Trauma, Krankheit, Scham: ein ungutes Trio

Erwachsene aus belasteten Familien kennen es nur zu gut: die Vergangenheit wirkt bis ins Heute nach, ohne, dass Betroffene oft genau wissen, warum: was ist eigentlich passiert? Warum reagieren sie in manchen Situationen sonderbar, verstört, rückzüglich, ängstlich…oftmals haben sie Traumatisches erlebt. Trauma, das massive Spuren hinterlassen hat, sodass Betroffene es verdrängen mussten. Ähnliches wird eindrücklich nachgezeichnet im Film „Auf dem Grund“. Die familiären Beziehungen sind nachhaltig durch das Trauma geprägt, Krankheitsscham verhindert, um Hilfe zu ersuchen, alle in der Familie leiden: bis Protagonistin Anne ein lang zurückliegendes Familiengeheimnis aufdeckt. HIer habe ich den Film für die Stiftung „Zu-Wendung für Kinder“ unter diesen Aspekten ein wenig näher beleuchtet.

Berechtigte Hoffnung oder Irrglaube: Ist es wirklich nie zu spät für eine glueckliche Kindheit?

In dieser Woche möchte ich mit Ihnen einer wichtigen Fragestellung folgen: Kann man eine glückliche Kindheit als Erwachsener nachholen? Diese Versprechung soll zumindest den Versprechungen einiger Autoren und Seminarleitern zufolge, zu jeder Zeit einzulösen sein. Ben Furmann benannte sein Buch nach dieser Aussage…und wollte wohl vor allem Hoffnung machen. Jedoch: Wenn es möglich wäre, glückliche Kindheit nachzuholen, dann beinhaltete das doch unendliche Möglichkeiten…Vergangenes Leid wäre demnach in der Gegenwart zu verwandeln, Glück wäre machbar. Ist es wirklich nie zu spät für eine glückliche Kindheit? Machen Sie etwas falsch, wenn Sie sich aktuell nicht gut fühlen? Die Beantwortung unserer Ausgangsfrage scheint nicht leicht.

Perspektivwechsel

Ist jeder einfach seines Glückes Schmied?  Betroffene mit Kindheitsbelastungen ( im Folgenden kurz Bel-Kids genannt) gewinnen den Eindruck, einfach falsch zu denken, unfähig zu sein…oder zu sensibel…einfach „zu“: die Kette der Selbstbeschuldigungen kann unendlich fortgesetzt werden… und mündet dann oft in der Frage: Mache ich etwas falsch in meinem Leben? Oftmals stellt sich in therapeutischer Arbeit heraus, dass Eltern oder andere Menschen viel falsch gemacht haben, ihrer Sucht gefolgt sind etwa: und nicht der Belastete selbst. Um dies herauszufinden, benötigen Menschen oft Krisen: alles bricht zusammen, die alte Weise zu denken, das Wertsesystem, womöglich wichtrige Beziehungen…und nun wird die Krise zum Wendepunkt. Und damit oft zur Chance..

Auf das Maß kommt es an…

Ob „Einfach glücklich sein“ durch einen Entschluss möglich ist, ist zumindest auch maßgeblich vom Schweregrad der kindlichen Belastung abhängig. Je früher die Kindheitsbelastung einsetzte und dort womöglich frühe Traumata (tiefgreifende seelische Verletzungen) hinterließ, umso weniger können sich Menschen ausschließlich durch eine bloße Einstellungsänderung in glücklichere Menschen verwandeln. Dies zu behaupten (und das ist in bestimmten Szenen durchaus verbreitet), stellt eine große Ignoranz traumatisierten Menschen gegenüber dar. Wenn die Belastung keine tiefgreifenden seelischen Spuren hinterlassen hat, ist die Palettte des Einflußnahme größer: dann ist über den Einsatz des Willens und sogenannte kognitive Umstrukturierung (vereinfacht gesagt ein Wandeln der Denkmuster) oft ein zufriedenes und glücklicheres Leben möglich. Bei Menschen mit schweren Kindheitstraumatisierungen ist eine längerfristige Therapie meist unumgänglich: und auch diese ist längst kein Garant für ein glückliches Leben. Auch Therapieprozesse sind dann von Höhen und Tiefen gezeichnet- aber die Gesamtbilanz fällt für Betroffene in der Regel glücklicher aus.

Was bedeutet Glück?

Nehmen Sie ein paar Atemzüge Zeit… was bedeutet für Sie Glück?…Wann haben Sie sich glücklich gefühlt zuletzt?…und als Kind?…Ist Glück für Sie erstrebenswert?

Was Glück bedeutet, ist für jeden etwas anderes. In der Glücksforschung hat man herausgefunden, dass materielles Glück sich schnell verflüchtigt: wer also etwa einen großen Geldbetrag gewinnt, der kann kurzfristig mehr Glück erleben- nach kurzer Zeit pendelt sich der Gewinner jedoch auf Normalniveau ein.

Schauen wir aus philiosophischer Perspektive, so wird Glück sowohl als etwas Individuelles und als etwas Flüchtiges beschrieben. Um nach dem Glück zu suchen, muss man demnach zunächst benennen können, was glücklich macht. Als Glücksuchende brauche ich also eine Vorstellung davon, was denn Glück für mich genau ist. Um diese Vorstellung überhaupt entwickeln zu können, muss jemand glückliche Zustände erlebt haben und sie auch erinnern –  das setzt voraus, Glücksmomente auch als eben solche wahrgenommen zu haben.  Manchmal wissen Menschen mit Kindheistbelastungen schlicht nicht, wie sich Glück anfühlt – sie haben es wenig erlebt.Damit fehlt ihnen eine wichtige Voraussetzung,  glücklich zu werden: sie müssen also im Jetzt achtsam sein, was Sie angenehm, schön, bereichernd empfinden. Oft ist die kurzfristige Beglückung wenig hilfreich: ist etwas zugleich in Übereinstimmung mit dem eigenen Lebenssinn, mit dem eigenen Wesen, wird es dann besonders „glücklich“ erlebt.

Im Buddhismus geht man davon aus, dass man erst Freude und Glück  empfinden sollte, bevor man sich dem Leiden zuwendet. Wenn jemand krank ist, muss erst gestärkt werden, bevor er Schweres  erfährt (etwa das Ausmaß seiner Erkrankung). Die alltägliche Praxis der Meditation soll den Menschen darin  unterstützen. Buddha leitete an, wie man zu Freude  und Glück kommt durch die Praxis der Meditation.  Es muss erst Stärke gefunden werden, imdem man sich um Freude und Glück kümmert. Wenn man zu schwach ist, kann das Ansehen des Leides zu früh sein. Wie bei einer OP: auch hier muss das Kräftig Werden im Blick sein bevor operiert wird. Wenn man noch schwach ist, so nimmt man an, sei das Ansehen der Sorgen  zu schwierig.

„Ich achte auf mich“ statt „Ich bin für dein Glück verantwortlich“ – Loslassen, Betrauern und Selbstachtsamkeit als heilsamer Weg

Gefühle von Freude und Glück aufzubringen ist für manche alltägliche Praxis. Wie geht das? Folgt man buddhistischen Lehrern (Thich Nhat Hanh, Buddha) und christlichen Kontemplationspraktitken hat dies viel mit Loslassen zu tun. Der Buddha sagt, dass Glück hänge eng zusammen mit der Fähigkeit, loszulassen und nicht anzuhaften. Wenn man an Beziehungen und Ideen festhalte, bereite das Schmerzen. Etwas sehr Bekanntes für Menschen mit KIndheitsbelastungen: oft kreisen sie lebenslang um ihre Eltern, in der Hoffnung, dass diese doch endlich glücklich werden sollen.  Von vielem denken wir demzufolge, dass wir es nicht loslassen können, weil wir glauben, das wäre unabkömmlich für unser Glück. Oft ist gerade diese Idee loszulassen. Für Bel-Kids bedeutet dies oftmals die Aufgabe der Idee: wenn ich meine Eltern glücklich gemacht habe, werden sie mich lieben: dann werde ich selbst glücklich sein. Je mehr sie diese Vorstellung loslassen statt sie festzuhalten, um so besser scheint dann ihr eigenes Leben. Sie haben dann die Vorstellung losgelassen, das sie die Verantwortung für das Lebensglück ihrer Eltern tragen. Sie bemerken erst als Erwachsene, dass sie ein Recht auf ein gutes Leben haben; auch wenn es jemand anderem ( etwa dem erkrankten Elternteil) noch schlecht geht. Dann können eigene Bedürfnisse endlich Raum bekommen, auch kindliche Wünsche können durch den Erwachsenen, der sie im Jetzt sind, erfüllt werden. Oftmals setzt das glücklich Sein eine Zeit des Betrauerns voraus: was war nicht möglich früher, was ist nicht nachholbar?… erst dann können Betroffene  achtsam für sich selbst sorgen und sich auf einen glücklicheren Weg mit ihren verletzten kindlichen Anteilen begeben : um unsere Frage aufzugreifen. Es ist oftmals nicht zu spät für eine gute Kindheit: je schwerer die KIndheitsrefahrungen waren, umso weniger einfach ist das Nachholen.

