dynamik und Atmosphäre kann massive Auswirkungen auf das Erleben der Suchtkinder haben, sogar wenn sie viele Jahrzehnte zurückliegt. Wenn Sie sich oftmals, (scheinbar grundlos) leer, schuldig und „unnütz“, nicht „richtig“, nicht zugehörig oder wertlos fühlen (obwohl sie z.B. „objektiv“ viel leisten), dann kann die Wurzel dieser Gefühle in elterlicher Suchterkrankung begründet sein.Dann kann es für Sie wichtig sein, sich mit Familienatmosphären näher zu beschäftigen. Häufig stellen Suchtkinder in dieser Beschäftigung fest, dass diese negativen Stimmungen und Gefühle eigentlich gar nicht zu ihnen gehören, sondern zu ihren belasteten Eltern. Diese haben sie über Jahre während ihrer Erkrankung, meist unbewusst, an sie weitergegeben oder abgegeben (delegiert).

Zusatzanregung: Suchen Sie ein Musikstück, das erzählt, wie Sie sich eine gute Familienatmosphäre vorstellen…Lassen Sie sich Zeit: Hören Sie in den nächsten Tagen Stücke im Radio oder zu Hause bewusster aus dieser Perspektive.

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Zu Beginn meiner Tätigkeit habe ich, wie viele professionell Tätige in diesem Bereich, mit erwachsenen Kindern aus Suchtfamilien gearbeitet, ohne wirklich das Ausmaß ihrer Belastung zu kennen. In meiner Praxis, in der Schule, in Ausbildungszusammenhängen gehörte dieses Thema zu meinem Aufgabenfeld, doch ich bemerkte zunächst nicht, wie weitreichend die Folgen der elterlichen Suchtbelastung wirklich waren – ich wusste ebenso wenig darum wie die Betroffenen selbst. Erwachsene Kinder aus Suchtfamilien ahnen oftmals nichts von ihrer Belastung und deren Ausmaß, sie sprechen nicht über ihre Herkunftsfamilie, scheint das alles doch viel zu lange her zu sein. Viele wissen nicht mehr, dass ihnen etwas angetan wurde – aufgrund diffuser körperlicher und seelischer Beschwerden merken sie nur, dass irgendetwas nicht mit ihnen stimmt. Da ihnen das Ausmaß selbst nicht bewusst ist, sie zudem gelernt haben, zu tabuisieren und zu verdrängen, sprechen sie nicht über das in der Kindheit Erlittene. Betroffene lebten und leben mit Eltern, die ihre Sucht verleugnen, und so verleugnen sie selbst, was ihnen angetan wurde.

Es soll nicht etwa »Grässliches«, Schlimmes und Traumatisches, das in Suchtfamilien passiert ist, gewaltsam an die Oberfläche gezerrt oder als Sensation zur Schau gestellt werden, vielmehr wird versucht, mit Hilfe eines gemeinsamen Blicks auf die kindliche Vergangenheit, eine neue Basis für ein zufriedeneres Leben mit sich und anderen zu schaffen.

Frau L. 44 Jahre: „Ich habe eigentlich neu laufen gelernt!“
„Ich fühlte mich vor der Therapie wie in einem Hamsterrad gefangen. Alles war schwarz und grau. Ich sah und spürte nichts mehr, ich wusste weder, wo ich hinwollte, noch warum sich alles so furchtbar anfühlte – ich gab mir daran die Schuld. Jetzt fühle ich mich gut, was mir auch sehr fremd ist, da es das in meinem Leben so wenig gab. Da brauche ich immer wieder Mut, dem Neuen zu vertrauen. Ich glaube, mir hat geholfen, dass ich in der Therapie Schritt für Schritt Begleitung hatte. Ich musste bei jedem noch so kleinen Schritt Hilfe haben, ob er gerade wieder wirklich für mich stimmig ist, ob es richtig ist für mich – oder ob ich nur reagiere auf das, was andere erwarten.

Das war mühsam, aber ich empfinde nun oftmals Frieden und Freude. Ich musste von Stunde zu Stunde Wegweiser haben, um jeweils zu wissen, wie es genau weitergeht. Ich habe eigentlich neu laufen gelernt. Es haben sich neue Ziele und Blickwinkel in dieser Zeit entwickelt. Ich habe meine Belastungen erkannt und abgeworfen.

Nach meinen Erfahrungen können erwachsene Kinder, auch wenn die Erfahrungen mit süchtigen Eltern schon Jahrzehnte zurückliegen, nur dann wirkliches Verständnis für sich selbst, ihr Verhalten, ihre Gefühle und ihre Nöte entwickeln, wenn sie einen Blick auf das, was ihnen angetan wurde, wagen. Oftmals sind sie erst dann in der Lage, ihre Stärken zu würdigen und Rollenmodelle des eigenen Lebens zu verstehen – im Buch Vater, Mutter, Sucht ermöglicht ein Selbsttest darüber näheren Aufschluss. Mittels meiner Forschungen und Praxiserfahrungen habe ich das AWOKADO-Programm zusammengestellt, das Suchtkinder auf dem Weg in ein glücklicheres Leben unterstützen kann; auch professionell Tätige können es bei der Arbeit mit Suchtkindern einsetzen. Wer verdrängt, steckt fest! Wer hinschaut und aktiv wird, kann wachsen – …

Text in Anlehnung an eine Leseprobe zu Vater, Mutter, Sucht beim Klett-Cotta-Verlag.

Verschwiegene Kindheitsbelastung?…Du bist nicht allein!

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Auffällig unauffällig, perfekt, im Inneren toben Gefühle, die Sie haltlos überfordern? Sie fühlen sich manchmal einsam, allein unter Menschen? Dann gehören sie womöglich zur Gruppe der Kinder, deren Kindheitsbelastung verschwiegen wurde…

Viele Kindheitsbelastungen werden verschwiegen: über Jahre, Jahrzehnte, manchmal sogar bis auf dem Sterbebett und sogar darüber hinaus. Kinder von Suchtkranken etwa, von psychisch erkrankten ober missbrauchenden Eltern (um nur einige zu nennen) haben oft unfassbares Leid erlebt: da dieses Leid so groß war und tabuisiert wurde, wird es familiär als nicht vorhanden, als nicht existent gehandelt. Über das Erlebte Stillschweigen zu wahren, wird zur Eintrittskarte in die familiäre Zugehörigkeit – Sprechen bedeutet hier „Ausgeschlossen werden“ aus dem inneren familiären Zirkel – für Kinder ein existenzielles Risiko, das sie in ihrer kindlichen Hilflosigkeit nicht eingehen können. Für die Zugehörigkeit zahlen sie den Preis der Isolation, sie sind oft über Jahrzehnte in ihrer Einsamkeit gefangen (in Anlehnung an Barnowski-Geiser Vater, Mutter, Sucht 2021).

 

Die Folgen und das Leid der Kinder

In der Folge halten betroffene Kinder ihre gefühlsmäßige Isolation für selbstverschuldet, sie halten sich nicht für wertvoll genug, dass jemand sich mit ihnen beschäftigt. Irgendwann verlieren sie das Zutrauen zu ihrer Wahrnehmung und in der Folge das Zutrauen zu sich selbst. Diese Gefühle begleiten sie über die Kindheit hinaus. Menschen sind soziale Wesen, das heißt sie werden das, was sie sind, vor allem durch andere Menschen: im Guten wie im Schlechten. Je größer das familiäre Tabu war, umso mehr brauchen Betroffene Menschen, die ihre Wahrnehmung bezeugen, die zu und hinter ihnen stehen, Menschen, die sie aufbauen und stärken.  Wenn dies in der Kindheit nicht möglich war, so ist es im Erwachsenenalter nicht zu spät, nach diesen anderen Menschen zu suchen. Für manche Menschen ist die Therapie der erste Ort, an dem sie eine Würdigung ihrer Kindheitsbelastung, eine Würdigung ihrer eigenen Wahrnehmung erfahren. Es reicht dabei nicht, wie Betroffene beschreiben, nur über die Belastung zu reden, sie zu verstehen, sondern es braucht gefühlsmäßige Anteilnahme, Mitgefühl, Anteilnahme, Trost und Resonanz. Um wieder fühlen zu können, brauchen Betroffene fühlende TherapeutInnen.

Oftmals sind diese Kinder als Erwachsene überrascht, wenn sie bemerken, dass sie ihr Kindheitsleiden mit anderen Menschen teilen. Sie sind erstaunt, dass die familiären Strukturen sich ähneln, die Tabus, die Isolation. Wenn Erwachsene es dann schaffen, sich anderen mitzuteilen, Verbindungen herzustellen, Netzwerke zu bilden, sich Selbsthilfe in Gruppen zu suchen, dann passiert meist etwas Wunderbares: das Leiden findet Worte, es findet Resonanz, es findet Echo, Ausbruch aus dem uralten inneren Gefängnis wird möglich. Das Ende der Flucht vor dem eigenen Inneren rückt in greifbare Nähe.

Ich wünsche Ihnen wertschätzende Andere und die Kraft nach diesen Menschen zu suchen, wenn Sie sie noch nicht gefunden haben: Sie sind nicht allein mit Ihrer Belastung!

Wärmendes durch den sonnigen März

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

 

Verschwiegene Kindheitsbelastung?…Du bist nicht allein!

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Auffällig unauffällig, perfekt, im Inneren toben Gefühle, die Sie haltlos überfordern? Sie fühlen sich manchmal einsam, allein unter Menschen? Dann gehören sie womöglich zur Gruppe der Kinder, deren Kindheitsbelastung verschwiegen wurde…

Viele Kindheitsbelastungen werden verschwiegen: über Jahre, Jahrzehnte, manchmal sogar bis auf dem Sterbebett und sogar darüber hinaus. Kinder von Suchtkranken etwa, von psychisch erkrankten ober missbrauchenden Eltern (um nur einige zu nennen) haben oft unfassbares Leid erlebt: da dieses Leid so groß war und tabuisiert wurde, wird es familiär als nicht vorhanden, als nicht existent gehandelt. Über das Erlebte Stillschweigen zu wahren, wird zur Eintrittskarte in die familiäre Zugehörigkeit – Sprechen bedeutet hier „Ausgeschlossen werden“ aus dem inneren familiären Zirkel – für Kinder ein existenzielles Risiko, das sie in ihrer kindlichen Hilflosigkeit nicht eingehen können. Für die Zugehörigkeit zahlen sie den Preis der Isolation, sie sind oft über Jahrzehnte in ihrer Einsamkeit gefangen (in Anlehnung an Barnowski-Geiser Vater, Mutter, Sucht 2015).

 

Die Folgen und das Leid der Kinder

In der Folge halten betroffene Kinder ihre gefühlsmäßige Isolation für selbstverschuldet, sie halten sich nicht für wertvoll genug, dass jemand sich mit ihnen beschäftigt. Irgendwann verlieren sie das Zutrauen zu ihrer Wahrnehmung und in der Folge das Zutrauen zu sich selbst. Diese Gefühle begleiten sie über die Kindheit hinaus. Menschen sind soziale Wesen, das heißt sie werden das, was sie sind, vor allem durch andere Menschen: im Guten wie im Schlechten. Je größer das familiäre Tabu war, umso mehr brauchen Betroffene Menschen, die ihre Wahrnehmung bezeugen, die zu und hinter ihnen stehen, Menschen, die sie aufbauen und stärken.  Wenn dies in der Kindheit nicht möglich war, so ist es im Erwachsenenalter nicht zu spät, nach diesen anderen Menschen zu suchen. Für manche Menschen ist die Therapie der erste Ort, an dem sie eine Würdigung ihrer Kindheitsbelastung, eine Würdigung ihrer eigenen Wahrnehmung erfahren. Es reicht dabei nicht, wie Betroffene beschreiben, nur über die Belastung zu reden, sie zu verstehen, sondern es braucht gefühlsmäßige Anteilnahme, Mitgefühl, Anteilnahme, Trost und Resonanz. Um wieder fühlen zu können, brauchen Betroffene fühlende TherapeutInnen.

Oftmals sind diese Kinder als Erwachsene überrascht, wenn sie bemerken, dass sie ihr Kindheitsleiden mit anderen Menschen teilen. Sie sind erstaunt, dass die familiären Strukturen sich ähneln, die Tabus, die Isolation. Wenn Erwachsene es dann schaffen, sich anderen mitzuteilen, Verbindungen herzustellen, Netzwerke zu bilden, sich Selbsthilfe in Gruppen zu suchen, dann passiert meist etwas Wunderbares: das Leiden findet Worte, es findet Resonanz, es findet Echo, Ausbruch aus dem uralten inneren Gefängnis wird möglich. Das Ende der Flucht vor dem eigenen Inneren rückt in greifbare Nähe.

Ich wünsche Ihnen wertschätzende Andere und die Kraft nach diesen Menschen zu suchen, wenn Sie sie noch nicht gefunden haben: Sie sind nicht allein mit Ihrer Belastung!

Wärmendes durch den Winter sendet

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

 

Wort und Tabu in Eltern-Kind-Beziehungen

Viele erwachsene Kinder aus belasteten Familien haben nie mit jemandem über ihre schwierige Lage Daheim gesprochen. Sie hätten eigentlich wenig darüber nachgedacht als Kind, heißt es oft, es sei eben einfach so gewesen , wie es nun mal war… und manch Betroffener bemerkt beim genaueren Hinschauen, wenn die Familie längst verlassen wurde, dass es ein Sprechverbot gab, über das Belastende zu sprechen, ja, teils sogar überhaupt darüber nachzudenken. Nehmen wir ein Beispiel: Die Familie hat die Sucht des erkrankten Elternteils tabuisiert, darüber wird nicht gesprochen, es wird bagatellisiert und verharmlost. Oft ist es für die betroffenen Kinder ein großes Ereignis, wenn sie ihre damit einhergehende Belastung erstmalig mit Worten belegen, sie vor sich selbst und in der Folge vor anderen benennen. Manche fühlen sich dann schlecht, fühlen sich als Verräter oder Denunzianten der Eltern. Philosoph Peter Bieri beschreibt dies im Zusammenhang der verlorengehenden Würde  treffend: „Wenn das Wort ausgesprochen ist, gibt es keinen Spielraum mehr für Verleugnung oder Beschönigung – keine Möglichkeit mehr zu tun, als sei das Unglück nicht der Fall.“ (Bieri, Eine Art zu leben, S.232). Das ausgesprochene Wort verändere die Beziehungen, sogar, wenn es nur gedacht sei.

Es scheint entscheidend, mit welchen Worten sie ihr  Elternteil belegen. Nehmen Sie sich ein paar Atemzüge Zeit: Denken Sie doch kurz einmal darüber nach, welche drei Worte Sie Ihrem „schwierigen“ Elternteil zuschreiben…was wurde für Sie persönlich zur Belastung?

Vielleicht sind Sie nun bei Diagnosen und Krankheitszuschreibungen gelandet, vielleicht steht dort: Sucht, Alkoholismus, Depression o.ä. Dann sind vielleicht gängige Diagnosen zu ihren eigenen Worten der Beschreibung geworden und sie könnten noch einmal überprüfen, ob Ihnen diese Kategorien, die aus medizinischen Klassifikationen abgeleitet wurden, heute noch ausreichen.

Unsere Worte können  Welt gestalten: sie können  etwas endlich klar scheinen lassen, sie können ebenso abstempeln und so jede Hoffnung aufgeben, sie können ebenso beschönigen wie verfremden. Auch die noch nicht gefundenen Worte gestalten unsere Beziehungen.

Eine wichtige Rolle kommt dabei den Tabus zu: Tabus können Beziehungen zersetzen, da sie ihnen die Echtheit entziehen. Authentizität geht verloren, sogar dann,wenn einer nur weiß, dass der andere sein Tabu kennt: da hat die Mutter ihren massiven Selbstverletzungsversuch in die Tabuecke gedrängt, er darf nicht mehr erwähnt werden, aber Mutter und Tochter wissen beide darum. Bleiben solche Tabus unbesprochen, werden keine Worte gefunden, sind die Eltern-Kind-Beziehungen schwer belastet – insbesondere die Kinder tragen dann ein schweres stummes Paket, an dem sie oft lebenslang leiden und oft selbst nicht mehr wissen, warum: auch aus ihrem Bewusstsein musste das Schreckliche dann verdrängt werden..

Weit verbreitet ist es auch, wenn endlich ein Wort gefunden wurde, dieses als alleiniges Beschreibungsmerkmal für das belastete Elternteil zu verwenden…Meine Mutter ist Alkoholikerin!…ein großer wichtiger Schritt, wenn das Kind erstmals dies aussprechen kann und es gilt mit der Zeit zugleich, mehr Worte zur Beschreibung zu finden. Manchmal hilft es Erwachsenen neben dem großen Schatten auch das Licht, die positive Seite, noch einmal in den Blick zu nehmen und so das elterliche Bild authentischer zu komplettieren.Die Mutter war Alkoholikerin,aber eben auch viel mehr.Sehen Sie mehr Schatten und wenig Licht,nur entweder oder,kaum und?

  Die gewählten Worte zur Beschreibung der eigenen Eltern genauer anzuschauen, förmlich mit der Lupe zu sezieren, kann ein lohnenswerter Akt sein: tut sich doch unsere Seele als Spiegel vor uns auf. Manchmal wehren sich Kinder gegen  Zuschreibungen an die Eltern, sie befürchten Etikettierungen…: „Alkoholiker- das klingt wie eine Gattungsbezeichnung und damit wie etwas, was einer unwiderruflich ist. Das nimmt ihm die offene Zukunft. Einer, der nur zuviel trinkt, kann aufhören. Ein Alkoholiker hat keine Chance mehr, es nicht zu sein.“ (Bieri ebenda)

In ihren Worten über ihre Eltern spiegeln sich Wünsche, Verzweiflungen und Hoffnungen der belasteten Kinder: diese Worte wollen gesprochen, gelebt oder auch geschrieben sein. Zur Sprache zurückzufinden über das Belastende, in der passenden, stimmigen Weise, kann ein bedeutender Schritt auf dem Weg zur Heilung sein, insbesondere, wenn es Betroffenen in der Kindheit die Sprache verschlagen hat(te). Denn: in einem belasteten System wird die Wahrheit oftmals zum Feind: man stempelt sie zur Lüge. Mitlügen wird zum Preis für Zugehörigkeit, nicht Sehen, Nicht Hören, nicht Sprechen die Eintrittskarte in den „Club“. Allein ist einem solchen System meist schwer beizukommen: es braucht Helfer, Beistand, aufrechten Widerstand und Allianzen, die meist erst auf einem längeren Lebensweg gefunden werden. Worte können solche Begleiter sein und werden, Worte Finden für Unausgesprochenes kann so ein Akt des Begreifens und Verstehens werden, der leibliche Spuren nachhaltig verändern kann.

So mag es manch einem Betroffene so ergehen, wie es Roger Willemsen in „Wer wir waren“  als Zeitphänomen des 3.Jahrtausends klug beschrieben hat: „Nicht wissen im Wissen zu behaupten; nicht gewusst zu haben werden, während man doch wusste“.

Herzliche Gruesse

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Schweigen – das stumme Leiden in belasteten Familien

Schweigen kann viele Gesichter haben. Während das Miteinanderschweigen in einer guten Atmosphäre des Miteinanders ein Ausdruck tiefer Verbundenheit sein kann, oder eine schweigende Gemeinschaft in einem Retreat Erholung und Getragensein ermöglicht, kennen viele Kinder belasteter Eltern besonders die Schattenseite des Schweigens: Schweigen in eisiger und gespannter Atmosphäre. Ein oftmals unbemerktes und unerkanntes Schreckensgesicht ihrer Kindheitstage, kommt es doch leise daher, ist kaum sichtbar und wird leicht überhört. Diese Kinder erinnern sich mit einem Schaudern an dieses in ihren Ohren dröhnende „eisige Schweigen“, oftmals eines Elternteils, an emotionale Kälte, die die gesamte Atmosphäre bestimmt, ihr zu Hause bewohnt und sich irgendwann in ihnen selbst niederlässt, zur unangenehmen inneren Heimat wird. Wenn die Mutter die Schweigende ist, so wird dies oft besonders schmerzlich erlebt, wenn diese von Beginn des Lebens an die meiste Zeit mit den KIndern verbringt und ihr Schweigen womöglich erpresserisch, machtvoll oder anderweitig nachteilig einsetzt

Wer zuerst spricht, hat verloren – Macht und Kontrolle durch Schweigen

Wenn Eltern beispielsweise selbst als Kinder wiederholt Ohnmachtserfahrungen machen mussten, dann sind sie gefährdet, Schweigen in ihrer elterlichen Rolle als Machtmittel einzusetzen. Schweigen wird dann zum Mittel durch das Kontrolle über andere ausgeübt wird. Die Familienmitglieder werden etwa solange ignoriert, „bekommen“ keine Worte, bis sie wieder so funktionieren, wie es dieser Elternteil erwartet. Der so agierende Elternteil siegt  so über seine eigene als Kind erlebte Ohnmacht, indem er nun Macht über die Kontaktgestaltung seiner Familienmitglieder ausübt. Er oder sie bestimmt, wann gesprochen wird und wann nicht. Schweigen wird manipulativ eingesetzt, kindliche Abhängigkeit sträflich missachtet und ausgenutzt

Wenn Krankheit stumm macht…und Kinder ins Leere laufen
Manchmal ist Schweigen Teil einer Erkrankung: maipulatives Schweigen kann etwa bei narzistisch und borderlinestrukturierten Menschen als Teil der Störung auftreten. In der elterlichen Depression begegnen Kinder einer anderen Form des Schweigens: die mit der Erkrankung oft einhergehende Teilnahmslosigkeit prägt dann auch die Interaktionen zwischen Eltern und Kind. Dies  führt dazu, dass Reaktionen auf kindliche Fragen ausbleiben, kaum Einfühlung und Mitgefühl ausgedrückt wird, Kinder gefuehlt wiederholt ins Leere laufen. Dem depressiv Erkrankten ist dies meist nicht bewusst. Wird es ihm doch bewusst, verursacht es ihm weitere Schuldgefühle, die in der Erkrankungszeit schwer aushaltbar sind. Kinder von erkrankten Eltern brauchen dringend Hilfen von anderen Menschen: denn wenn Kinder diese Leere-Erfahrungen über längere Zeit und in den ersten Lebensjahren machen müssen, kann das nachhaltige Auswirkungen für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung haben, die weit in das Erwachsenenalter hineinreichen, hier insbesondere als Selbstwert-und Bindungsprobleme oder auch als quälende Einsamkeitsgefühle

Kollektives Schweigen: wenn das Tabu das Zepter schwingt

Besonders dramatisch ist das kollektive familiäre Schweigen, wenn einem Familienmitglied ein großes Leid zugefügt wird und darüber geschwiegen wird, wenn Missbrauch oder Gewaltanwendung durch Eltern stillschweigend geduldet wird, wenn das Wahren des Tabus stärker zählt als die Würde des betroffenen Kindes. Die Missbrauchs- oder Gewalterfahrung ist das eine, die fehlende Unterstützung durch die anderen Familienmitglieder, so beschreiben es Betroffene, ist eine weitere Quelle des Leidens, die teils traumatisch erlebt wird. Ebenso leiden oftmals Geschwisterkinder, die in ihrer Hilflosigkeit Gewalt mitansehen müssen und dem familiären Tabu stillschweigend verpflichtet werden. Der Nachhall in das erwachsene Leben ist gewaltig. Kinder in  tabuisierenden Familien brauchen achtsame Menschen außerhalb des direkten Familiensystems, die in Loyalität die Wahrnehmung der KInder stärken, eine Zuflucht außerhalb anbieten, und zunächst das Schweigen der Kinder respektieren. Manche finden diese Personen erst als Erwachsene, manche müssen aus ihren Familien genommen werden. Andere leiden insbesondere unter elterlicher Gewalt, wenn Eltern pflegebdürftig und zugleich machtvoll werden. Auch triggern neuerliche Bedrohungsszenarien die erlebte Hilflosigkeit aus Kindheitstagen.