Ich wünsche Ihnen eine erfüllte Woche mit glücklichen Momenten

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

 

 

Fehlende Kindheitserinnerungen?…wie die Seele Sie vor Schlimmerem bewahrt!

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Sie können kaum noch etwas aus Ihrer Kindheit erinnern, Bilder und Erinnerungen erscheinen Ihnen wie unter Nebelschleiern? Dann ist es möglich, dass Ihre Seele Sie durch Vergessen schützt: Vor Erinnerungen, die Sie vielleicht noch überfordern.

Viele Menschen, die in Ihrer Kindheit Belastendes erlebt haben, verfügen über wenig  bis gar keine Erinnerungen an diese Zeit. Die derart Betroffenen sind über dieses Phänomen oft verwundert. Sie glauben, einfach ein schlechtes Erinnerungsvermögen zu besitzen. Oftmals zeigt sich jedoch etwas anderes als Ursache: wenn die  Kindheit von großen oder  wiederholten seelischen Verwundungen geprägt war, dann war die kindliche Seele mit der Verarbeitung dieser als traumatisch einzustufenden Erlebnisse überfordert. Das „Vergessen“ ist dann ein kluger Schutzmechanismus der Seele. Ein Schutz und Bewaeltigungsmechanismus, der ihren Organismus auf diese Weise vor Schlimmerem bewahrt.

Im Erwachsenenalter zeigen sich manchmal plötzlich schemenhafte Bilder des kindlich,vielleicht traumatisch Erlebten, geradezu „wie aus dem Nebel“. Gerade, wenn Erwachsene die belastende Situation verlassen haben, eigentlich erstarkt sind, treten diese Phänomene auf. Warum gerade jetzt, wenn es mir eigentlich gut geht? wundern sich die derart Heimgesuchten. Ein Aspekt kann sein, dass Ihre Seele Sie gerade jetzt für reif hält, etwas Verdrängtes oder Abgespaltenes zu integrieren.Vertrauen Sie darauf, dass Ihre Seele Sie unterstützt auf Ihrem individuellen Weg! Vielleicht ist der Zeitpunkt gekommen und etwas Neues sucht seinen Weg.

„Wer leben gestalten will, muss zunächst für klare Sicht sorgen“, sagt der Redakteur Frank Berzbach in seinem Buch Die Kunst, ein kreatives Leben zu führen. Dies mag durchaus auch für erwachsene Kinder aus belasteten Familien gelten: allerdings stellt „klare Sicht“ für Sie eine hohe Herausforderung dar. Oftmals kämpfen  sie unter und hinter ihrem Nebel mit alten Schuldgefühlen. Mit Gefühlen, die wenig klar vor ihre Augen treten, da sie unter Tabus und unter der Last des Zuviel verschwommen sind. Berzbach: „Wer sich schuldig fühlt, auch wenn er nichts Böses getan hat, wird sich nicht mehr bewegen.“ Wenn Starre quälend wird, ist meist professionelle Hilfe angezeigt. Wann der Nebel sich jeweils lichten durfte, zeigte sich in der Arbeit mit Betroffenen vor allem als Frage des geeigneten Zeitpunkts.

Ich wünsche Ihnen eine farbenfrohe Woche, hinter und unter dem Grau des Regens,

Ihre

 

Waltraut Barnowski-Geiser

„Ich erwarte nichts, dann werd ich auch nicht enttäuscht!“ – Warum sich freuen für Kindheitsbelastete eine Mutprobe bedeutet

„Ich erwarte nichts!“, sagt Herr I.mit dem Brustton der Überzeugung, „dann werde ich auch nicht enttäuscht.“ Zugleich beschreibt er Gefühle von Verdruß, eine aufkommende Lebensunlust, nichts mache ihm wirklich Freude.

Menschen aus belasteten Familien, wie auch Herrn I., scheint manchmal die Freude abhanden gekommen zu sein: Wie bei Herrn I. ist dieser Freudverlust Teil einer lebenslangen Geschichte, Teil einer Biografie des schleichenden Freudverlustes. Erkrankte Eltern ( etwa diejenigen, die an einer Sucht leiden) versprechen oft Dinge und halten sie nicht ein. Zum x-ten Male verspricht die Mutter, nicht mehr zu trinken, zum Familienausflug „clean“ zu sein, das Kind zu begleiten…und wieder und wieder wird es nichts, wieder und wieder läuft die Freude ins Leere und wird enttäuscht. Machen Kinder, wie auch Herr I., diese Erfahrung wiederholt und über Jahre, ist einer ihrer Bewältigungswege, das Hoffen und Freuen einzustellen. Die wiederholt erlebte Frustration und Resignation wird gleichsam vorweggenommen, um sie nicht wieder zu erleben. Dieser Selbstschutzmechanismus geht oft einher mit einem Verlust von Lebensqualität. Erst wenn dieser Mechanismus erkannt wird, kann sich langsam die Freude einen Weg in das Leben Betroffener bahnen. Dies erfordert Mut, Mut, einer neuerlichen Enttäuschung ins Auge zu sehen, aber auch den Mut, sich auf eine andere Erfahrung einzulassen.

Gerade in den schwierigen Pandemiezeiten muessen wir selbst Freudvolles regelrecht suchen.Kreativitaet ist gefragt.Und: worauf freuen Sie sich?

Mut zu Freudigem wünscht

IHre

Waltraut Barnowski-Geiser

Heimweh, Sehnsucht und Co: Coronazeiten als Brutstätten der Sehnsucht

Corona stellt uns, wie wir hier schon einige Male beleuchtet haben, vor besondere Herausforderungen. Die Folgen der sozialen Distanzierung werden gerade erst präziser in den Blick genommen. In meiner Arbeit fällt mir auf, dass die Themen „Leere“ und „Verlorenheit“ verstärkt eine Rolle spielen im Leben der Menschen mit Kindheitsbelastungen. Manch einem kommt die staatlich erzwungene Diustanzierung zu schwierigen Eltern nicht ungelegen: und dennoch lässt sie in manch Kindheitsbelastetem ein ungutes Gefühl zurück: etwas fehlt, seit Kindheitstagen. Betroffene empfinden Leere, „Nichts“, bei genuaerem Nachforschen werden alte Wunden, Verlorenheit, mangelnde Geborgenheit, spürbar. Dieses Gefühl gleicht dem kindlichen Heimweh der Menschen, die die elterliche Nähe ein Leben lang suchten und nie fanden.

Die offene Rechnung: Kindheitsbelastungs-Heimweh

Fühlen auch Sie sich manchmal scheinbar grundlos traurig und niedergeschlagen, haben an kaum etwas Interesse, fühlen sich appetitlos im Wechsel mit Heißhungerattacken?…Sie haben das Gefühl, nicht richtig dazuzugehören, verspüren wenig Motivation zur Arbeit und auch nicht, tatkräftig etwas Neues zu beginnen? Dann kann es sein, dass sie unter chronischem Belastungs-Heimweh leiden…

Wenn kindliche Bedürfnisse nach elterlicher Liebe und Zuwendung nicht befriedigt wurden, dann scheint oft lebenslang etwas offen zu bleiben. Etwas Unbestimmtes scheint verloren. Etwas, das am ehesten mit dem Begriff Heimweh zu beschreiben ist. In der Folge richten erwachsene Kinder ihr Bemühen darauf, dieses Heimweh wegzubekommen, es von den Eltern doch noch gestillt zu bekommen oder auch, es einfach nicht mehr zu fühlen.

Viele Kinder aus belasteten Familien leiden im hohen Erwachsenenalter  an chronischem Heimweh, ohne darum zu wissen: belastete Familien sind wahre Brutstätten der Sehnsucht (zit. Vater, Mutter, Sucht, s.u.). Der Begriff Heimweh wird allgemein als Beschreibung gewählt, wenn in früher Kindheit eine Gemeinschaft verloren gegangen ist. Bei belasteten Kinder bekommt Heimweh eine andere Dimension.  Heimweh, das ich als Belastungsheimweh bezeichnen möchte, ist vielmehr bei all denjenigen vorhanden, die eine familiäre Gemeinschaft nie befriedigend erlebt haben und bei denjenigen, die sich selbst in der Suche nach elterlicher Liebe verloren gegangen sind. Belastungsheimweh ist immer auch ein Suche nach uns selbst, nach der eigenen Identität – oft einhergehend mit großer Verzweiflung.