Wenn Leid stumm macht – Leben mit traumatisierten Eltern

Auch Kinder traumatisierter Eltern beschreiben Erfahrungen mit elterlichem Schweigen: so müssen sie etwa erleben, dass die Eltern über erlebten Schrecken verstummt sind und/oder Teile von sich abspalten (in der Fachsprache auch dissoziieren genannt). Sie sprechen partiell nicht oder verstummen, wenn bestimmte Themen oder Gefühle zur Sprache kommen (tragisch eindrücklich etwa bei Kriegsgeschädigten zu beobachten). Ein Beispiel einer solch nachhaltigen Auswirkung und die damit verbundenen Folgen für das Kind beschreibt der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil eindrucksvoll in seinem autobiografischen Buch Die Erfindung des Lebens.

Wenn Vater da war, war jedoch alles viel einfacher, ich war dann erleichtert, weil ich dann nicht mehr allein auf Mutter aufpassen musste. Immerzu befürchteten Vater und ich nämlich, es könnte ihr etwas zustoßen…Ich wusste aber, dass so etwas früher einmal passiert war, und ich wusste auch, dass es etwas ganz besonders Schlimmes gewesen sein musste…gegenwärtig war die Vergangenheit in Mutters Stummsein.“ ( S. 13/14)

„…als wäre ich in meinen ersten Lebensjahren wahrhaftig nur mit zwei Menschen in Berührung gekommen und hätte in einer Art verschwiegenem Geheimbund mit nur den notwendigsten Außenkontakten gelebt.“ (S.43)

„So war die Welt der Kleinfamilie Catt damals, in den frühen fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, auf eine beinahe unheimliche Weise geschlossen, und jeder von uns wachte mit all seinen Sinnen darüber, dass sich daran nichts änderte (S.16)

Wie Worte erlösen können

In der Kindheit erlebtes Schweigen bleibt nicht folgenlos. Wer über Jahre und manchmal gar Jahrzehnte ins Leere gelaufen ist, ist oftmals stark selbstverunsichert. „Ich bin unattraktiv… Ich bin langweilig… Ich bin es einfach nicht wert, dass andere auf mich reagieren…lauten dann  Selbstzuschreibungen im Erwachsenenalter. Das Schweigen aus der Kindheit kann weiteres Leiden in den Partnerschaften der derart Aufgewachsenen verursachen. Oftmals ziehen sich derart Betroffene wie in einem unguten Schlüssel-Schloss-Prínzip an, sie finden exakt diejenigen, mit denen sie dieses schweigende Kindheitsdrama wiederholen. Manche nehmen unbewusst das schweigende Elternteil zum Modell, etwas, was sie partout vermeiden wollten: sie werden selbst zu schweigenden Partnern, schweigenden Vätern oder schweigenden Mütter.

Sie fühlen sich betroffen? Wenn Sie um Ihre eigenen Worte schwer ringen müssen, können kreative Wege für sie ein Mittel der Wahl sein. Dazu finden sie auf diesen Seiten einige Anregungen. Wenn Sie um die Worte eines anderen Menschen bis heute kämpfen müssen, sich gar durch Wohlverhalten Worte „erst verdienen“ müssen, dann scheinen Sie und Ihre Seele an diesem Ort nicht gut aufgehoben. Wenn Ich-Botschaften wie „Ich leide, wenn du nicht mit mir sprichst!“, ohne jeden Nachhall ins Leere verklingen, ist Unterstützung von anderen Menschen sicher hilfreich und von Nöten: Sie sind heute kein Kind mehr, Sie sind nicht abhängig wie früher (auch wenn sich das manchmal so anfühlt). Durchbrechen Sie die Kette: sprechen sie Worte, suchen sie „Erlösung“ – bei anderen, die Ihnen gern Ohren und Worte schenken.

(Text in Anlehnung an Geiser-Heinrichs/Barnowski-Geiser (2017): Meine schwierige Mutter)

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Vater, Mutter, Sucht – Wie erwachsene Kinder suchtkranker Eltern trotzdem ihr Glück finden.

Vater, Mutter, Kind: dieses alte Kinderspiel erfährt in Familien mit Suchtkranken eine tragische Abwandlung. Wenn Eltern suchtkrank sind, nehmen ihre Kinder einen anderen Platz ein, als es bei Kindern mit gesunden Eltern der Fall ist. Bei einem Menschen, der an einer Sucht leidet, kommt diese immer an erster Stelle. Die Sucht nimmt den Platz ein, der eigentlich den Kindern zusteht. Das Handeln des Süchtigen ist nicht auf seine Kinder, sondern auf sich und das Suchtmittel konzentriert, letzteres ist bei Suchtkranken der Dreh- und Angelpunkt. Wie und wann ist das Suchtmittel zu bekommen? Wie ist es zu vermeiden. Das sind die Fragen, die den Alltag bestimmen. Die Gedanken eines alkoholkranken Elternteils kreisen letztlich nur darum, wie er an Alkohol kommen kann, der Tablettensüchtige denkt ständig an seine Tabletten, der Drogensüchtige an seinen Stoff, der Workaholic an seine Arbeit usw. Dies bleibt nicht ohne Folgen für das System, für die Umgebung, in der Suchtkranke leben, hier vor allem für die Familien. Der Gebrauch des Suchtmittels greift in das Familienleben ein, bestimmt, wie die Mitglieder zusammen leben können oder eben auch nicht mehr.Featured image
So bekommen Kinder aus Suchtfamilien ungewollt einen Platz zugewiesen, der ihnen wenig gerecht wird. Die mit der elterlichen Sucht einhergehende Belastung wird nie mehr von ihnen weichen, denn wie eine Betroffene es ausdrückte: »Suchtkind bleibt man ein Leben lang!« Selbst wenn sie das Elternhaus schon lange verlassen haben oder der süchtige Elternteil verstorben ist: Sucht gleicht einem Zombie, der die Seelen der Kinder zu zerfressen droht – und das unbemerkt. Die Menschen aus dem Umfeld werden leicht zu Statisten, zu hilflosen Zuschauern, die unbeteiligt wegsehen, weil das Leid und die Ohnmacht zu unfassbar erscheinen, nicht begreifbar, nicht veränderbar. So sehen Erzieher/innen, Lehrer/innen und Nachbarn in der Regel untätig zu, während sich hinter den verschlossenen Türen der Suchtfamilie womöglich tagtäglich Dramatisches abspielt. Die Kinder dürfen nicht über ihr Leid sprechen, die Eltern schweigen aus Scham. Wenn sie doch mit ihrer Sucht an die Öffentlichkeit gehen, finden sie vielleicht einen Platz, an dem ihnen geholfen wird, ihre Kinder dagegen bleiben meistens selbst dann noch auf tragische Weise im Abseits.
Kommt die Sucht, wie so oft, nicht laut, sondern mehr schleichend, leise daher, wird es noch schwieriger, sie zu erkennen. Die Belastung für die Betroffenen nimmt immens zu, denn sie fragen sich, ob es diese Sucht überhaupt gibt oder gab, ob sie sich diese nur einbilden. »Ist das nicht normal, was meine Eltern da gemacht haben!«, lautet dann die Frage der Verunsicherten, oder: »Ist es nicht normal, dass Mama täglich Tabletten nimmt, die sie doch braucht!«, »Ist es nicht normal, ein paar Bier zu trinken?«, »Ist es nicht normal, auf sein Gewicht zu achten?« Oft noch als Erwachsene sind die Kinder suchtkranker Eltern tief verunsichert.

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Übung 4: Bin ich ein „Suchtkind“?

Vielleicht fragen Sie sich, ob sie selbst zum Kreis der betroffenen Erwachsenen gehören, die hier (auch im Buchtitel) angesprochen werden. Das wäre sehr typisch für die Art und Weise, wie erwachsene Kinder aus Suchtfamilien mit ihrer Kindheitsbelastung umgehen. »Suchtkinder«, wie ich erwachsene Kinder suchtkranker Eltern hier im Folgenden nennen möchte, nehmen oft grundsätzlich an, dass dieses Thema aus Kindertagen erledigt sei, und zum anderen, dass sie keine Probleme haben, oder wenn doch, dass diese Probleme (Symptome etwa körperlicher Art) nichts mit der früheren Situation in der Herkunftsfamilie zu tun haben. Dies kann ein tragischer Fehlschluss sein, mit weitreichenden Folgen für Ihre Lebensqualität…

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Zitate aus Befragungen (2008/2009; 2015) im Folgenden unkommentiert: Vielleicht finden Sie sich oder jemanden, der Ihnen wichtig ist, in diesen Aussagen wieder?

Die nachfolgenden Zitate stammen von Erwachsenen, die über mehrere Jahre mit suchtkranken Eltern gelebt haben:

„Es (das Suchtverhalten/ Anm. d.Verf.) war in unserer Familie zu einem stummen Thema geworden!“/Frau L.

„Es ging fortwährend darum, dass wir nach Außen eine perfekte Fassade lieferten – wie es mir ging, spielte keine Rolle!“/Frau I.

„… denn offensichtlich ist dieser familiäre Wahnsinn das Leben!“/Frau H.

„Wenn meine Mutter schreckliche Dinge im Suff getan hatte, taten alle so, als wäre nichts passiert!“/Frau Z.

„… ich bettle schon ein Leben lang um Liebe.“/Frau I.

„Entsetzt bemerkte ich, dass es dieses „Ich“ nicht mehr gab!“ /Frau I.

„… ich verschwinde, während ich sein Verschwinden zu verhindern suche.“/Frau E.

„Wir sind du und du bist wir!“/Frau E. zur Einstellung ihrer Mutter

Ich habe lieber, wenn etwas Schreckliches passiert! – Wenn es mal gut ist, warte ich nur auf das Schreckliche- das WARTEN ist noch furchtbarer“/Frau I.

„Vielleicht hätte ich ihn mehr lieben müssen! Dann hätte mein Vater vielleicht nicht getrunken“ (Frau S.)

„Ich tanze auf einer Hochspannungsleitung im kühlen Korsett!“/Frau P.

„Und ich war ihrer Ansicht nach schuld, dass sie immer mehr trank…“/Herr I.

Drogen waren für meine Eltern „Lifestyle“- sprach ich von Belastung wurde ich ausgelacht und als spießig dargestellt.“/Herr H.

„Bei uns zu Hause gab es gar keine Grenzen.“/Frau O.

„Ich habe oft schon Angst gehabt, bevor meine Mutter nach Hause gekommen ist/Felix

                                          „…alle Männer in unserer Familie waren depressiv…und süchtig.“ (Frau G)

„Ich kann ihm wirklich nicht die Mutter ersetzen!“ (Frau R.)

„Wir waren voll mit Gefühlen, die aus der Suchterkrankung resultierten und doch durften wir nie über unsere Gefühle reden. Gefühle waren das absolute Tabu!“/Herr I.

Wenn einige dieser Aussagen auch von Ihnen stammen könnten und sie sich zugleich schon lange fragen, ob das Verhalten ihrer Eltern mit dem Etikett „süchtig“ zu bezeichnen ist/war, dann könnten das Hinweise auf eine (möglicherweise auch verdeckte) elterliche Suchterkrankung oder andere familiäre Belastungen in der Kindheit sein. Vielfach ist die elterliche Suchterkrankung, wie Suchtkinder oftmals fälschlich annehmen, nicht nur an der konsumierten Menge fest zu machen (und auf die Kontrolle und Beweisführung wird oft viel Energie bei Angehörigen verwendet): Bedeutsamer und wirksamer für den eigenen Weg der Suchtkinder ist das Aufspüren krankmachender Familiendynamiken sowie der spezifischen Familienatmosphäre. Denn diese Dynamik und Atmosphäre kann massive Auswirkungen auf das Erleben der Suchtkinder haben, sogar wenn sie viele Jahrzehnte zurückliegt. Wenn Sie sich oftmals, (scheinbar grundlos) leer, schuldig und „unnütz“, nicht „richtig“, nicht zugehörig oder wertlos fühlen ( obwohl sie z.B. „objektiv“ viel leisten), dann kann die Wurzel dieser Gefühle in elterlicher Suchterkrankung begründet sein.Dann kann es für Sie wichtig sein, sich mit Familienatmosphären näher zu beschäftigen. Häufig stellen Suchtkinder in dieser Beschäftigung fest, dass diese negativen Stimmungen und Gefühle eigentlich gar nicht zu ihnen gehören, sondern zu ihren belasteten Eltern. Diese haben sie über Jahre während ihrer Erkrankung, meist unbewusst, an sie weitergegeben oder abgegeben (delegiert).