Die junge Frau ist außer sich. Ihr Freund betrüge sie permanent, schlage sie, wenn sie ihn darauf anspreche und sie nehme diese Behandlung wieder und wieder in Kauf. Sie verstehe sich selbst nicht, Biografisches kommt ihr in den Sinn. Sie ist Tochter eines Alkoholikers und einer depressiven, tablettenabhängigen Mutter. In der Arbeit zu diesem Thema äußert sie, süchtig nach Ihrem Freund zu sein. „In meiner Familie hat das angefangen: ich bin der Liebe, die ich nicht bekam, hinterhergelaufen. Wie ein Stier hinter dem roten Tuch, so laufe  ich seitdem der Liebe hinterher!“

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„Fakenews waren in meiner Familie an der Tagesordnung“ – über Vertrauen und Misstrauen in schwierigen Zeiten

Herr K., Sozialarbeiter, 35 Jahre alt, ruft an. Er sei verunsichert. Er wisse nicht mehr, wo ihm der „Kopf stehe“. „Corona und die beruflichen Unsicherheiten machen mir Angst. Ich verliere zunhemend die Orientierung, ich weiß nicht, wem und was ich glauben soll. Was ist Fake, was muss ich ernst nehmen?“

Herr K. ist Erwachsener aus einer Alkoholikerfamilie. Viele Menschen mit diesen und anderen Kindheitsbelastungen fühlen sich augenblicklich besonders verunsichert. „In unserer Familie wusste man nie, wo man dran war, eigentlich war alles Fake – Fakenews über das Trinken meines Vaters waren bei uns an der Tagesordnung. Ja, Fake ist bis heute die Normalität bei meinen Eltern!“

Oftmals wird Menschen wie Herrn K. entgegengehalten: „Du musst einfach mehr Vertrauen haben!“ Menschen mit Kindheitsbelastungen würden ja gerne…sie kennen aus ihrer Kindheit jedoch oft so verzerrte Wahrheiten, dass sie längst nicht mehr wissen, wem und was sie glauben schenken können. Pauschales Vertrauen erscheint da wenig hilfreich, wie uns Fakenews und andere ungute mediale Entwicklungen zeigen. Auch Politiker demonstrierten in der garnicht fernen Vergangenheit teils, nicht nur in Amerika,  einen sehr speziellen Umgang mit Wahrheit und Wirklichkeit: die Wahrheit, das Eigentliche und Offizielle wird kurzerhand umdefiniert, uminterpretiert oder so gezeigt ( retuschiert), wie es der eigenen Vorstellung entspricht. Dieser Mechanismus ist Kindern aus belasteten Familien oft zutiefst vertraut: Ihre Eltern haben familiäre Geschichte genauso interpretiert, umgeschrieben oder umgedeutet wie es für sie selbst am ehesten „passte“ oder wie es, so glaubten diese Eltern, für alle am ehesten zu verkraften war: Eben  so, dass  das Familiengefüge zusammenblieb. Fakenews, alternative Fakten und andere Verzerrungen sind für Kindheitsbelastete heimatlich vertrauter Boden, ein Boden der familienspezifischen Narration (Erzählung): die Erzählung einzelner Familienmitglieder kann sehr unterschiedlich ausfallen, wie Sie es vielleicht auch aus Ihrem Leben kennen (s. Meine schwierige Mutter 2017). Diese Uminterpretation wird in manchen Familien so intensiv betrieben, dass die Betroffenen kaum noch zwischen Realität und Verzerrung unterscheiden können, weder die Erzählenden noch die Hörenden. Blind abverlangtes Vertrauen führt oft in chronische Verwirrung. „Jedes Leben ist voller Illusionen, wohl weil uns die Wahrheit zu unerträglich erscheint. Und doch ist uns die Wahrheit so unentbehrlich, dass wir ihren Verlust mit schweren Erkrankungen bezahlen.“ (Alice Miller 1997, S.11)

Warum der klare Blick sie ganz schön verwirren kann

Jahrzehntelanges Ansehen von täglicher Werteverschiebung oder Umdeutung bleibt nicht ohne Folgen: Betroffene Kinder und Erwachsene wissen oftmals nicht mehr, was richtig und falsch, was wichtig oder unwichtig ist. Für Betroffene liegt das, was sie erleben oder erlebt haben, oftmals im Nebel, im Diffusen, ist unklar und nicht greifbar. Manchmal fehlen jegliche Erinnerungen an die Kindheit, zurückgeblieben ist nur ein dumpfes Gespür, dass irgendetwas nicht stimmt, ohne dafür einen Grund benennen zu können. Das Unaushaltbare in den „Nebel des Vergessens“ zu hüllen, erscheint als not-wendiges Coping, den in der elterlichen Sucht begründeten Krisen zu begegnen. Zugleich löst dieses „Nebulöse“ Unsicherheit aus, vor allem, wenn es zum chronifizierten Erleben wird. Der Verlust des gerichtet Seins, unterdrückte Gefühle, einhergehend mit der Beeinträchtigung der Bewertungsfähigkeit, wirken verstärkend in Richtung eines sich unklar und diffus Fühlens Betroffener. Letztlich wird nicht nur das Erleben der Krise weggeblendet, sondern das gesamte Erleben in den Nebel getaucht: Betroffene beginnen vor ihren eigenen Wahrnehmungen, vor ihren ureigenen Gefühlen davonzulaufen. Oftmals äußern Menschen im therapeutischen Prozess gerade dann, wenn sie die familiäre Realität im Erwachsenenalter erstmals klar sehen: Jetzt bin ich total verwirrt! Das erscheint paradox: aber Der Verdrängungsschutz hat eingesetzt, der Klarblick unterliegt dem Tabu. Es hilft vielen Betroffenen, Verwirrung als eigenen Schutzmechanismus zu akzeptieren und würdigen.

Wie Raffaela das Glauben lernen will – ein Beispiel aus einer kreativtherapeutischen Einheit

 „Und jetzt will ich endlich glauben!“

Raffaela, 13 Jahre alte und Tochter einer drogenabhängigen Mutter, hat einen Stimmungsstein mit in die Therapie gebracht. Sie findet an diesem gerade unter Jugendlichen in Mode gekommenen Accessoire interessant, herauszufinden, welche Stimmungen sie denn habe. „Ich möchte gerne positive Stimmungen haben, die anderen lieber nicht!“, meint sie. Sie sprüht auf meine Anregung hin ihre aktuellen Stimmungen mit Gouachefarbe auf Papier und kommentiert jeweils: „Rot: Das ist meine Liebe zu verschiedenen Personen, auch zu Mama, ich freue mich, dass sie jetzt eine Wohnung nimmt, Grün ist meine Hoffnung, Lila meine Unsicherheit. Am meisten beunruhigt sie die Stelle, an der alles ineinander geht, ganz viele Gefühle und Stimmungen, die sie mit absoluter Verwirrung verbindet. „Ich weiß oft meinen Weg nicht mehr!“, sagt sie leise.  „Ich weiß nicht, woran ich glauben soll. Ich will glauben, dass Mama es jetzt schafft, trocken zu werden und dann klappt das manchmal doch wieder nicht. Und wenn andere daran zweifeln, dass Mama trocken wird, wenn andere was anderes sagen, dann bin ich total verwirrt. Ich will jetzt aber glauben, dass das klappt diesmal.“ Wir suchen in ihrem Bild nach einer Stelle für das Gegenteil der Verwirrung. Dies ist eine Stelle mit geraden Linien. „Hier weiß ich, wo es lang geht. mein Leben hat eine Richtung. Jetzt ist mal die Mama in meinem Leben dran!“ ( Sie hofft, mit ihrer Mutter wieder zusammenleben zu können, Anm. d. Verf.) Das Bild der Klarheit und des geraden Weges gefällt ihr. Sie setzt es in Klang um, trommelt. Sie hört ein spannenderes Leben, das kommen wird. Ich höre in ihrem Spiel eine hohe Dauererregung, die ich in meiner Resonanz anstrengend finde. „Das ist es auch!“, sagt sie. „Ich will gar nicht mehr runter kommen. Pausen mag ich nicht.“ Ich ermuntere sie, in ihr Spiel Pausen einzubauen, was sie tut. „Pausen schlaffen mich ab, dann komme ich nicht zurück in den Glauben. Wenn ich Zeit habe und es ruhig ist, dann habe ich Zweifel. Und jetzt will ich endlich glauben!“ Raffaela,13 Jahre aus Barnowski-Geiser 2009: Hören, was niemand sieht)

Der Weg in das Vertrauen gelingt nach meinen Erfahrungen weder über blindes Vertrauen noch über ungeprüftes Zustimmen zu teils verdrehter Welt, sondern er führt über das Ernstnehmen, der radikalen Akzeptanz des eigenen Misstrauens, durch vorsichtiges Überprüfen: Misstrauen ist ein notwendiger Prozess. Dieser Prozess braucht Zeit und Selbst-Vertrauen, Hinwendung zum Ich. Das musste Raffaela mühsam lernen – ihre Mutter hatte immer wieder schlimme Rückfälle- irgendwann konnte Raffaela das Kreisen um die Sucht der Mutter aufgeben, ihre Hoffnungen relativieren- und ihre Mutter und ihre eigene Situation realistischer einschätzen. Nur da, wo Misstrauen und Zweifeln, Hinterfragen und in Frage stellen erlaubt ist, da, wo Zeit und Muße für Abwägen ist, kann nach meinen Erfahrungen wirkliches Vertrauen, das im eigenen Grund fußt, entstehen. In der Politik und in der Familie, insbesondere in so schweren Krisenzeiten wie der augenblichen.