Zusatzanregung: Suchen Sie ein Musikstück, das erzählt, wie Sie sich eine gute Familienatmosphäre vorstellen…Lassen Sie sich Zeit: Hören Sie in den nächsten Tagen Stücke im Radio oder zu Hause bewusster aus dieser Perspektive.

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Zu Beginn meiner Tätigkeit habe ich, wie viele professionell Tätige in diesem Bereich, mit erwachsenen Kindern aus Suchtfamilien gearbeitet, ohne wirklich das Ausmaß ihrer Belastung zu kennen. In meiner Praxis, in der Schule, in Ausbildungszusammenhängen gehörte dieses Thema zu meinem Aufgabenfeld, doch ich bemerkte zunächst nicht, wie weitreichend die Folgen der elterlichen Suchtbelastung wirklich waren – ich wusste ebenso wenig darum wie die Betroffenen selbst. Erwachsene Kinder aus Suchtfamilien ahnen oftmals nichts von ihrer Belastung und deren Ausmaß, sie sprechen nicht über ihre Herkunftsfamilie, scheint das alles doch viel zu lange her zu sein. Viele wissen nicht mehr, dass ihnen etwas angetan wurde – aufgrund diffuser körperlicher und seelischer Beschwerden merken sie nur, dass irgendetwas nicht mit ihnen stimmt. Da ihnen das Ausmaß selbst nicht bewusst ist, sie zudem gelernt haben, zu tabuisieren und zu verdrängen, sprechen sie nicht über das in der Kindheit Erlittene. Betroffene lebten und leben mit Eltern, die ihre Sucht verleugnen, und so verleugnen sie selbst, was ihnen angetan wurde.

Es soll nicht etwa »Grässliches«, Schlimmes und Traumatisches, das in Suchtfamilien passiert ist, gewaltsam an die Oberfläche gezerrt oder als Sensation zur Schau gestellt werden, vielmehr wird versucht, mit Hilfe eines gemeinsamen Blicks auf die kindliche Vergangenheit, eine neue Basis für ein zufriedeneres Leben mit sich und anderen zu schaffen.

Frau L. 44 Jahre: „Ich habe eigentlich neu laufen gelernt!“
„Ich fühlte mich vor der Therapie wie in einem Hamsterrad gefangen. Alles war schwarz und grau. Ich sah und spürte nichts mehr, ich wusste weder, wo ich hinwollte, noch warum sich alles so furchtbar anfühlte – ich gab mir daran die Schuld. Jetzt fühle ich mich gut, was mir auch sehr fremd ist, da es das in meinem Leben so wenig gab. Da brauche ich immer wieder Mut, dem Neuen zu vertrauen. Ich glaube, mir hat geholfen, dass ich in der Therapie Schritt für Schritt Begleitung hatte. Ich musste bei jedem noch so kleinen Schritt Hilfe haben, ob er gerade wieder wirklich für mich stimmig ist, ob es richtig ist für mich – oder ob ich nur reagiere auf das, was andere erwarten.

Das war mühsam, aber ich empfinde nun oftmals Frieden und Freude. Ich musste von Stunde zu Stunde Wegweiser haben, um jeweils zu wissen, wie es genau weitergeht. Ich habe eigentlich neu laufen gelernt. Es haben sich neue Ziele und Blickwinkel in dieser Zeit entwickelt. Ich habe meine Belastungen erkannt und abgeworfen.

Nach meinen Erfahrungen können erwachsene Kinder, auch wenn die Erfahrungen mit süchtigen Eltern schon Jahrzehnte zurückliegen, nur dann wirkliches Verständnis für sich selbst, ihr Verhalten, ihre Gefühle und ihre Nöte entwickeln, wenn sie einen Blick auf das, was ihnen angetan wurde, wagen. Oftmals sind sie erst dann in der Lage, ihre Stärken zu würdigen und Rollenmodelle des eigenen Lebens zu verstehen – im Buch Vater, Mutter, Sucht ermöglicht ein Selbsttest darüber näheren Aufschluss. Mittels meiner Forschungen und Praxiserfahrungen habe ich das AWOKADO-Programm zusammengestellt, das Suchtkinder auf dem Weg in ein glücklicheres Leben unterstützen kann; auch professionell Tätige können es bei der Arbeit mit Suchtkindern einsetzen. Wer verdrängt, steckt fest! Wer hinschaut und aktiv wird, kann wachsen – …

Text in Anlehnung an eine Leseprobe zu Vater, Mutter, Sucht beim Klett-Cotta-Verlag.

Würdigen, was niemand sah: sich selbst wertschätzen lernen in einer belasteten Familie

In einer belasteten Familie geht oft viel verloren: Wahrheit, Glaube und Vertrauen beispielsweise bleiben dann auf der Strecke. Kinder aus diesen Familien gehen sich in der Folge, wenn die Belastung über lange Zeit anhält, oft selbst verloren; leben sie doch alltäglich in einem Tabu, das ihnen vermittelt, das eigentlich alles normal sei.  Ihre Nöte, aber auch ihre alltäglichen übergroßen Leistungen werden regelmäßig  übersehen. Ihre Überanstrengung und Überkompensation (Barnowski-Geiser/Geiser.Heinrichs 2017), die sie aufgrund der Erkrankungen oder Beeinträchtigungen der Eltern leisten müssen, verschwinden im familiären Nebel. Oft werden ihnen selbst diese Leistungen nie bewusst, manchmal erst im Rahmen von Therapie im Erwachsenenalter. Und dann sind Betroffene verunsichert, denn im Verlaufe ihrer familiären Zugehörigkeit zum tabuisierenden System ist ihnen auch selbst Wetschätzung und Würdigung für das von ihnen für das Familien- System Geleistete abhanden gekommen: Das Geleistete gibt es in der familiären Wahrnehmung so wenig wie es die Krankheit/Belastung der Eltern gab oder gibt. Geleistetes versinkt unter Scham, die die Kinder anstelle ihrer Eltern meist unbewusst übernehmen. Negative Selbstzuschreibungen sind dann an der Tagesordnung: „Ich bin doch so furchtbar angepasst!“ (wenn  die Überanpassungsleistung ständig nötig war),  oder „Ich hab doch so ein dämliches Helfersyndrom“ ( wenn sich Kümmern in krisenhaften Kindheiten als einzig lebbare Möglichkeit erschien) u. ä. lauten dann die unguten Selbst-Zuschreibungen.

Jetzt im Erwachsenenalter können Sie,insbesondere wenn die elterliche Belastung nun hinter ihnen liegt, neu und anders leben: indem Sie einen anderen Umgang mit sich selbst pflegen. Sie können Ihre Eltern vermutlich nicht ändern, so sehr Sie das auch wünschen, so sehr Sie sich dafür anstrengen, Als Angehörige einer belasteten Familie haben Sie vermutlich Großes geleistet (Oder tun es immer noch), entsprechende Bewältigungsmechanismen entwickelt, aus denen  spezifische, ihnen sehr eigene, Stärken entstanden sind – nur allzu lange wurden diese übersehen, von anderen und womöglich auch von Ihnen selbst. Im Heute, gerade jetzt, können diese durch Sie selbst Beachtung erfahren, neu in Resonanz und die Welt gehen, indem sie, auch wenn es ungewohnt erscheint, die Botschaft dieses Wochenimpulses umsetzen: Würdige, was niemand sah!

(Formulierung in Anlehnung an Buchtitel Barnowski-Geiser 2009: Hören, was niemand sieht) .

Sonniges auf Ihre Wege sendet

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Dr. Waltraut Barnowski-Geiser, Lehrende in Schulen, Hochschulen und therapeutischen Ausbildungsgängen. Leiterin der BEL-Kids-Projekte, Autorin. Publikationen zum Foschungsschwerpunkt familiäre Belastung u.a. Hören, was niemand sieht;  Vater, Mutter, Sucht und Meine schwierige Mutter, gemeinsam mit Maren Geiser-Heinrichs

Haben Sie schon Worte…oder hat es Ihnen die Sprache verschlagen? – Tabu und Wort in Eltern-Kind-Beziehungen

Viele erwachsene Kinder aus belasteten Familien haben nie mit jemandem über ihre schwierige Lage Daheim gesprochen. Sie hätten eigentlich wenig darüber nachgedacht als Kind, heißt es oft, es sei eben einfach so gewesen , wie es nun mal war… und manch Betroffener bemerkt beim genaueren Hinschauen, wenn die Familie längst verlassen wurde, dass es ein Sprechverbot gab, über das Belastende zu sprechen, ja, teils sogar überhaupt darüber nachzudenken. Nehmen wir ein Beispiel: Die Familie hat die Sucht des erkrankten Elternteils tabuisiert, darüber wird nicht gesprochen, es wird bagatellisiert und verharmlost. Oft ist es für die betroffenen Kinder ein großes Ereignis, wenn sie ihre damit einhergehende Belastung erstmalig mit Worten belegen, sie vor sich selbst und in der Folge vor anderen benennen. Manche fühlen sich dann schlecht, fühlen sich als Verräter oder Denunzianten der Eltern. Philosoph Peter Bieri beschreibt dies im Zusammenhang der verlorengehenden Würde  treffend: „Wenn das Wort ausgesprochen ist, gibt es keinen Spielraum mehr für Verleugnung oder Beschönigung – keine Möglichkeit mehr zu tun, als sei das Unglück nicht der Fall.“ (Bieri, Eine Art zu leben, S.232). Das ausgesprochene Wort verändere die Beziehungen, sogar, wenn es nur gedacht sei.

Es scheint entscheidend, mit welchen Worten sie ihr belastetes Elternteil belegen. Nehmen Sie sich ein paar Atemzüge Zeit: Denken Sie doch kurz einmal darüber nach, welche drei Worte Sie Ihrem belasteten Elternteil zuschreiben…was wurde für Sie persönlich zur Belastung?

Vielleicht sind Sie nun bei Diagnosen und Krankheitszuschreibungen gelandet, vielleicht steht dort: Sucht, Alkoholismus, Depression o.ä. Dann sind vielleicht gängige Diagnosen zu ihren eigenen Worten der Beschreibung geworden und sie könnten noch einmal überprüfen, ob ihnen diese Kategorien, die aus medizinischen Klassifikationen abgeleitet wurden, heute noch reichen.

Unsere Worte können  Welt gestalten: sie können  etwas endlich klar scheinen lassen, sie können ebenso abstempeln und so jede Hoffnung aufgeben, sie können ebenso beschönigen wie verfremden. Auch die noch nicht gefundenen Worte gestalten unsere Beziehungen.

Eine wichtige Rolle kommt dabei den Tabus zu: Tabus können Beziehungen zersetzen, da sie ihnen die Echtheit entziehen. Authentizität geht verloren, sogar dann,wenn einer nur weiß, dass der andere sein Tabu kennt: da hat die Mutter ihren massiven Selbstverletzungsversuch in die Tabuecke gedrängt, er darf nicht mehr erwähnt werden, aber Mutter und Tochter wissen beide darum. Bleiben solche Tabus unbesprochen, werden keine Worte gefunden, sind die Eltern-Kind-Beziehungen schwer belastet – insbesondere die Kinder tragen dann ein schweres stummes Paket, an dem sie oft lebenslang leiden und oft selbst nicht mehr wissen, warum: auch aus ihrem Bewusstsein musste das Schreckliche dann verdrängt werden..

Weit verbreitet ist es auch, wenn endlich ein Wort gefunden wurde, dieses als alleiniges Beschreibungsmerkmal für das belastete Elternteil zu verwenden…Meine Mutter ist Alkoholikerin!…ein großer wichtiger Schritt, wenn das Kind erstmals dies aussprechen kann und es gilt mit der Zeit zugleich, mehr Worte zur Beschreibung zu finden. Manchmal hilft es Erwachsenen neben dem großen Schatten auch das Licht, die positive Seite, noch einmal in den Blick zu nehmen und so das elterliche Bild authentischer zu komplettieren.