Und..über den Weg nach Innen zur inneren Weisheit. Vielleicht auch heute mit einer kleinen Einheit, unserer Corona-Krisen-KreativChallenge, für Sie

Corona-Krisen-KreativChallenge Klingender Kraftort

Suchen Sie einen Ort, an dem Sie ungestört sind. Gehen Sie mit Ihrer Achtsamkeit zu Ihrem Atem…lassen Sie sich Zeit, in sich anzukommen…wenn Sie mögen, stellen Sie sich nun vor, dass Sie mit jedem Ihrer Ausatemzüge ein Stück näher zu Ihrem Inneren reisen, zu Ihrem inneren Kraftort…wie sieht es hier aus, welche Farben und Formen gibt es hier, welche Klänge?…Gestalten Sie diesen, suchen sie anschließend ein für Sie passendes Musikstück… spielen Sie es mehrmals, hören Sie es „mit dem ganzen Körper“

Neue Resonanzerfahrungen können bei alten Wunden verdammt Gutes bewirken – und da ist Musik ein echter Schatz…aber dazu vielleicht in den nächsten Tagen mehr. Wozu würden Sie gern etwas mehr erfahren, was können Sie noch gebrauchen, gerade in dieser Zeit? Lassen Sie es mich wissen, gern auch wieder über die Kommentarfunktion oder das Kontaktformular.

Lassen Sie es sich so gut wie eben möglich gehen -,

herzliche Grüße

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Wider den Weihnachtswahn: Notfallgedanken für Festtage mit schwierigen Angehörigen

Gerade, wenn der Frieden in der Welt bedroht scheint, wird die Sehnsucht nach einem friedvollen Ort unendlich groß: ihre Familie, so wünschen die meisten Menschen, sollte ein solcher Ort sein. Ein Ort, an dem sie geliebt werden, so wie sie sind, ein Ort, an dem sie sich wohlfühlen können, wo Resonanzen aufrichtig schwingen, ein Ort, an dem Frieden wohnt. Waren und sind jedoch die Beziehungen zu den Eltern schwierig und stark 20160117_132431belastet, sogar mit Leiden angefüllt, dann wird der Besuch dieses Ortes oft als Gegenteil  erlebt: als Kriegsschauplatz etwa oder als ungeselliger rauer Ort,  an dem, so beschreiben es Betroffene, man keine Luft bekomme, die Atmosphäre  wie zum Zerreißen gespannt sei etc. Gerade Festtage, wie das bevorstehende Weihnachtsfest, die gemeinhin für Gemeinsamkeit in Harmonie stehen, können dann zu einer großen Belastung werden. Insbesondere, wenn bereits schwere Wunden entstanden sind, werden die anstehenden Begegnungen nicht als Freude, sondern als schwere Lasten empfunden. Betroffene fühlen sich gefangen in einem Hamsterrad der offenen Rechnungen Mehr lesen

Was Betroffene  bei Feiertagsbegegnungen mit ihrer belasteten Herkunftsfamilie in Therapien als hilfreich beschreiben, habe ich für Sie in 5 Punkten zusammengefasst: (diese Hilfen sind allerdings nur dann erfolgreich, wenn die Situation nicht völlig verfahren ist)

1 Klar sehen und Akzeptieren

Schon zum 1. Schritt gehört viel Mut: Akzeptieren Sie und sehen Sie klar, dass Ihre Herkunfts-Familie genau so ist wie sie ist. Ihre Einflussmöglichkeiten sind begrenzt. Reden Sie sich die Situation nicht besser oder schöner als Sie ist (und dramatisieren auch nicht unnötig, indem Sie in die Hilflosigkeit Ihrer Kindheit zurückfallen), um dann wieder und wieder Ungutes zu erleben, etwa wieder von einem Elternteil „angefallen“ zu werden: eigentlich wissen Sie, worauf Sie sich einlassen und können heute vorbauen. Einen besseren Experten für Ihre Familie gibt es nicht: nutzen Sie Ihre Expertise, werten Sie Ihre Erfahrungen aktiv aus! Durchblick kann Sie schützen.

2 Dosieren

Fragen Sie sich vorher: Wieviel Zeit kann ich in meiner Herkunftsfamilie zubringen, ohne  im Anschluss „völlig auf dem Zahnfleisch zu gehen“?…Dann ist es gut möglich, dass Sie bei ehrlicher Antwort nur zwei Stunden statt zwei Tage verkraften. Sorgen Sie für eine angemessene Dosierung oder mindestens für Auszeiten, in denen Sie „raus“ sind, etwa allein spazieren gehen,o.ä.

Auch vielleicht schon lange anstehende Großkampf-Auseinandersetzungen sind selten ein passendes Feiertagsprogramm…

3 Verbinden

Verbündete suchen, mit denen sie sich austauschen können, vorher und nachher oder auch am Telefon während des Besuches. Schauen Sie, mit wem Sie angenehmen Kontakt erleben, vielleicht mit den Kindern Ihrer Geschwister…Sie können heute bestimmen, wem Sie sich verstärkt zuwenden möchten. Wählen Sie nach Möglichkeit Menschen aus, die im Rahmen des Möglichen gut tun. Sind Sie allein mit einem schwierigen Elternteil, so kann es sinnvoll sein, Telefonverbündete vorher zu informieren und Kontakt im Dazwischen sicherzustellen…

4 Distanzieren

Aktivieren Sie Ihren inneren Beobachter, so wie Sie es in Meditationen und Kontemplationen auf diesen Seiten schon geübt haben.Eine wichtige Brücke dabei ist die Konzentration auf den eigenen Atem. Wenn Sie merken, dass  Sie sich unwohl fühlen, gehen Sie mit Ihrer Achtsamkeit zu sich selbst und verankern sich in Ihrem Atem. Kreative Menschen nutzen solche Situationen teils, um sie später als Geschichten zu schildern…manche Satire konnte so entstehen…auch Humor und ein humorvoller Blick kann eine  Distanzierungshilfe sein.

5 Umgestalten

Aktiv neu gestalten: Neue Feierformen ( etwa mit Freunden und Familie gemeinsam feiern oder an einem anderen Ort, an ungewöhnlicher Location), die ihnen mehr entsprechen.. Dies zeigte sich als ebenso hilfreich wie das Verändern von alten unguten Verhaltensweisen. Wenn Sie sich in ihrer alten Rolle und einem Familien-Muster gefangen fühlen ( „Du hast doch immer gute Laune!“ und dabei immerzu „schlucken, um harmonisch sein“..) kann es ein erster Schritt sein, ein bisschen anders zu agieren, auch mal zu zeigen, wenn Ihnen etwas nicht passt. Hier kann auch helfen, ein inneres Team zu aktivieren. Kleine Dinge können verändernd wirken: legen Sie Musik auf, die sie gern mögen, unterhalten Sie sich mit einem Familienmitglied, mit dem es sonst kaum möglich scheint

Natürlich kann in bestimmten Fällen ( insbesondere wenn die Eltern kooperations-und bindungsfähig sind) Ihre Einstellung, mit der Sie an den Besuch herangehen, einen wichtigen Beitrag leisten, etwa indem Sie Erwartungen von vorneherein reduzieren und Enttäuschungen vermeiden. Herr N., 32 Jahre, erzählt:

Ich weiß jetzt, dass ich nie die emotionalen Eltern haben werde, die ich mir gewünscht habe, aber ich bin dennoch dankbar für die Versorgung und das, was sie mir als kleines Kind, bevor ihre psychischen Probleme und Ehestreitigkeiten überhand nahmen,  gegeben haben. Ich werde versuchen, mit diesen sozialen, versorgenden Eltern in Kontakt zu bleiben – seit ich meine emotionalen Erwartungen an meine Eltern aufgegeben haben, empfinde ich nach einer Phase der Trauer nun endlich inneren Frieden.“

Ein Hinweis zum Schluss für traumatisierte Erwachsene: Wurden Sie durch Ihre Familie  traumatisiert, so muss ein Besuch äußerst gut überlegt, vorbereitet und dosiert sein: körperliche Symptome und psychische Gereiztheit sind dann oftmals Belastungssymptome, die sich unter Kontakt mit den Menschen, die ihnen Schlimmes angetan haben, verständlicher Weise verstärken. Dann gilt es, Ihre Symptome zu verstehen und übersetzen, sich ihrer anzunehmen anstatt sich zu bezichtigen, „unnormal“ zu sein.

Ich wünsche Ihnen gute, sinnerfüllte und friedliche Weihnachtstage.