  Die gewählten Worte zur Beschreibung der eigenen Eltern genauer anzuschauen, förmlich mit der Lupe zu sezieren, kann ein lohnenswerter Akt sein: tut sich doch unsere Seele als Spiegel vor uns auf. Manchmal wehren sich Kinder gegen  Zuschreibungen an die Eltern, sie befürchten ungute Etikettierungen…und auch dies kann sinnvoll sein: „Alkoholiker- das klingt wie eine Gattungsbezeichnung und damit wie etwas, was einer unwiderruflich ist. Das nimmt ihm die offene Zukunft. Einer, der nur zuviel trinkt, kann aufhören. Ein Alkoholiker hat keine Chance mehr, es nicht zu sein.“ (Bieri ebenda)

In ihren Worten über ihre Eltern spiegeln sich Wünsche, Verzweiflungen und Hoffnungen der belasteten Kinder: diese Worte wollen gesprochen, gelebt oder auch geschrieben sein. Zur Sprache zurückzufinden über das Belastende, in der passenden, stimmigen Weise, kann ein bedeutender Schritt auf dem Weg zur Heilung sein, insbesondere, wenn es Betroffenen in der Kindheit die Sprache verschlagen hat(te). Denn: in einem belasteten System wird die Wahrheit oftmals zum Feind: man stempelt sie zur Lüge. Mitlügen wird zum Preis für Zugehörigkeit, nicht Sehen, Nicht Hören, nicht Sprechen die Eintrittskarte in den „Club“. Allein ist einem solchen System meist schwer beizukommen: es braucht Helfer, Beistand, aufrechten Widerstand und Allianzen, die meist erst auf einem längeren Lebensweg gefunden werden. Worte können solche Begleiter sein und werden, Worte Finden für Unausgesprochenes kann so ein Akt des Begreifens und Verstehens werden, der leibliche Spuren nachhaltig verändern kann.

So mag es manch einem Betroffene so ergehen, wie es Roger Willemsen in „Wer wir waren“  als Zeitphänomen des 3.Jahrtausends klug beschrieben hat: „Nicht wissen im Wissen zu behaupten; nicht gewusst zu haben werden, während man doch wusste“.

Schweigen – das stumme Leiden in belasteten Familien

Schweigen kann viele Gesichter haben. Während das Miteinanderschweigen in einer guten Atmosphäre des Miteinanders ein Ausdruck tiefer Verbundenheit sein kann, oder eine schweigende Gemeinschaft in einem Retreat Erholung und Getragensein ermöglicht, kennen viele Kinder belasteter Eltern besonders die Schattenseite des Schweigens: Schweigen in eisiger und gespannter Atmosphäre. Ein oftmals unbemerktes und unerkanntes Schreckensgesicht ihrer Kindheitstage, kommt es doch leise daher, ist kaum sichtbar und wird leicht überhört. Diese Kinder erinnern sich mit einem Schaudern an dieses in ihren Ohren dröhnende „eisige Schweigen“, oftmals eines Elternteils, an emotionale Kälte, die die gesamte Atmosphäre bestimmt, ihr zu Hause bewohnt und sich irgendwann in ihnen selbst niederlässt, zur unangenehmen inneren Heimat wird. Wenn die Mutter die Schweigende ist, so wird dies oft besonders schmerzlich erlebt, wenn diese von Beginn des Lebens an die meiste Zeit mit den KIndern verbringt und ihr Schweigen womöglich erpresserisch, machtvoll oder anderweitig nachteilig einsetzt

Wer zuerst spricht, hat verloren – Macht und Kontrolle durch Schweigen

Wenn Eltern beispielsweise selbst als Kinder wiederholt Ohnmachtserfahrungen machen mussten, dann sind sie gefährdet, Schweigen in ihrer elterlichen Rolle als Machtmittel einzusetzen. Schweigen wird dann zum Mittel durch das Kontrolle über andere ausgeübt wird. Die Familienmitglieder werden etwa solange ignoriert, „bekommen“ keine Worte, bis sie wieder so funktionieren, wie es dieser Elternteil erwartet. Der so agierende Elternteil siegt  so über seine eigene als Kind erlebte Ohnmacht, indem er nun Macht über die Kontaktgestaltung seiner Familienmitglieder ausübt. Er oder sie bestimmt, wann gesprochen wird und wann nicht. Schweigen wird manipulativ eingesetzt, kindliche Abhängigkeit sträflich missachtet und ausgenutzt

Wenn Krankheit stumm macht…und Kinder ins Leere laufen
Manchmal ist Schweigen Teil einer Erkrankung: maipulatives Schweigen tritt etwa bei narzistisch und borderlinestrukturierten Menschen als Teil der Störung auf. In der elterlichen Depression begegnen Kinder einer anderen Form des Schweigens: die mit der Erkrankung oft einhergehende Teilnahmslosigkeit prägt dann auch die Interaktionen zwischen Eltern und Kind. Dies  führt dazu, dass Reaktionen auf kindliche Fragen ausbleiben, kaum Einfühlung und Mitgefühl ausgedrückt wird, Kinder wiederholt ins Leere laufen. Dem depressiv Erkrankten ist dies meist nicht bewusst. Wird es ihm doch bewusst, verursacht es ihm weitere Schuldgefühle, die in der Erkrankungszeit schwer aushaltbar sind. Kinder von erkrankten Eltern brauchen dringend Hilfen von anderen Menschen: denn wenn Kinder diese Leere-Erfahrungen über längere Zeit und in den ersten Lebensjahren machen müssen, kann das nachhaltige Auswirkungen für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung haben, die weit in das Erwachsenenalter hineinreichen, hier insbesondere als Selbstwert-und Bindungsprobleme oder auch als quälende Einsamkeitsgefühle

Kollektives Schweigen: wenn das Tabu das Zepter schwingt

Besonders dramatisch ist das kollektive familiäre Schweigen, wenn einem Familienmitglied ein großes Leid zugefügt wird und darüber geschwiegen wird, wenn Missbrauch oder Gewaltanwendung durch Eltern stillschweigend geduldet wird, wenn das Wahren des Tabus stärker zählt als die Würde des betroffenen Kindes. Die Missbrauchs- oder Gewalterfahrung ist das eine, die fehlende Unterstützung durch die anderen Familienmitglieder, so beschreiben es Betroffene, ist eine weitere Quelle des Leidens, die teils traumatisch erlebt wird. Ebenso leiden oftmals Geschwisterkinder, die in ihrer Hilflosigkeit Gewalt mitansehen müssen und dem familiären Tabu stillschweigend verpflichtet werden. Der Nachhall in das erwachsene Leben ist gewaltig. Kinder in  tabuisierenden Familien brauchen achtsame Menschen außerhalb des direkten Familiensystems, die in Loyalität die Wahrnehmung der KInder stärken, eine Zuflucht außerhalb anbieten, und zunächst das Schweigen der Kinder respektieren. Manche finden diese Personen erst als Erwachsene, manche müssen aus ihren Familien genommen werden. Andere leiden insbesondere unter elterlicher Gewalt, wenn Eltern pflegebdürftig und zugleich machtvoll werden. Auch triggern neuerliche Bedrohungsszenarien die erlebte Hilflosigkeit aus Kindheitstagen.

Wenn Leid stumm macht – Leben mit traumatisierten Eltern

Auch Kinder traumatisierter Eltern beschreiben Erfahrungen mit elterlichem Schweigen: so müssen sie etwa erleben, dass die Eltern über erlebten Schrecken verstummt sind und/oder Teile von sich abspalten (in der Fachsprache auch dissoziieren genannt). Sie sprechen partiell nicht oder verstummen, wenn bestimmte Themen oder Gefühle zur Sprache kommen (tragisch eindrücklich etwa bei Kriegsgeschädigten zu beobachten). Ein Beispiel einer solch nachhaltigen Auswirkung und die damit verbundenen Folgen für das Kind beschreibt der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil eindrucksvoll in seinem autobiografischen Buch Die Erfindung des Lebens.

Wenn Vater da war, war jedoch alles viel einfacher, ich war dann erleichtert, weil ich dann nicht mehr allein auf Mutter aufpassen musste. Immerzu befürchteten Vater und ich nämlich, es könnte ihr etwas zustoßen…Ich wusste aber, dass so etwas früher einmal passiert war, und ich wusste auch, dass es etwas ganz besonders Schlimmes gewesen sein musste…gegenwärtig war die Vergangenheit in Mutters Stummsein.“ ( S. 13/14)

„…als wäre ich in meinen ersten Lebensjahren wahrhaftig nur mit zwei Menschen in Berührung gekommen und hätte in einer Art verschwiegenem Geheimbund mit nur den notwendigsten Außenkontakten gelebt.“ (S.43)

„So war die Welt der Kleinfamilie Catt damals, in den frühen fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, auf eine beinahe unheimliche Weise geschlossen, und jeder von uns wachte mit all seinen Sinnen darüber, dass sich daran nichts änderte (S.16)

Wie Worte erlösen können

In der Kindheit erlebtes Schweigen bleibt nicht folgenlos. Wer über Jahre und manchmal gar Jahrzehnte ins Leere gelaufen ist, ist oftmals stark selbstverunsichert. „Ich bin unattraktiv… Ich bin langweilig… Ich bin es einfach nicht wert, dass andere auf mich reagieren…lauten dann  Selbstzuschreibungen im Erwachsenenalter. Das Schweigen aus der Kindheit kann weiteres Leiden in den Partnerschaften der derart Aufgewachsenen verursachen. Oftmals ziehen sich derart Betroffene wie in einem unguten Schlüssel-Schloss-Prínzip an, sie finden exakt diejenigen, mit denen sie dieses schweigende Kindheitsdrama wiederholen. Manche nehmen unbewusst das schweigende Elternteil zum Modell, etwas, was sie partout vermeiden wollten: sie werden selbst zu schweigenden Partnern, schweigenden Vätern oder schweigenden Mütter.

Sie fühlen sich betroffen? Wenn Sie um Ihre eigenen Worte schwer ringen müssen, können kreative Wege für sie ein Mittel der Wahl sein. Dazu finden sie auf deisen Seiten einige Anregungen. Wenn Sie um die Worte eines anderen Menschen bis heute kämpfen müssen, sich gar durch Wohlverhalten Worte „erst verdienen“ müssen, dann sind sie und ihre Seele an diesem Ort nicht gut aufgehoben. Wenn Ich-Botschaften wie „Ich leide, wenn du nicht mit mir sprichst!“, ohne jeden Nachhall ins Leere verklingen, ist Unterstützung von anderen Menschen sicher hilfreich und von Nöten: Sie sind heute kein Kind mehr, Sie sind nicht abhängig wie früher (auch wenn sich das manchmal so anfühlt). Durchbrechen Sie die Kette: sprechen sie Worte, suchen sie „Erlösung“ – bei anderen, die Ihnen gern Ohren und Worte schenken.

(Text in Anlehnung an Geiser-Heinrichs/Barnowski-Geiser (2017): Meine schwierige Mutter)

Produkt-InformationBuchdeckel „978-3-608-86121-1

„Die eigene Würde retten!“ – von der Suche zwischen Wahrheit, Tabu und Lüge

Würde (so wie auch Würdigung und Wertschätzung), scheint, schauen wir auf manch eine belastete Familie, die über Jahre und Jahrzehnte eben ihren schweren Belastungen ausgesetzt war, oft leise und still, gleichsam klamm-heimlich verloren gegangen zu sein. Würde gleicht hier in diesen Familien einem Fremdwort, mit dem man nicht mehr viel anfangen kann, dass man sich, so scheint es, kaum leisten kann; beinahe scheint es Kindern nach vielen Jahren so, als würde sie den Menschen hier in ihrer Familie nicht einmal zustehen: die Ent-Würdigung ist zur Selbstverständlichkeit geworden. Was süchtige Menschen beispielsweise teils ihren Familien antun, überschreitet oft jede Grenze, oft auch jedes Vorstellungsmaß… und dabei denke ich nicht nur an körperliche Gewalt, sondern auch an verbale Dauerattacken, Kämpfe rund um das Aufrechterhalten des Tabus, das Ringen um Normalität, die beständige Suche in Sucht etwa, die die Angehörigen zu Statisten eines schleichenden Selbstmords degradiert… und das oftmals jahrzehntelange vergebliche Ringen auf Seiten mitbetroffener Kinder und Partner, doch noch gesehen und geliebt zu werden. Um diese Liebe zu bekommen, glauben diese erwachsenen Kinder, dass sie sich verbiegen müssten: Preis ist ihre eigene Würde, die sie zu verlieren drohen oder zumindest Teilaspekte derselben…die Selbstachtung nimmt schleichend Schaden.

Herrn M.s Mutter, so findet Herr M heraus, übersteht den Narzissmus und die Sucht des Vaters über Jahrzehnte, indem sie ihn einfach anders sieht als er ist. Nicht süchtig eben, sondern einfach großartig. Alles, was zu dieser, ihrer Wahrheit nicht passt, schneidet sie aus ihrer Wahrnehmung; sogar so weit, dass sie Menschen, die ihre Wahrheit als Lüge zu entlarven drohen, aus ihrem Leben verbannt. Anstatt ihre Sicht auf ihren Ehemann als Lüge zu sehen und in Frage stellen zu müssen, stellt sie diese Menschen, die Überbringer der „Wahrheit“ oder Realität, als Lügner hin. Herr M. erwartet, das seine Mutter dies endlich eingestehe, denn ihr Verhalten sei unter aller Würde: die Aufdeckung der familiären Wahrheit brauche er, so findet er heraus, um sich seinen letzten Funken von Würde zu bewahren. Er wolle nicht weiter, wie Jahrzehnte zuvor, mitspielen und heile Welt vorgaukeln. Gespräche mit seiner Mutter laufen erfolglos: immer deutlicher wird Herrn M., dass seine Mutter so stark in ihrer eigenen Identität verunsichert ist, so bindungsschwach und abhängig, dass eine realistischere Sicht auf den Vater ihr gesamtes Lebenskonzept erschüttern würde. Wenn der Sohn ihr diese weiter abverlange, werde sie eher den Kontakt zu ihm abbrechen, vermutet er…diesen Kontaktabbruch erwägt Herr M., wie er sagt selbst schon länger, um seine Würde nicht weiter zu beschädigen, er will endlich „die eigene Würde retten!“.

Viele chronisch belastete Familien stecken in einer Abhängigkeitsfalle, in der Wahrheit und Würde geopfert werden. Ein Ausweg scheint nicht in Sicht, solange die einzelnen Familienmitglieder nicht in der Lage sind, Hilfe zu suchen und mit Klarblick eigen-ständig schauen zu können. Es braucht Kraft, die Verblendung wirklich anzuschauen. Den Würdeverlust wahrzunehmen, ihn anzuschauen ist für Kinder aus belasteten Familien oft der 1. Schritt auf dem Weg zur Veränderung des eigenen Lebens. Dies erfordert Stärke, die oftmals nach jahrzehntelangem Kampf nicht mehr vorhanden zu sein scheint. Oftmals sind Lebenslügen und Verblendung Teil der Identität geworden, die Verstrickung bestimmt mehr und mehr über die einzelnen Familienmitglieder, ihre Sicht auf sich selbst, auf die Familie und die Welt.

„Die Würde scheint uns weniger bedroht, wenn die Lüge wegen der Größe der inneren Gefahr verzeihlich ist, wie bei einer verleugneten tödlichen Krankheit oder beim Eingeständnis einer Unfähigkeit, die für das Selbstbild vernichtend wäre. Dann denken wir: das kann man von niemandem verlangen. Lebenslügen… sollten nur dann als würdelos beurteilt werden, wenn dem Betreffenden die Stärke zugeschrieben wird, ihrer Auflösung standzuhalten.“ Bieri, Eine Art zu leben, S.226

Eigen-ständig Denken wird in belasteten Familien oft als Bedrohung wahrgenommen, die mit Ausschluss belegt wird: oft ohne Worte liegt die Ausgrenzung doch drohend in der Luft, ist Teil einer unguten Atmosphäre, Teil des familiären Klimas geworden.Wir kommen in der Arbeit mit familiendynamischen Aspekten immer an ethische Fragestellungen, mit denen viele erwachsene Kinder, oftmals Tag und Nacht, und doch wenig bewusst, befasst sind.

Vielleicht halten Sie kurz inne und schreiben etwas zu den nachfolgenden Fragen:

  • Welche Werte sind in Ihrer Familie bestimmend?
  • Und für welche Werte möchten Sie eintreten?
  • Was bedeutet für Sie Würde und was braucht Ihre Würde?
  • Für wen stellen diese Ihre eigenen Vorstellungen eine Bedrohung dar?

Der Philosoph Peter Bieri hat ein  Buch über die Vielfalt der Würde verfasst, das ich all denjenigen unter Ihnen empfehlen mag, die über schnelle Lösungen hinaus interessiert sind,  gern tiefer schauen…auch wenn sich das Buch nicht speziell auf belastete Familien bezieht und somit einen Transfer auf die eigene Situation erfordert, halte ich es für diese unsere Zielgruppe lohnenswert.

Eine Art zu leben

 

Eine gute Zeit

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

 

Mehr von dieser Autorin, u.a. bei Klett-Cotta

Wenn der Nebel sich lichtet… „Erwachen“ durch Klarblick

„Ich war wie in einem Hexenkessel gefangen, ich konnte nichts mehr sehen, weder Schönes, noch irgendetwas klar in meinen Problemen. Erst als ich mich um mich gekümmert habe, mich gespürt mit all meinen Gefühlen, bekam mein Leben eine neue Richtung.“ Frau L. malt für dieses „Jetzt“ ein Haus im Grünen, mit Vögeln und Weite und gibt ihm den Titel ‚Erwachen’. (Frau L., 44 Jahre, zit. nach Barnowski-Geiser, W.2009: Hören, was niemand sieht)

Manchmal beschreiben Menschen ihren Veränderungsprozess  ähnlich wie Frau L.: sie bezeichnet es eindrücklich als „Erwachen“. Wenn Belastendes tabuisiert wird oder in Kindheitstagen wurde, wenn klar Sehen im familiären Gefüge nicht erwünscht war, nicht geduldet, vielleicht sogar mit Gewalt oder Ausgrenzung beantwortet wurde, dann kann die eigene Sicht, die eigene Wahrnehmung und schließlich die gesamte Selbstwahrnehmung  dem Tabu zum Opfer fallen: Tatsachen aus der Kindheit wirken wie in einen Nebel getaucht, fühlen, erkennen, benennen war und ist bedrohlich.Der Nebel schützt zunächst die kindliche Seele…Hält die Tabuisierung über einen langen Zeitraum an (womöglich bis ins heutige Erwachsenenalter), kann dieser Nebel Teil des gesamten Erlebens werden: es prägt dann wie Betroffene sich selbst und ihre Umgebung wahrnehmen, ihren Leib und ihre Seele, es beeinflusst ihr Erinnerungsvermögen. Unter ungünstigen Bedingungen mündet es in Selbstvergessenheit bis hin zum erlebten Selbstverlust, einem chronischen Befinden, „das vielfach durch eine eigentümliche Ortlosigkeit, Verschwommenheit und fehlendes Selbstgefühl bis hin zur Entfremdung charakterisiert ist.  (Fuchs 2000, S.43f) Mit Erwachen verbunden ist oftmals eine neue Achtsamkeit, ein „Einrasten“ der Richtungen im Umraum, eine stärkere Zentrierung und  mehr Prägnanz. Das Erwachen gleicht dem Aufwachen nach dem Schlaf.  Körper und Atem , die Sinne und das Fühlen können dabei Brücken in das Erleben schlagen; über diese Brücken kann Verdrängtes und Abgespaltenes wieder integriert werden.

„Im Erwachen sucht der Leib nach den Fäden des Netzes, das ihn mit den vom Vortag her vertrauten Dingen des Umraums verbindet.“(Ebenda) Oftmals kann Erwachen erst eintreten, wenn die bedrohliche Umgebung verlassen wird und Betroffene sich um sich selbst kümmern können. Im Anschluss beschrieben sich Betroffene, wie hier Frau L., fürsorglicher und achtsamer im Umgang mit sich selbst, zuleich  ruhiger und gelöster, sie erlebten  sich selbst weniger fremd.

Buch sowie weitere leibphilosophische Betrachtungen bei Thomas Fuchs. Keine leichte Kost, aber lohnenswert.

Eine gute Woche wünscht

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Vergessenen Kindern eine Stimme geben – Texte zur Coa-Aktionswoche/3

„Alle tun, als gäbe es das nicht!“


Dass meine Mutter trank, das hat niemand gewusst. Wir haben auch in der Familie nie darüber gesprochen, das war wie ein schwarzes Loch, jeder wusste, dass es da ist, aber alle tun so, als gäbe es das nicht. Eben unsichtbar. Für mich war es glaube ich am schlimmsten, weil ich am meisten mit ihr zusammen sein musste, ich war ja die Jüngste. Meine Geschwister haben auch nie was gesagt, zu peinlich, glaube ich. Mein Bruder verliert bis heute kein Wort darüber. Ich glaube, er denkt, wenn er nicht drüber redet, dann gibt es das Trinken meiner Mutter auch nicht. In der Schule war ich nervös, weil ich ja nicht wusste, was mich zu Hause erwarten würde. Wenn ich nach Hause kam und sie schlief, dann war es ganz gut, dann standen da leere Flaschen rum und ich wusste, heute passiert mir nichts mehr. Schlecht war, wenn sie halb voll war. Dann saß sie mit der Rotweinflasche neben mir und kontrollierte meine Hausaufgaben, da konnte ich mir dann schnell mal ein paar einfangen. Mein Vater hat dazu nichts gesagt, er hat mich manchmal in den Arm genommen, er hat gesagt: Du musst tun, was deine Mutter sagt. Sei nicht so ein Dickkopf! Meine Lehrer haben meine Eltern mal angesprochen, warum ich immer so schnell ausflippe und dass man mit mir nicht reden kann und so, da haben sie gesagt, dass ich von Klein an zickig war und dann war das Thema vom Tisch.
Mit meinen Freunden habe ich da auch nicht drüber gesprochen: ich fand das peinlich. Ich glaube auch, die fanden, wenn sie mal bei uns waren, ich durfte ja kaum Besuch haben, meine Mutter cool. Sie hat dann alle in den Arm genommen und war lustig und hat meinen Freundinnen Alkohol angeboten, den sie ja sonst noch nicht trinken durften. Ich glaube, ich war die einzige, mit der meine Mutter Probleme hatte- vielleicht bin ich schuld, dass sie so getrunken hat. Wenn man eine Tochter hat, die einen nicht versteht und zickig ist, glaube ich, dann ist man traurig und will mit Trinken vielleicht bessere Laune kriegen… Sarah, 14

   Dr. Waltraut Barnowski-Geiser ist Therapeutin, Lehrende und Autorin. Vater, Mutter, Sucht (2015) und Hören, was niemand sieht (2009) sind ihre Bücher zur Thematik. In der Praxis KlangRaum in Erkelenz bietet sie Hilfe für Menschen mit Kindheitsbelastungen auf der Basis des von ihr entwickelten AWOKADO-7-Schritte-Programms

Belastete Familie…im Spiegel zwischen Abgrund und Nicht-Ort

In der Indianischen Weisheit ging man davon aus, dass Menschen ein wenig so werden, wie der Ort, der sie umgibt. Der Schriftsteller Franz Kafka, von dem unser Wochenimpuls stammt, kann als Meister des Abgründigen gelten. Zeit seines Lebens hat er bei seinen Eltern gelebt (und das war in der damaligen Zeit für unverheiratete Männer nicht unüblich): er hat offenbar in seiner Familie sowohl „am Abgrund“  gelitten (ein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater wird aus seinen Tagebucheinträgen als gesichert angenommen) und sich zugleich an diesem Ort Familie in besonderem Maße selbst erfahren – einige seiner Werke dokumentieren die schwierige Beziehung zu seinem Vater. Kafka empfiehlt, trotz und im Angesicht seiner eigenen Schwierigkeiten, in den familiären Abgrund zu schauen.

Wenn Menschen in belasteten Familien aufwachsen, dann empfinden sie den Blick auf ihre Herkunftsfamilie ebenfalls oft abgründig. Es kostet sie großen Mut, in den familiären Abgrund der eigenen Kindheit zu schauen. Vor allem scheint dieser mutige Blick eine Frage des geeigneten Zeitpunktes zu sein. Und erst dieser Blick, der genau wahrnimmt, was denn diesen Abgrund ausmacht, ermöglicht oftmals, wirklich zu verstehen, wer sie selbst sind und wie sie zu dem geworden sind, was sie heute ausmacht.