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

I

„Die eigene Würde retten!“ – von der Suche zwischen Wahrheit, Tabu und Lüge

Würde (so wie auch Würdigung und Wertschätzung), scheint, schauen wir auf manch eine belastete Familie, die über Jahre und Jahrzehnte eben ihren schweren Belastungen ausgesetzt war, oft leise und still, gleichsam klamm-heimlich verloren gegangen zu sein. Würde gleicht hier in diesen Familien einem Fremdwort, mit dem man nicht mehr viel anfangen kann, dass man sich, so scheint es, kaum leisten kann; beinahe scheint es Kindern nach vielen Jahren so, als würde sie den Menschen hier in ihrer Familie nicht einmal zustehen: die Ent-Würdigung ist zur Selbstverständlichkeit geworden. Was süchtige Menschen beispielsweise teils ihren Familien antun, überschreitet oft jede Grenze, oft auch jedes Vorstellungsmaß… und dabei denke ich nicht nur an körperliche Gewalt, sondern auch an verbale Dauerattacken, Kämpfe rund um das Aufrechterhalten des Tabus, das Ringen um Normalität, die beständige Suche in Sucht etwa, die die Angehörigen zu Statisten eines schleichenden Selbstmords degradiert… und das oftmals jahrzehntelange vergebliche Ringen auf Seiten mitbetroffener Kinder und Partner, doch noch gesehen und geliebt zu werden. Um diese Liebe zu bekommen, glauben diese erwachsenen Kinder, dass sie sich verbiegen müssten: Preis ist ihre eigene Würde, die sie zu verlieren drohen oder zumindest Teilaspekte derselben…die Selbstachtung nimmt schleichend Schaden.

Herrn M.s Mutter, so findet Herr M heraus, übersteht den Narzissmus und die Sucht des Vaters über Jahrzehnte, indem sie ihn einfach anders sieht als er ist. Nicht süchtig eben, sondern einfach großartig. Alles, was zu dieser, ihrer Wahrheit nicht passt, schneidet sie aus ihrer Wahrnehmung; sogar so weit, dass sie Menschen, die ihre Wahrheit als Lüge zu entlarven drohen, aus ihrem Leben verbannt. Anstatt ihre Sicht auf ihren Ehemann als Lüge zu sehen und in Frage stellen zu müssen, stellt sie diese Menschen, die Überbringer der „Wahrheit“ oder Realität, als Lügner hin. Herr M. erwartet, das seine Mutter dies endlich eingestehe, denn ihr Verhalten sei unter aller Würde: die Aufdeckung der familiären Wahrheit brauche er, so findet er heraus, um sich seinen letzten Funken von Würde zu bewahren. Er wolle nicht weiter, wie Jahrzehnte zuvor, mitspielen und heile Welt vorgaukeln. Gespräche mit seiner Mutter laufen erfolglos: immer deutlicher wird Herrn M., dass seine Mutter so stark in ihrer eigenen Identität verunsichert ist, so bindungsschwach und abhängig, dass eine realistischere Sicht auf den Vater ihr gesamtes Lebenskonzept erschüttern würde. Wenn der Sohn ihr diese weiter abverlange, werde sie eher den Kontakt zu ihm abbrechen, vermutet er…diesen Kontaktabbruch erwägt Herr M., wie er sagt selbst schon länger, um seine Würde nicht weiter zu beschädigen, er will endlich „die eigene Würde retten!“.

Viele chronisch belastete Familien stecken in einer Abhängigkeitsfalle, in der Wahrheit und Würde geopfert werden. Ein Ausweg scheint nicht in Sicht, solange die einzelnen Familienmitglieder nicht in der Lage sind, Hilfe zu suchen und mit Klarblick eigen-ständig schauen zu können. Es braucht Kraft, die Verblendung wirklich anzuschauen. Den Würdeverlust wahrzunehmen, ihn anzuschauen ist für Kinder aus belasteten Familien oft der 1. Schritt auf dem Weg zur Veränderung des eigenen Lebens. Dies erfordert Stärke, die oftmals nach jahrzehntelangem Kampf nicht mehr vorhanden zu sein scheint. Oftmals sind Lebenslügen und Verblendung Teil der Identität geworden, die Verstrickung bestimmt mehr und mehr über die einzelnen Familienmitglieder, ihre Sicht auf sich selbst, auf die Familie und die Welt.

„Die Würde scheint uns weniger bedroht, wenn die Lüge wegen der Größe der inneren Gefahr verzeihlich ist, wie bei einer verleugneten tödlichen Krankheit oder beim Eingeständnis einer Unfähigkeit, die für das Selbstbild vernichtend wäre. Dann denken wir: das kann man von niemandem verlangen. Lebenslügen… sollten nur dann als würdelos beurteilt werden, wenn dem Betreffenden die Stärke zugeschrieben wird, ihrer Auflösung standzuhalten.“ Bieri, Eine Art zu leben, S.226

Eigen-ständig Denken wird in belasteten Familien oft als Bedrohung wahrgenommen, die mit Ausschluss belegt wird: oft ohne Worte liegt die Ausgrenzung doch drohend in der Luft, ist Teil einer unguten Atmosphäre, Teil des familiären Klimas geworden.Wir kommen in der Arbeit mit familiendynamischen Aspekten immer an ethische Fragestellungen, mit denen viele erwachsene Kinder, oftmals Tag und Nacht, und doch wenig bewusst, befasst sind.

Vielleicht halten Sie kurz inne und schreiben etwas zu den nachfolgenden Fragen:

  • Welche Werte sind in Ihrer Familie bestimmend?
  • Und für welche Werte möchten Sie eintreten?
  • Was bedeutet für Sie Würde und was braucht Ihre Würde?
  • Für wen stellen diese Ihre eigenen Vorstellungen eine Bedrohung dar?

Der Philosoph Peter Bieri hat ein  Buch über die Vielfalt der Würde verfasst, das ich all denjenigen unter Ihnen empfehlen mag, die über schnelle Lösungen hinaus interessiert sind,  gern tiefer schauen…auch wenn sich das Buch nicht speziell auf belastete Familien bezieht und somit einen Transfer auf die eigene Situation erfordert, halte ich es für diese unsere Zielgruppe lohnenswert.

Eine Art zu leben

 

Eine gute Zeit

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

 

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„Ungewollt“- wie eine elterliche Beziehungswunde aus Kindheitstagen die Beziehung zu (erwachsenen) Kindern belasten kann

„Ungewollt“ sein oder auch sich „ungewollt“ fühlen muss, wenngleich oftmals ins Reich des Unbewussten und Tabuisierten verdammt, zu den existentiell bedeutsamen Gefühlen gezählt werden: sich von einem Einzelnen oder einer Gruppe nicht gewollt zu fühlen, wird meist schlimm erlebt; besonders schwer wiegt dieses Gefühl jedoch, wenn es im Zusammensein mit den eigenen Eltern auftritt, also im intimen Raum der sozialen Erfahrungen, im Raum der frühkindlichen Begegnung. Was passiert eigentlich, wenn aus ungewollten Kindern Eltern werden? Dieser Frage möchte ich in diesem Blogbeitrag nachgehen, in der Hoffnung, Ihnen einen Weg aus ihren elterlichen Verstrickungen anbieten. Denn: Bleibt diese Beziehungswunde, die teils wie ein Trauma angesehen werden muss, unentdeckt, so droht sie durch die Generationen als transgenerationale Belastung weitergegeben zu werden. Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern zeigt sich durch diese Wunde dann nachhaltig und oftmals schwer belastet. Gerade zu den Feiertagen wie etwa dem Weihnachtsfest, wenn alle Welt zumindest medial von familiärer Harmonie durchtränkt zu sein scheint, drohen diese Wunden im besonderen Maße aufzubrechen

Herr K., erfolgreicher Manager in mittlerem Lebensalter fühlt seit längeren eine große unbestimmte Wut, die er, wie er beschreibt, wie hinter einem Nebel erlebe und erfolgreich unterdrücke, aber er leide auch unter permanenten Magenproblemen – diese Selbstbeobachtungen bringt er miteinander in Verbindung. Ihm wird deutlich, dass dieses Gefühl und die Symptome inbesondere bei Kontakten zu seiner hochaltrigen Mutter aufträten – und das finde er von sich selbst „einen ungerechten Zug, da er die Mutter doch eigentlich lieben und ehren müsse“. In einer einfühlenden Identifikation, in der er sich sozusagen kurzzeitig in die Fußstapfen seiner Mutter begibt, bemerkt er, dass die Mutter eine recht sonderbare Logik habe. Sie verdrehe alles. Werde ihr von Herrn K. geholfen, sage die Mutter, sie wäre doch gerade wieder für ihn dagewesen.

In der einfühlenden Identifikation ( nach Barnowski-Geiser/Geiser Heinrichs: Meine schwierige Mutter) bemerkt er, die Mutter fühle sich in ihrer Herkunftsfamilie von Beginn ihres Lebens an ungewollt ( sie war wohl kein Wunschkind, erinnert Herr K. und störte die enge elterliche Beziehung der Großeltern durch ihr Entstehen). Diese Wunde, die die Mutter tief in sich trage, dürfe niemand bemerken. Die Mutter selbst tue so, als habe sie diese Wunde nicht, und bewältige diese, indem sie sich als „dauernd gewollt“ und „äußerst beliebt“ beschreibe. Die Mutter sitze beispielsweise wartend vor dem Telefon, ob jemand anrufe. Wenn sie dann abhebe, gäbe sie sich vielbeschäftigt und würde ihm vermitteln, dass er Glück habe, dass er sie überhaupt „erwische“. Das Verhalten der Mutter mache ihn zunehmend „kirre und wütend“. Wenn er ihr Zeit schenke, äußere sie, dass er es nun aber „wieder gut gehabt“ habe.  Herr K. fühlt sich in der Falle: spielt er die verkehrte Welt der Mutter weiter mit, bekomme er „Turbo-Aggressionen“ oder „ein Magengeschwür“, äußert er; wenn er sie konfrontiere, weine sie und er fühle sich ihr gegenüber gemein und schuldig.