Was heißt das für Betroffene? Nehmen wir zum Beispiel eine Suchtfamilie: Kinder süchtiger Eltern beschreiben diesen Abgrund genauer. Atmosphäre und Familiendynamik lassen diese Familien offenbar zu Orten mit besonderen Merkmalen werden. Jede Familie ist anders und individuell, und doch zeigt der Ort Suchtfamilie typische Ortskennzeichen, die vielen Familien gemeinsam sind (nach Barnowski-Geiser 2015: Vater, Mutter, Sucht 2015):

  • Nicht-Ort: es wird so stark tabuisiert, das es angeblich keine Probleme gibt

  • Extrem-Ort: alle bewegen sich an kaum zu bewältigenden Grenzen und Extremen. Typisch sind Gefühlsachterbahnen, von denen alle so tun als gäbe es sie nicht

  • Arena: die Familienmitglieder kämpfen um die Sucht und deren Aufgabe, sie kämpfen um ihre eigenen Identität und um den Erhalt der Familie

  • Brutstätte der Sehnsucht: der chronische Mangel im „Nest“ wird Motor für eine beinahe rauschhaft anmutende Suche nach Liebe und Zuwendung, nach gesehen, gehört und erkannt werden

  • Festung oder Burg: nichts darf von Innen nach Außen dringen und manchmal darf niemand hinein, niemand hinter die Burgmauern schauen.

Nehmen wir die indianische Weisheit ernst, so werden auch Menschen aus belasteten Familien etwas von dem familiären Ort annehmen, der sie umgab:

  • Burgbewohner werden demnach ein wenig (oder mehr) versteinern, unzugänglich und verschlossen sein. Oft werden sie als Erwachsene neuerlich Geheimnisträger
  • Arenabewohner wachsen heran zu unermüdlichen, vielleicht sehr tapferen Kämpfern,
  • am Nicht-Ort-Lebende neigen im Angesicht von Schwierigem zum Verleugnen, werden „auffällig unauffällig“ in einer „Hier ist doch gar nichts!-Mentalität“
  • Bewohner der Brutstätte der Sehnsucht werden ewig Suchende nach Liebe – eine Suche, die sie oftmals auch in eigene Süchte katapultiert.
  • Extrem-Ort Erwachsene wirken oft wie Grenzgänger: Wanderer zwischen extremen Beziehungen, extremen Stimmungen, Emotionen und Lebensformen

Neurowissenschaftliche Untersuchungen belegen diese alte indianische Weisheit: unsere kindlichen emotionalen Erfahrungen werden neuronal abgespeichert, sie können zu prägenden Bahnungen im Gehirn führen. Wenn wir also ein Verständnis für uns und unser So-Sein entwickeln wollen,wenn wir begreifen wollen, warum wir genau so, in unserer Art und Weise in der Welt sin,d kommen wir, so anstrengend es scheint, kaum am Abgrund Herkunftsfamilie vorbei. Wenn wir um diesen Abgrund wissen, kommen wir weiter: wir können ihn besteigen, erkunden, umgehen, ihn nutzen, überspringen, umtanzen, vielleicht sogar überfliegen. Und auch sehen, mit welchen uns hier ebenso zu eigen gewordenen Stärken wir ihn überstanden haben.

Vielleicht nutzen Sie das bevorstehende Wochenende zum „Klarblick“ auf Ihre Herkunftsfamilie: mit dem Abstand des heute Erwachsenen. Wenn der Abgrund sie sehr ängstigt, Sie zu verschlingen droht, ist mehr Sicherheitsabstand gefordert: noch! Der ideale Zeitpunkt wird sich Ihnen eröffnen, wenn Ihre Seele zum Klarblick bereit ist! Vertrauen Sie auf die Weisheit Ihrer Seele.

Eine gute Woche wünscht

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Vater, Mutter, Sucht.Wie erwachsene Kinder suchtkranker Eltern trotzdem ihr Glück finden

Kinder suchtkranker Eltern finden wenig Beachtung.Die Sucht von Vater oder Mutter ist tabu, das Leiden der Kinder ist tabu.Das bleibt oft auch so, wenn die Kinder erwachsen werden.Mit diesem Buch wird das Schweigen durchbrochen: Betroffene kommen selbst zu Wort. Differenzierte Einblicke in die Dynamik der Suchtfamilie. Zahlreiche Anregungen und Übungen bieten Hilfestellung und kreatives Selbstcoaching nach dem von der Autorin entwickelten AWOKADO-7-Schritte-Programm. Rollenmodelle mit Selbsttest.

2.Aufl. 2019 Klett-Cotta.141 Seiten, 17€,

„Ihr Programm (AWOKADO) hält Lösungen bereit…Vielen Dank für dieses tolle Buch, das der vielschichtigen Problematik „Sucht“ und allen Beteiligten mit Respekt und Würde begegnet.

Beate Dapper musik-redaktion.Gesamte Rezension hier

Ins Ungarische übersetzt, Budapest 2018. Zur ungarischen Ausgabe Apa,Anya, Pia

Von Tabu und Täuschung

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Menschen aus belasteten Familien fühlen sich oftmals einsam und nicht zughörig. Zugehörigkeit zu finden wird dann eine bestimmende Lebensaufgabe.Oftmals haben diese Gefühle ihre Wurzeln in Kindheitstagen.Familien, die im Tabu gefangen sind, entwickeln eine eigene Dynamik.Die familiäre Wahrnehmung wird so ausgerichtet, dass das Tabu und die Täuschung in jedem Fall  aufrecht erhalten werden kann.Daran arbeiten alle Familienmitglieder mit, dieser Prozess läuft meist unbewusst ab. Besonders tragisch gestaltet er sich für all diejenigen, die sich in ihrer Familie um das Aussprechen der Wahrheit bemühen. Da sich das tabuisierende System bedroht fühlt, geraten diejenigen Familienmitglieder, die um Wahrhaftigkeit ringen, an den Rand des Systems: sie gelten als Sündenböcke, als Verräter, paradoxer Weise sogar als „nicht richtig“, „nicht glaubwürdig“. Wenn dieser Prozess über wichtige Jahre in der Kindheit anhält, wird die familiäre Fremdzuschreibung den betroffenen Familienmitgliedern zur eigenen Sicht, sozusagen zur zweiten Haut. MIt dieser Selbstzuschreibung gehen sie künftig in andere Systeme Gruppen, in Klassengemeinschaften, in eigene Familienbeziehungen usw.: ein zu schwerer kindlicher Rucksack, der kaum alleine zu tragen ist!

Vater, Mutter, Sucht – Wie erwachsene Kinder suchtkranker Eltern trotzdem ihr Glück finden.

Vater, Mutter, Kind: dieses alte Kinderspiel erfährt in Familien mit Suchtkranken eine tragische Abwandlung. Wenn Eltern suchtkrank sind, nehmen ihre Kinder einen anderen Platz ein, als es bei Kindern mit gesunden Eltern der Fall ist. Bei einem Menschen, der an einer Sucht leidet, kommt diese immer an erster Stelle. Die Sucht nimmt den Platz ein, der eigentlich den Kindern zusteht. Das Handeln des Süchtigen ist nicht auf seine Kinder, sondern auf sich und das Suchtmittel konzentriert, letzteres ist bei Suchtkranken der Dreh- und Angelpunkt. Wie und wann ist das Suchtmittel zu bekommen? Wie ist es zu vermeiden. Das sind die Fragen, die den Alltag bestimmen. Die Gedanken eines alkoholkranken Elternteils kreisen letztlich nur darum, wie er an Alkohol kommen kann, der Tablettensüchtige denkt ständig an seine Tabletten, der Drogensüchtige an seinen Stoff, der Workaholic an seine Arbeit usw. Dies bleibt nicht ohne Folgen für das System, für die Umgebung, in der Suchtkranke leben, hier vor allem für die Familien. Der Gebrauch des Suchtmittels greift in das Familienleben ein, bestimmt, wie die Mitglieder zusammen leben können oder eben auch nicht mehr.Featured image
So bekommen Kinder aus Suchtfamilien ungewollt einen Platz zugewiesen, der ihnen wenig gerecht wird. Die mit der elterlichen Sucht einhergehende Belastung wird nie mehr von ihnen weichen, denn wie eine Betroffene es ausdrückte: »Suchtkind bleibt man ein Leben lang!« Selbst wenn sie das Elternhaus schon lange verlassen haben oder der süchtige Elternteil verstorben ist: Sucht gleicht einem Zombie, der die Seelen der Kinder zu zerfressen droht – und das unbemerkt. Die Menschen aus dem Umfeld werden leicht zu Statisten, zu hilflosen Zuschauern, die unbeteiligt wegsehen, weil das Leid und die Ohnmacht zu unfassbar erscheinen, nicht begreifbar, nicht veränderbar. So sehen Erzieher/innen, Lehrer/innen und Nachbarn in der Regel untätig zu, während sich hinter den verschlossenen Türen der Suchtfamilie womöglich tagtäglich Dramatisches abspielt. Die Kinder dürfen nicht über ihr Leid sprechen, die Eltern schweigen aus Scham. Wenn sie doch mit ihrer Sucht an die Öffentlichkeit gehen, finden sie vielleicht einen Platz, an dem ihnen geholfen wird, ihre Kinder dagegen bleiben meistens selbst dann noch auf tragische Weise im Abseits.
Kommt die Sucht, wie so oft, nicht laut, sondern mehr schleichend, leise daher, wird es noch schwieriger, sie zu erkennen. Die Belastung für die Betroffenen nimmt immens zu, denn sie fragen sich, ob es diese Sucht überhaupt gibt oder gab, ob sie sich diese nur einbilden. »Ist das nicht normal, was meine Eltern da gemacht haben!«, lautet dann die Frage der Verunsicherten, oder: »Ist es nicht normal, dass Mama täglich Tabletten nimmt, die sie doch braucht!«, »Ist es nicht normal, ein paar Bier zu trinken?«, »Ist es nicht normal, auf sein Gewicht zu achten?« Oft noch als Erwachsene sind die Kinder suchtkranker Eltern tief verunsichert.

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Übung 4: Bin ich ein „Suchtkind“?

Vielleicht fragen Sie sich, ob sie selbst zum Kreis der betroffenen Erwachsenen gehören, die hier (auch im Buchtitel) angesprochen werden. Das wäre sehr typisch für die Art und Weise, wie erwachsene Kinder aus Suchtfamilien mit ihrer Kindheitsbelastung umgehen. »Suchtkinder«, wie ich erwachsene Kinder suchtkranker Eltern hier im Folgenden nennen möchte, nehmen oft grundsätzlich an, dass dieses Thema aus Kindertagen erledigt sei, und zum anderen, dass sie keine Probleme haben, oder wenn doch, dass diese Probleme (Symptome etwa körperlicher Art) nichts mit der früheren Situation in der Herkunftsfamilie zu tun haben. Dies kann ein tragischer Fehlschluss sein, mit weitreichenden Folgen für Ihre Lebensqualität…

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Zitate aus Befragungen (2008/2009; 2015) im Folgenden unkommentiert: Vielleicht finden Sie sich oder jemanden, der Ihnen wichtig ist, in diesen Aussagen wieder?

Die nachfolgenden Zitate stammen von Erwachsenen, die über mehrere Jahre mit suchtkranken Eltern gelebt haben:

„Es (das Suchtverhalten/ Anm. d.Verf.) war in unserer Familie zu einem stummen Thema geworden!“/Frau L.

„Es ging fortwährend darum, dass wir nach Außen eine perfekte Fassade lieferten – wie es mir ging, spielte keine Rolle!“/Frau I.

„… denn offensichtlich ist dieser familiäre Wahnsinn das Leben!“/Frau H.

„Wenn meine Mutter schreckliche Dinge im Suff getan hatte, taten alle so, als wäre nichts passiert!“/Frau Z.

„… ich bettle schon ein Leben lang um Liebe.“/Frau I.

„Entsetzt bemerkte ich, dass es dieses „Ich“ nicht mehr gab!“ /Frau I.

„… ich verschwinde, während ich sein Verschwinden zu verhindern suche.“/Frau E.