Wenn frühe Beziehungswunden Regie führen, kann es lohnenswert sein, der inneren Logik des Elternteils nachzugehen. Oft tritt dann Überraschendes zutage. Herr K. fühlt sich durch seine Einsichten über die innere Logik seiner Mutter erleichtert, weil er entdeckt, “ dass meine Mutter das ja nicht macht, um mich fertig zu machen“. Ihr eigenes Empfinden, „ich störe“, gibt sie nun durch ihre Bewältigungsversuche der Verschleierung an ihren Sohn weiter. Bleiben die aus der elterlichen Wunde erwachsenen logischen Verstrickungen und die damit verbundenen Bewältigungsversuche ( Copings) unerkannt, zeigt sich die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, gerade auch im Erwachsenenalter, schwer belastet. Kinder, die ein Leben lang auf die Bedürftigkeit der Eltern eingegangen sind (s. Meine schwierige Mutter), fühlen sich zurecht im Erwachsenenalter  zu kurz gekommen und um den Dank für ihre Fürsorge an die Eltern betrogen. Da die betroffenen Eltern meist ihre Wunde verbergen, verbergen sie auch ihre Bedürftigkeit und interpretieren in der Folge ihre eigenen Vertuschungshandlungen als Hilfe geben statt nehmen um ( Herr K. hat es angeblich gut durch die Mutter, Herr K. wurde Zeit geschenkt) – verkehrte Welt…Oftmals zeigen scheinbar selbstlose Handlungen, denen eine große Bedürftigkeit oder auch ein Machtanspruch zugrunde liegt, gerade Frauen aus der Kriegs-und Nachkriegsgeneration, denen auch ein entsprechendes Frauenbild vermittelt wurde.

Sehen Kinder sich genötigt, über lange Zeit mitzuspielen, drohen körperliche Erkrankungen und/oder Beziehungsabbrüche.

Wenn auch Sie diese elterlichen Probleme aus Kindheitstagen kennen, kann es ratsam sein, einmal in die „Schuhe“ der Eltern zu treten, innere Logik zu ergründen – manchmal wird Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern dann, insbesondere, wenn die entdeckten Wunden besprechbar werden, anders und besser möglich. Herr K. fühlt sich klarer, „der Nebel hat sich gelichtet“:

Ich wünsche Ihnen eine gute Woche…vielleicht mit neuen Einsichten,

herzliche Grüße

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Mutmacher für Krisenkinder: Wie elterlicher Dauerstress in der Kindheit unser Hirn als Erwachsene beeinflusst und was wir dennoch tun können

Text in Anlehnung an: Meine schwierige Mutter/2017.

Krisenkinder

Die schlechte Nahricht, die Ihnen als Betroffene sicher bereits bekannt ist, vorab: Kinder, die dauerhaft Krisen  ihrer belasteten Familien ausgesetzt sind, können massive Folgen davontragen; diese Folgen sind teils messbar an ihrem Serum-Cortisolspiegel und in Hirnstrukturen,  können sie doch neuronale Strukturen des Hippocampus, der Amygdala sowie des Corpus Callosum zerstören. Verursacht werden zum Teil organisch begründbare Regulationsstörungen, später auch komplexe Störungen von Lernen, Emotionen und Verhalten (Trost 2003). Auch wenn dieser Zusammenhang von neuronaler Schädigung für betroffene Kinder in quantitativen Untersuchungen noch nicht hinreichend untersucht ist, muss vermutet werden, dass Gehirne von Kindern aus belasteten Familien durch das emotionale Klima ihrer Familien stark geprägt sind. Es steht zu befürchten, dass lang andauernde wiederholte Belastungen der familiären Umwelt neuronal entsprechend verankert werden und diese‚ emotionalen Straßen’ auch dann aufgesucht werden, wenn es nicht mehr von Nöten ist. Dies zeigte sich bei denjenigen erwachsenen Personen, die bis ins hohe Alter keine Auflösung des familiären Tabus erfahren hatten, bei denen sich etwa Suchtbelastung durch etliche Jahrzehnte zog und auch im Erwachsenenalter lebensbestimmend blieb. Es scheint in diesem Fall schwer zu sein, eingefahrene Hirnstraßen zu verlassen (etwa die der Angst und Ohnmacht) und neue Straßen (Freude,Hoffnung etc.) zu befahren. Damit kann ein wesentlicher Faktor zur Orientierung in der Welt durch das familiäre Erleben maßgeblich negativ beeinflusst werden. Sogar genetisch scheinen diese Erfahrungen Spuren zu hinterlassen (In jüngerer Zeit wurde an Mäusen nachgewiesen, dass die Gene bei Nachkommen traumatisierter Mütter in Mitleidenschaft gezogen waren; sie zeigten sich als weniger Stressresistent und verzweifelter in eigenen Krisensituationen). Muss ich das wissen, denken Sie nun vielleicht, das ist doch nur traurig. Ich finde, ja, sie sollten sich mit diesen Dingen auseinandersetzen, um sich selbst ein Stück besser zu verstehen. Erst, wenn wir verstehen, warum wir wurden, was wir sind, können wir einen ZUgang zu unserer wahren Identität bekommen: im anderen Falle, wenn wir Altes nur unerkannt abspalten, drohen wir uns selbst fremd zu bleiben.

Hirne sind nutzungsabhängig: warum Kinder mit familiärer Belastung leicht ängstlich werden

Schauen wir weiter aus neurowissenschaftlicher Perspektive. Versuchte Erklärungen müssen im Angesicht der hochkomplizierten  Vorgänge in unseren Hirnen unverschämte Vereinfachungen bleiben…versuchen wir dennoch eine Annäherung: Außenwelt hinterlässt Spuren in der Innenwelt. Neurologisch spricht man hierbei von inneren Repräsentationen der Außenwelt. Auch die Repräsentationen unserer Gefühlswelt (neurowissenschaftlichen Untersuchungen u.a. von Braun, Spitzer) spiegeln  erlebte Erfahrungen. Unsere Gefühlswelt ist erlernt, vor allem in sozialer Erfahrung. Befinden, Stimmungen und Gefühle sind bei Kindern aus belasteten Familien stark in Mitleidenschaft gezogen. Kinder lernen etwa: „Wenn Papa trinkt, gibt es Ärger für mich!“ Wird diese Erfahrung wiederholt gemacht, wird diese Erfahrung auch neuronal verschaltet: sie bildet eine Hirnspur. Je öfter diese Erfahrung gemacht werden, umso tiefer gräbt sich diese Spur im Hirn ein, sprich: Kinder entwickeln Ängste ( eine Hirnautobahn „Angst“) und weitere mit diesem Erleben verbundene Gefühle werden nutzungsabhängig verschaltet. Aus dem Kind, das in einer Szene Angst hat, wird bei dauerhafter Wiederholung, leicht ein überängstliches Kind: insbesondere dann, wenn, wie oft in tabuisierenden Familien, das Gefühl des Kindes nicht benannt und besprochen werden darf, das Kind folglich keine angemessene Unterstützung in Form von Trost oder Halt erfährt. Das Befinden Betroffener wird durch dieses kindliche Krisenerleben geprägt, das Gehirn entsprechend gebaut – auch als Erwachsene, wenn das Elternhaus längst verlassen wurde, sind diese grundlegenden Verschaltungen angelegt. Es ist also nachvollziehbar, dass ein in der Kindheit entsprechend „verschalteter“ Erwachsener, der die Spur Angst zu einer regelrechten Autobahn im Kopf entwickelt hat (Formulierung in Anlehnung an Hüther), auch als Erwachsener schnell auf eben dieser Autobahn landet. Denkweisen, Selbstbild, Körpererfahrung usw. sind neuronal verschaltet: sie bilden ein Erlebens- Panorama im Jetzt, das im familiären System erlernt wurde.

Unterwegs auf der Hirnautobahn Gefühl

Gefühle sind neuronale Repräsentationen „Wir werden oft von den Gefühlen unbemerkt gesteuert.“ , sagt der Hirnforscher Spitzer schon vor einem Jahrzehnt. Emotionen bieten Kindern Orientierungshilfe beim Zurechtfinden in einer komplizierter werdenden Welt. (Spitzer 2003) Werden anstehende Probleme angemessen gelöst, stellt sich ein gutes Gefühl ein, das sich im Gehirn verankert. (Hüther 1999) Je früher diese Verschaltung erfolgt und je häufiger sie bei Belastungen und Herausforderungen aktiviert wird, umso stärker ist der Bahnungsprozess im Gehirn. Welche Verschaltung zu einem Gefühl gebahnt wird, hängt von subjektiven Empfindungen ab. „Mit jeder erfolgreich bewältigten Belastung, jeder bestandenen Herausforderung wird unter dem Einfluß der bei der kontrollierbaren Streßreaktion stattfindenden Aktivierung des noradrenergen Systems das jeweils empfundene Gefühl in Form von bestimmten dieser Empfindung zugrunde liegenden neuronalen Verschaltungen im Gehirn verankert.“ (Hüther 1999, S.69) Aber auch Belastendes und wiederholt nicht Bewältigtes wird im Gehirn als Trampelpfad abgespeichert. „Emotionale Verunsicherung führt zur Aktivierung limbischer und anderer stress-sensitiver neuro-endokriner Regelkreise und zwingt das Kind, nach geeigneten Strategien zur Wiederherstellung seines emotionalen Gleichgewichtes zu suchen. Einseitige, unbalancierte Bahnungsprozesse führen zwangsläufig zu defizitären Entwicklungen in anderen Bereichen (Wahrnehmung, Motorik, Lernverhalten, Motivierbarkeit, Sozialverhalten). (Trost 2003, S.60) Auch wiederholte Traumatisierungen wirkten nachhaltig destabilisierend auf die neuro-endokrinen und vegetativen Regelkreise.