„Wir sind du und du bist wir!“/Frau E. zur Einstellung ihrer Mutter

Ich habe lieber, wenn etwas Schreckliches passiert! – Wenn es mal gut ist, warte ich nur auf das Schreckliche- das WARTEN ist noch furchtbarer“/Frau I.

„Vielleicht hätte ich ihn mehr lieben müssen! Dann hätte mein Vater vielleicht nicht getrunken“ (Frau S.)

„Ich tanze auf einer Hochspannungsleitung im kühlen Korsett!“/Frau P.

„Und ich war ihrer Ansicht nach schuld, dass sie immer mehr trank…“/Herr I.

Drogen waren für meine Eltern „Lifestyle“- sprach ich von Belastung wurde ich ausgelacht und als spießig dargestellt.“/Herr H.

„Bei uns zu Hause gab es gar keine Grenzen.“/Frau O.

„Ich habe oft schon Angst gehabt, bevor meine Mutter nach Hause gekommen ist/Felix

                                          „…alle Männer in unserer Familie waren depressiv…und süchtig.“ (Frau G)

„Ich kann ihm wirklich nicht die Mutter ersetzen!“ (Frau R.)

„Wir waren voll mit Gefühlen, die aus der Suchterkrankung resultierten und doch durften wir nie über unsere Gefühle reden. Gefühle waren das absolute Tabu!“/Herr I.

Wenn einige dieser Aussagen auch von Ihnen stammen könnten und sie sich zugleich schon lange fragen, ob das Verhalten ihrer Eltern mit dem Etikett „süchtig“ zu bezeichnen ist/war, dann könnten das Hinweise auf eine (möglicherweise auch verdeckte) elterliche Suchterkrankung oder andere familiäre Belastungen in der Kindheit sein. Vielfach ist die elterliche Suchterkrankung, wie Suchtkinder oftmals fälschlich annehmen, nicht nur an der konsumierten Menge fest zu machen (und auf die Kontrolle und Beweisführung wird oft viel Energie bei Angehörigen verwendet): Bedeutsamer und wirksamer für den eigenen Weg der Suchtkinder ist das Aufspüren krankmachender Familiendynamiken sowie der spezifischen Familienatmosphäre. Denn diese Dynamik und Atmosphäre kann massive Auswirkungen auf das Erleben der Suchtkinder haben, sogar wenn sie viele Jahrzehnte zurückliegt. Wenn Sie sich oftmals, (scheinbar grundlos) leer, schuldig und „unnütz“, nicht „richtig“, nicht zugehörig oder wertlos fühlen ( obwohl sie z.B. „objektiv“ viel leisten), dann kann die Wurzel dieser Gefühle in elterlicher Suchterkrankung begründet sein.Dann kann es für Sie wichtig sein, sich mit Familienatmosphären näher zu beschäftigen. Häufig stellen Suchtkinder in dieser Beschäftigung fest, dass diese negativen Stimmungen und Gefühle eigentlich gar nicht zu ihnen gehören, sondern zu ihren belasteten Eltern. Diese haben sie über Jahre während ihrer Erkrankung, meist unbewusst, an sie weitergegeben oder abgegeben (delegiert).

Zusatzanregung: Suchen Sie ein Musikstück, das erzählt, wie Sie sich eine gute Familienatmosphäre vorstellen…Lassen Sie sich Zeit: Hören Sie in den nächsten Tagen Stücke im Radio oder zu Hause bewusster aus dieser Perspektive.

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Zu Beginn meiner Tätigkeit habe ich, wie viele professionell Tätige in diesem Bereich, mit erwachsenen Kindern aus Suchtfamilien gearbeitet, ohne wirklich das Ausmaß ihrer Belastung zu kennen. In meiner Praxis, in der Schule, in Ausbildungszusammenhängen gehörte dieses Thema zu meinem Aufgabenfeld, doch ich bemerkte zunächst nicht, wie weitreichend die Folgen der elterlichen Suchtbelastung wirklich waren – ich wusste ebenso wenig darum wie die Betroffenen selbst. Erwachsene Kinder aus Suchtfamilien ahnen oftmals nichts von ihrer Belastung und deren Ausmaß, sie sprechen nicht über ihre Herkunftsfamilie, scheint das alles doch viel zu lange her zu sein. Viele wissen nicht mehr, dass ihnen etwas angetan wurde – aufgrund diffuser körperlicher und seelischer Beschwerden merken sie nur, dass irgendetwas nicht mit ihnen stimmt. Da ihnen das Ausmaß selbst nicht bewusst ist, sie zudem gelernt haben, zu tabuisieren und zu verdrängen, sprechen sie nicht über das in der Kindheit Erlittene. Betroffene lebten und leben mit Eltern, die ihre Sucht verleugnen, und so verleugnen sie selbst, was ihnen angetan wurde.

Es soll nicht etwa »Grässliches«, Schlimmes und Traumatisches, das in Suchtfamilien passiert ist, gewaltsam an die Oberfläche gezerrt oder als Sensation zur Schau gestellt werden, vielmehr wird versucht, mit Hilfe eines gemeinsamen Blicks auf die kindliche Vergangenheit, eine neue Basis für ein zufriedeneres Leben mit sich und anderen zu schaffen.

Frau L. 44 Jahre: „Ich habe eigentlich neu laufen gelernt!“
„Ich fühlte mich vor der Therapie wie in einem Hamsterrad gefangen. Alles war schwarz und grau. Ich sah und spürte nichts mehr, ich wusste weder, wo ich hinwollte, noch warum sich alles so furchtbar anfühlte – ich gab mir daran die Schuld. Jetzt fühle ich mich gut, was mir auch sehr fremd ist, da es das in meinem Leben so wenig gab. Da brauche ich immer wieder Mut, dem Neuen zu vertrauen. Ich glaube, mir hat geholfen, dass ich in der Therapie Schritt für Schritt Begleitung hatte. Ich musste bei jedem noch so kleinen Schritt Hilfe haben, ob er gerade wieder wirklich für mich stimmig ist, ob es richtig ist für mich – oder ob ich nur reagiere auf das, was andere erwarten.

Das war mühsam, aber ich empfinde nun oftmals Frieden und Freude. Ich musste von Stunde zu Stunde Wegweiser haben, um jeweils zu wissen, wie es genau weitergeht. Ich habe eigentlich neu laufen gelernt. Es haben sich neue Ziele und Blickwinkel in dieser Zeit entwickelt. Ich habe meine Belastungen erkannt und abgeworfen.

Nach meinen Erfahrungen können erwachsene Kinder, auch wenn die Erfahrungen mit süchtigen Eltern schon Jahrzehnte zurückliegen, nur dann wirkliches Verständnis für sich selbst, ihr Verhalten, ihre Gefühle und ihre Nöte entwickeln, wenn sie einen Blick auf das, was ihnen angetan wurde, wagen. Oftmals sind sie erst dann in der Lage, ihre Stärken zu würdigen und Rollenmodelle des eigenen Lebens zu verstehen – im Buch Vater, Mutter, Sucht ermöglicht ein Selbsttest darüber näheren Aufschluss. Mittels meiner Forschungen und Praxiserfahrungen habe ich das AWOKADO-Programm zusammengestellt, das Suchtkinder auf dem Weg in ein glücklicheres Leben unterstützen kann; auch professionell Tätige können es bei der Arbeit mit Suchtkindern einsetzen. Wer verdrängt, steckt fest! Wer hinschaut und aktiv wird, kann wachsen – …

Text in Anlehnung an eine Leseprobe zu Vater, Mutter, Sucht beim Klett-Cotta-Verlag.

Hilfe für die „Vergessensten der Vergessenen“ – Das AWOKADO-Hilfe-Konzept für erwachsene Kinder sucht-und psychisch erkrankter Eltern

Erwachsene aus Suchtfamilien müssen leider zu den „Vergessensten der Vergessenen“ gezählt werden. Zwei Denkfehler begünstigen dieses Vergessen:

1. Der Fehlschluss, dass die Kindheitsbelastung doch lang vorbei sei und damit im „Jetzt“, da Betroffene nicht mehr in der Herkunftsfamilie leben, ohne Folgen wäre (und nicht einmal das trifft bei vielen Erwachsenen zu, die oft ein Leben lang mit den Sucht- und psychisch Erkrankten konfrontiert sind).

2. Der Fehlschluss, dass,wenn die Betroffenen nicht von Kindheitsbelastung sprechen, auch keine Belastung vorhanden sei. Da die Kinder über Jahrzehnte in ihren Familien lernen, erkrankte Eltern zu schützen, nicht über ihr eigenes Leid zu sprechen ( es oft nicht einmal wahrnehmen zu dürfen), fehlen ihnen Worte. In Familien, die die elterliche Erkrankung tabuisieren, werden die Kinder frühzeitig zu „Burgbewohnern mit Haut und Haar“ (Barnowski-Geiser 2015). Oft erzählt allein ihr Körper oder ihre sie überfordernde Gefühlswelt, das sie bis heute schwer belastet sind: zu wirksam ist das kindliche Tabu, auch wenn Erwachsene das Elternhaus längst verlassen haben.

Zu diesen Denkfehlern gesellt sich ein großes Manko: Therapeuten, Ärzte und Pädagogen sind zu wenig bis gar nicht auf diese Klientel hin ausgebildet worden. UNd: reine INformation über diese Familien reicht als Hilfestellung nicht aus: Das AWOKADO-Konzept schließt hier eine Lücke der erlebensorientierten  Arbeit mit Erwachsenen aus belasteten Familien.

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Quelle: Klett-Cotta

http://klett-cotta.de/buch/Fachratgeber/Vater_Mutter_Sucht/55896#buch_leseprobe

Das AWOKADO-Konzept

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Mehr als zehn Jahre lang arbeitete Dr. Waltraut Barnowski-Geiser mit Kindern und Erwachsenen aus Suchtfamilien und führte zugleich im Rahmen eines wissenschaftlichen Forschungsprojektes Befragungen und Interviews durch. Ihre Fragestellung: Was hilft „Suchtkindern“, ihr Leben zum Positiven zu verändern? Die Ergebnisse ihrer Studie und Befragungen mündeten im AWOKADO-Konzept. Dieses Konzept geht über psychoedukative Arbeit hinaus: Im AWOKADO-Konzept wird, resilienzfördernd und ressourcenorientiert, das Erleben Langzeit-Betroffener fokussiert, unter Einbeziehung der Systemperspektive. Ziel ist eine nachhaltige Verbesserung der Art und Weise „In der Welt zu Sein“.

Die Anfangsbuchstaben der ermittelten Hilfefaktoren stehen dabei für:

A Achtsamkeit
Vom Kreisen um die Suchterkrankten zur Selbstachtsamkeit im „Jetzt“
W Würdigung der Belastung und Würdigung der Stärken
Hinwendung zu den eigenen Wunden und zu den gewachsenen Kräften
O Orientierung
Finden einer eigenen Weltsicht, abseits des Familientabus
K Kreativität
Schöpferische Potenziale als Quell von Lebensfreude im „Für mich sein“
A Aus-Druck
    Eine Bewegung vom Innen ins Außen; Abbau von Spannungen und Druck
D Deckung und De-Parenting
Das Erleben von Sicherheit und sicheren Zonen (Schutzräume)
O  Offenheit und Öffnung
Positive Resonanz-und Beziehungserfahrungen in Netzwerken und Hilfegruppen

Die Namensverwandtschaft mit der Frucht Avocado schien sinnfällig: gilt die Avocado doch als äußerst heilsame und wirksame Frucht, die dosiert und maßvoll einzusetzen ist.Featured image

Auf der Basis des AWOKADO-Konzeptes, das sie seit vielen Jahren in therapeutischer Praxis anwendet, entwickelte Frau Barnowski-Geiser das AWOKADO-7-Schritte-Programm zur aktiven Selbsthilfe, das AWOKADO-Stärkungsritual sowie das schulische Präventionsprojekt BEL-Kids, das sie als modularisierte Fortbildung an Pädagogen, Therapeuten und Studierende multipliziert.

Das AWOKADO-7-Schritte-Programm konnte auch erfolgreich angewendet werden bei erwachsenen Kindern chronisch und existenziell erkrankter Eltern (z. B. bei elterlicher Krebserkrankung) sowie bei Erwachsenen von psychisch erkrankten Eltern.