Gefühle zwischen Ich und Du

Gefühle entstehen im sozialen Raum: Kinder und Erwachsene aus belasteten Familien fühlen nicht an sich, ängstigen sich nicht an sich, sind nicht an sich leer, schuldig, sondern ihre Gefühle sind Repräsentanten und zugleich Träger ihrer sozialen Beziehungen, sprich ihren belasteten Eltern oder Geschwister.

Gefühle werden in einer leibtherapeutischen Sicht sowohl in ihrer Leiblichkeit in Bezug aus Körper, Seele und Geist angesehen, als auch in ihrer Räumlichkeit aufgefasst, in letzterer insbesondere in ihrer Rückbeziehung auf das Subjekt. Psychiater und Leibphilosoph Thomas Fuchs: „Wie beim Tasten (‚Fühlen’) Empfinden und Selbstempfinden ineinsfallen, so ist das Gefühl als Gegenstandsbeziehung zugleich ein Selbstverhältnis, also Fühlen und sich-Fühlen in einem (sich fürchten, sich schämen, sich freuen). Die Furcht oder Angst vor (…) bedeutet auch Furcht oder Angst um mich selbst oder mein Leben. Die Scham vor den anderen ist zugleich die Scham über mich. Im Gefühl ist das Selbst sich nicht gegenständlich, als sein eigenes Objekt, sondern zuständlich, erleidend gegeben, als Subjekt affektiven Betroffenseins.“ (Fuchs 2000) Es lässt sich folgern, wie die sogenannte Zwischenleiblichkeit wirken kann: Betroffene aus belasteten Familien können innerlich derart verwoben sein mit erkrankten Angehörigen, auch und gerade in der Entwicklung ihrer eigenen Gefühlswelt, dass kaum noch eine Unterscheidung zwischen Ich und Du erlebt wird, weder leiblich noch räumlich. Die Gefühle der Eltern wabbern als Atmosphären in den Raum, für die Kinder kaum noch unterscheidbar, wo ihre eigenen Gefühle anfangen, wo sie teil einer Atmosphäre sind. „So werden Gefühle auch zu Indikatoren für die Qualität der Beziehung, in der die anderen Menschen und die Sachverhalte unserer Welt zu uns selbst stehen.“ (Fuchs) Es entsteht ein typischer Schwingungsraum zwischen Eltern und Kindern. Die gelungene oder misslungene Affektabstimmung und der Aufbau von Gefühlen ist maßgeblich für den Aufbau von weiteren Beziehungen. „Gefühle werden im Ausdruck, als Ausstrahlungen, Gesten und Handlungen ‚entäußert’, um so ihrerseits Gefühle in anderen zu induzieren. Ohne dass wir und dessen immer bewusst wären, wirken umgekehrt die Gefühle und Haltungen der anderen ständig auf unsere eigenen ein. So bilden Gefühle einen Raum mannigfaltiger Schwingungen, die sich ausbreiten und ein Eigenleben entwickeln, obwohl sie doch zugleich das persönlichste in uns sind.“ (Fuchs 2000) Also vereinfacht: was wir an Beziehungserfahrung gemacht haben, das wohnt in uns und das geben wir auch in irgendweiner Weise an andere weiter.

Tabu, Geheimnis, Gefühl

Wenn das, was Kinder aus belasteten Systemen bewegt, nicht besprochen werden darf,  nicht nach Außen dringen darf, verstärkt das Stress und Belastung. Zudem verfestigt sich eine Spaltung zwischen  innerem Erleben und dem nach Außen Gezeigten. Viele Kinder können folglich irgendwann nicht mehr unterscheiden, was sie im Angesicht der familiären Tabuisierung fühlen sollen und was sie tatsächlich erleben und fühlen. Gefühle werden zu Leerstellen des Erlebens oder mutieren zu diffusen Grundstimmungen. Dies kann zu einem chronifizierten schlechten Befinden führen, das sich die Betroffenen selbst nicht erklären können. Die erzwungene Verleugnung ihrer realen Lebenssituation (etwa die Drogensucht der Mutter) geht in der Regel so weit, dass sie sich sogar vorwerfen, sich grundlos schlecht zu fühlen. Dieses auf den ersten Blick paradox erscheinende Phänomen ist jedoch bei genauerer Sicht auf die belastete Biografie nachvollziehbar.

Stress und Krankheit

Viele kennen es aus eigener Erfahrung: Man wird zur anstehenden Prüfung nicht krank, aber kurz danach. Interessante Erkenntnisse hierzu liefert die Psychoneuroimmunologie: In der Stresssituation selbst ist ein Hochfahren des Systems erforderlich, eine Aktivierung des Immunsystems erfolgt. Ein Schutzsystem wird aufgebaut, da Entzündung  nun gefährlich wäre. Es erfolgt eine Corstisolausschüttung im Körper. Cortisol supprimiert die zelluläre Immunaktivität, die uns vor viralen Infekten schützt. Und so findet man der Harvard University Zusammenhänge: bei Überforderung und Stress fordert das Zwischenhirn an, in den Nebennieren Adrenalin zu produzieren. Es erfolgt also eine Verteidigung auf körperlicher Ebene, Erregung wird gedämpft. Chronischer Stress dämpft in der Folge Immunabwehr und zelluläre Abwehr. Folge waren eine Reihe von Anfälligkeiten: die Versuchspersonen zeigten sich  Grippe-und Herpesanfälliger, anfälliger für Neurodermitis-und Autoimmunerkrankungen sowie Allergien. Dies konnte auch an Kindern stressbelasteter Mütter nachgewiesen werden.Man fand beispielsweise Zusammenhänge zwischen traumatischen Erfahrungen im Kindesalter und Rheumaerkrankungen im Alter. Biochemische Vorgänge sind komplex. Der Zusammenhang zwischen Stress in der Kindheit und späterer Krankheit lässt sich heute erklären: Das überforderte System ist irgendwann erschöpft. Es kommt zu vermehrten Entzündungen, was zu schweren Erkrankungen wie Rheuma, Krebs usw. führen kann (hierzu auch Christian Schubert, Innsbruck, Integrativer Therapeut und Psychoneuroimmunologie/Psychotherapie- Integrierte Medizin).

Denken wir die vorangestellten Forschungen für Erwachsene aus belasteten Familien weiter, so wird deutlich:

  • es besteht ein Zusammenhang zwischen emotionalen Belastungen in Kindheitstagen und emotionaler Befindlichkeit im Erwachsenenalter
  • es besteht ein Zusammenhang von wiederholten stressenden Kindheitserfahrungen und chronischen/schweren Erkrankungen im Erwachsenenalter.

Eine große Belastung der Lebensqualität von Menschen mit belasteter Kindheit erschent  evident.

„Help…I need somebody“

In der Überschrift, hier mit einem Oldie der Beatles, wird kurz auf den Punkt gebracht, was wir Kindheitsbelastungen, Stimmungs-und Befindlichkeitstörungen entgegensetzen können: Hilfe suchen und annehmen, die Verbindung und Zuwendung von anderen, nahestehenden Menschen… also können wir etwas tun!

Fasst man die vorab geschilderten Forschungsergebnisse zusammen, so sind die Belastungen und Folgen bei Kindheitsbelastungen hoch einzustufen. Und dennoch eine gute Nachricht aus der Forschung:  es gibt Stärkendes! Widerstandskräfte, die uns schützen, sogenannte Resilienzen. Resilienzen sind also das, was uns stark macht.  Resilienzen sorgen dafür, dass viele Menschen mit Kindheitsbelastungen eben auch nicht erkranken. Eine bedeutsame stabile Beziehung im Umfeld eines aufwachsenden Kindes ist eine solch hochwirksame Resilienz. Sind Erkrankungen vorhanden, zeigten sich etwa Meditation und soziale Anbindung als hochwirksam. Vernetzen und andere Menschen mit ins Boot Holen zeigt in allen Lebensphasen Wirkung. Nervensystem und Immunsystem können einander verständigen, dies können wir für uns nutzen. Decartes Dualismus hat lange Medizin bestimmt. Aber neuere Forschungen überprüfen, wie Gehirn und Immunsystem zusammenhängen und es wird deutlich: sie sind in ständigem Austausch. Ein gestresstes Gehirn beeinflusst das Immunsystem, somit gilt auch die Umkehrung: ein entspanntes Gehirn entlastet den Körper. Körper und Geist sind eine Einheit, was ganzheitliche, integrative, leiborientierte, kreative und komplementär-Medizin für Betroffene auf den Plan ruft. Basis bildet weiterhin die Schulmedizin. Gute Erfolge ließen sich auch durch kognitive Umstrukturierung erzielen, also problematische, dysfunktionale Gedanken, etwa durch einen anderen Gedanken zu ersetzen ( wie es in einigen Religionen und Philosophien auch seit Jahrtausenden gelehrt wird)…  Selbstheilung können Sie aktiv unterstützen. Sogar ein EEG kann signifikant verändert werden. Sie können durch Ihre Lebens-und Denkweise Einfluss nehmen.

Ein wichtiger Faktor: eine soziale Umgebung, ein Feld der Hoffnung und Zuwendung (teils Liebe genannt ), im Idealfall im eigenen Zuhause. Der Satz: „Ich kann gesund werden!“, oder: „Ich kann meine Kindheitswunden überwinden!“ gehört zur hochwirksamen Einstellung, die Veränderung möglich werden läßt. Hilfe für Betroffene muss individuell erfolgen, spezifisch zugeschnitten sein: sie benötigt mindestens einen wohlwollenden Anderen. Immer sollte sie Anregung zur Selbsttätigkeit beinhalten (hierzu auch das AWOKADO-Selbsthilfe-Programm in Vater, Mutter, Sucht 2015 und Meine schwierige Mutter 2017).
Glauben wir der Psychoneuroimmunologie, so helfen Krisenkindern bei der schwierigen Bewältigung vor allem: Optimismus, stabile Sozialkontakte, ein guter Alltag und körperliche Nähe.

Filmbeitrag Selbstheilungskräfte und Psychoneuroimmunologie

http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=41334

Fuchs, T. (2000). Leib-Raum-Person. Entwurf einer Phänomenologischen Anthropologie. Stuttgart: Klett Cotta.

Fuchs, T. (2008): Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. Stuttgart: Kohlhammer.

Hüther, G. (1999): Biologie der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Lammel, U. A. (2007). Phänomenologie einer Jugendkultur in den 90er Jahren und Anfragen an Soziale Arbeit in Praxis und Ausbildung. In H. Petzold, P. Schay, P. & W. Ebert (Hg.), Integrative Suchttherapie. Theorie, Methoden, Praxis, Forschung (2. Aufl.) (S. 17-63). Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Michaelis, K. & Petzold, H. (2010). Zur Situation von Kindern suchtbelasteter Familien aus Sicht der integrativen Therapie. Integrativ-systemische Überlegungen zur Entwicklung von Risiko und Resilienz bei Kindern mit suchtkranken Eltern. Integrative Therapie, 36 (2/3), 252-280.

Orth, I. ( 2012): Unbewusstes in der therapeutischen Arbeit mit künstlerischen Methoden,kreativen Medien – Überlegungen aus der Sicht „Integrativer Therapie“ in Polyloge, Internetzeitschrift der EAG-FPI.

Spitzer, M. (2002). Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg: Spektrum.

Trost, A. (2003). Interaktion und Regulation bei suchtkranken Müttern und ihren Säuglingen. In Landschaftsverband Rheinland, Dezernate Gesundheit und Jugend/ Landesjugendamt (Hg.), Suchtfalle Familie?!. Forschung und Praxis zu Lebensrealitäten zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. Dokumentation der gemeinsamen Fachtagung der KFH NW, Forschungsschwerpunkt Sucht, und des Landschaftsverbandes Rheinland, Dezernate Gesundheit und Jugend/Landesjugendamt. Köln.

 

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Waltraut Barnowski-Geiser

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Eine etwas andere Fremdsprache erlernen: Von der Weisheit der Körpersprache

„Mein Körper spinnt, der macht einfach nicht mit mehr mit. Der macht, was er will!“ Herr I., 29 Jahre)

„Ich hasse meinen Körper, alles würde wunderbar funktionieren, aber er macht mir alles kaputt! – Ich will ihn nicht spüren.“ (Frau N., 34 Jahre)

zitiert nach Barnowski-Geiser ( 2009) Hören, was niemand sieht. Semnos

Menschen mit Kindheitsbelastungen erleben ihren Körper oftmals als fremd, als von ihnen getrennt, eigenständig, abgelöst von ihrem sonstigen Sein: der Körper erscheint teilweise förmlich widerständig zu ihrem geplanten Handeln. Da möchte jemand immer noch mehr der an ihn gestellten Aufgaben schaffen und der Körper versagt die Funktion: Sehausfälle, Konzentrationsstörungen, bis hin zu Zusammenbrüchen häufen sich. Wenn für diese und andere Symptome keine organische Ursache auszumachen ist, lohnt es sich, „Körpersprache“ zu lernen. Oft im Nachhinein, wenn wir begreifen können, sehen wir, dass der Körper offenbar über eine höhere Weisheit, ein tieferes Bewusstsein oder Intelligenz verfügt, die uns noch nicht zugänglich war. Meist wird der Körper von Betroffenen erst dann wahrgenommen, wenn er in seiner Funktion gestört ist: Somit wird, wenn wir es leibtherapeutisch betrachten, der „Leib, der ich bin“ zum „Körper, den ich habe“. (Fuchs 2000) Während der gesunde Körper im Hintergrund als selbstverständliche und selbstvergessene Existenz nicht beachtet wird, rückt der kranke Körper als von uns losgelöstes Feindbild in den Blick: als außerhalb der eigenen Person liegendes Problemfeld. Der leibtherapeutisch orientierte Psychiater Professor Thomas Fuchs fasst Krankheit als gestörte Harmonie auf, die mit einer Entfremdung, einer „Partikularisierung“ innerhalb der Leiblichkeit einhergehe (Fuchs 2000).

Wenn etwas im Leben nicht rund läuft, wenn etwas sehr belastend ist oder in der Vergangenheit war, dann ist es manchmal der Körper, der dies als erstes ausdrückt.Gedankt wird dieses Überbringen dem Körper meist nicht, eher wird „der Überbringer der Nachricht geköpft.“ Zumindest rückt oftmals der Körper, einem Verräter gleich, in die Ecke unserer Feinde: Er bedroht uns, schreit Dinge, die wir nicht hören wollen. „Die Seele atmet durch den Körper und Leiden findet im Fleisch statt, egal ob es in der Haut oder in der Vorstellung beginnt.“ (Damasio 1997, S.19) Im Umkehrschluss heisst Verbindung zum Körper somit Integration, „ihn als Teil der eigenen Innenwelt anzuerkennen und ihn nicht nur als ein Ding, als einen Gegenstand, einen biologischen Organismus, also als Teil der Außenwelt (was der Körper natürlich auch ist), zu behandeln.“ (Seemann 1998, S.17)

Es ist für Menschen mit Kindheitsbelastungen besonders bedeutsam und lohnenswert, den Körper nicht losgelöst vom Fühlen und Denken zu sehen. Nehmen wir hinzu, dass viele Menschen unter unausgesprochenen Tabus in ihren Familien leiden, erscheint es als eine wunderbare Leistung, dass der Körper gerade das Unaussprechliche auf seine Weise  zur Sprache bringen –. Wir müssen oft sehr mühsam seine Sprache erlernen – Körpersprache ist für viele Kindheitsbelastete eine Fremdsprache, deren Erlernen dringend angezeigt ist.

Neurowissenschaftler zeigen einen engen Zusammenhang zwischen Körper und Bewusstsein. Sie finden Belege, „dass der Körper, wie er im Gehirn repräsentiert ist, möglicherweise das unentbehrliche Bezugssystem für neuronale Prozesse bildet, die wir als Bewusstsein erleben: „dass unser eigener Organismus und nicht irgendeine absolute äußere Realität den Orientierungsrahmen abgibt für die Konstruktion, die wir von unserer Umgebung anfertigen, und für die Konstruktion der allgegenwärtigen Subjektivität, die wesentlicher Bestandteil unserer Erfahrungen ist; dass sich unsere erhabensten Gedanken und größten Taten, unsere höchsten Freuden und tiefsten Verzweiflungen den Körper als Maßstab nehmen.“ (Damasio 1997, S.17)

Es kann sich lohnen, Ihrem Körper und seiner inneren Weisheit Raum zu geben. Machen Sie ab sofort mindestens einmal in der Woche (besser jeden Tag) einen Körpertreff: Nehmen Sie ein paar Atemzüge und lassen Sie dann Zeit, dass sich der Körper bei Ihnen melden kann…laden Sie Ihren Körper als Gesprächspartner zu sich ein …oder mit einem Körperteil, dass etwas erzählen kann…Fragen Sie Ihren Körper, was ihm zuviel und zu wenig ist…was er braucht, um gut zu arbeiten…

Klingt fremd? Nur Mut, probieren Sie es aus!Meist erhalten wir spannende, manchmal unbequeme Antworten vom Körperfreund…

Eine sonnige Woche wünscht Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

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