Gesundbleiben in Coronazeiten: Entspannen statt Alarmismus

Wenn Menschen in belasteten Familien aufgewachsen sind, dann mussten sie oft eine erhöhte Wachsamkeit entwickeln. „Hat die Mama schon angefangen zu trinken und tut gleich Unberechenbares?“… „Wird Papa gleich wütend und gewalttätig werden?“ „Werde ich gleich viele ungute Dinge zu hören bekommen?“…Das waren Fragen, die Sie sich als betroffenes Kind meist täglich stellen und möglichst richtig beantworten mussten: um Gefahren vorauszusehen und sich selbst vorausschauend in Sicherheit zu bringen. Diese erhöhte Wachsamkeit rettete damals womöglich Ihr Überleben. Wenn Sie diese Unsicherheiten, gar Bedrohungen über Jahre erleben mussten, hat sich die erhöhte Dauerwachsamkeit womöglich verfestigt und sich in Ihnen als neuronale Endlos-Spur verschaltet. Sie ist vielleicht Teil Ihres Erlebens geworden, den Sie nicht einmal mehr bemerken. Mit der Folge: Sie sind auch heute noch schnell sehr wach und hoch angespannt, wie ein Luchs, in Dauerbeobachtung vor lauernden Gefahren. Wie meine Praxisarbeit zeigt wirkt sich das Corona-Virus nun ungünstig auf Erwachsene aus belasteten Familien aus: sie klagen vermehrt über eine große Erschöpfung und Gereiztheit, die sie zunächst nicht mit ihrer Geschichte in Zusammenhang bringen. Dieser „Alarmismus“, wie ich ihn hier nennen möchte, in der Fachliteratur auch in Zusammenhang mit posttraumatischen Belastungsstörungen als Vigilanz bezeichnet, kostet viel Kraft und Energie. Unerkannt kann Alarmismus burnoutähnliche Symptome auslösen.

Was hilft?

Betroffene benötigen dringend Auszeiten: das in Höchstleitung arbeitende System muss dringend runtergefahren werden, damit sich Immunabwehr und Regeneration entfalten können – Ihr System braucht Pausen des Loslassens, des Nicht-Aufpassen-Müssens, mindestens einmal täglich. Heute können Sie sich solche Auszeiten meist selbst kreieren. Über Achtsamkeitsübungen, Waldspaziergänge, Natur-und Tiererlebnisse oder anderes, das sie positiv erleben. Vielen hilft auch eine tägliche Imagination, wie die eines sicheren Ortes.Also: Coronaregeln einhalten ist das eine, Infos sammeln auch: Selbstfürsorge mit Entspannen und Auszeit scheint eine dringend notwendige Maßnahme zur Gesunderhaltung. Alles kann mit nur einem bewussten Atemzug beginnen.: trainieren Sie Ihre hoffnungsvolle Seite.

Eine gute Woche wünscht Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Wenn „immer Karneval ist“ und aus „falsch“ „richtig“ wird: wie Erfahrungen mit (sucht-)belasteten Eltern Ihre Bewertungen beeinflussen

„Bei uns zu Hause ist immer Karneval!“, lacht der Kleine (von seinen Lehrern in die Beratung geschickt wegen fehlender Impulskontrolle und unangemessenem Verhalten gegenüber seinen Mitschülern) und beschreibt damit treffend, wie seine Sucht-Familie lebt: mit ständig wechselnden Regeln, die, wenn Papa trinkt, komplett außer Kraft gesetzt sind, alles ist erlaubt… um diese Regeln allerdings dann, wenn der Vater mit dem Trinken aufgehört hat, unter Strafandrohungen wieder einzufordern. Wertungen und ethische Prinzipien werden hier immer wieder in Frage gestellt. In seiner Familie, so erzählt Herr S., Sohn eines Alkoholikers, seien alle Werte vom Alkohol bestimmt gewesen: Menschen wurden als „gut“ eingestuft, wenn sie viel Alkohol anboten und tranken, Nichttrinker galten als zu vermeidende schlechte Menschen- sie provozierten den Vater und wurden folglich gemieden. Solche Erzählungen von Betroffenen muten teils absurd an: und genau diese Absurdität stellt die Lebenswelt der Kinder und erwachsenen Kinder aus belasteten Familien dar.

Die dritte Säule der Identität, die die Normen und Werte betrifft, ist somit, wenn derartige Belastungen sich durch die gesamte Kindheit oder mehrere Jahre ziehen,  stark beeinträchtigt. Betroffene wissen in der Folge nicht mehr, was richtig und falsch, was gut oder schlecht ist: ihre eigenen Bewertungen schwappen ähnlich unsicher hin und her, wie sie es vormals bei ihren Eltern erlebt haben. Vielleicht ist falsch ja richtig, fragen sie sich, und irren kernverunsichert durch ihr Leben, jede noch so kleine kleine anstehende Entscheidung erleben sie dann als große Herausforderung.

 Nina, 17 Jahre, erzählt wie sich ihre Kernverunsicherung in den Alltag webt, hier bei ihrem Zahnarztbesuch: wegen einer  Kieferfehlstellung wurde ihr eine Zahnklammer angepasst. Sie sollte fühlen, ob diese Klammer sich nach dem Einsetzen richtig anfühle. Sie habe weinen mögen, erzählt sie, denn darauf hätte sie keine Antwort gehabt…Wie sollte Nina das auch beantworten können: ihr Kiefer hatte noch nie in der richtigen Position gestanden….Falsch ist für Nina zu richtig geworden. So verhalte es sich auch mit ihrer Gefühlswelt, beschreibt sie aufgeregt….

Wie Nina ergeht es vielen Kindern aus belasteten Familien: wenn tatgtäglich zu Hause Dinge passieren, die eigentlich unmöglich, übergriffig und unwürdig sind, diese aber keinerlei Beachtung oder Sanktion erfahren, kein Entsetzen und kein Aufschreien, keinen Trost und keinen Zuspruch, dann wird  das Übergriffige und eigentlich Unmögliche zur Normalität. Erst im Kontakt mit anderen, etwa nichtsüchtigen Familiensystemen, bemerken die Betroffenen, dass es andere Wertungen und ethische Prinzipien gibt: eine Kernverunsicherung mit großer Lebensunsicherheit ist dann oftmals die Folge. Es gibt einen Weg aus diesem Dilemma, wie sich in der Arbeit mit erwachsenen Betroffenen zeigte: sich mit  Wertvorstellungen und Sinnfragen aktiv zu beschäftigen,  eigene Werte zu definieren, zu ändern oder auch zu stärken, die eigene innere Stimme zu aktivieren, stellt dann eine Kernaufgabe für Betroffene dar. Wenn diese angegangen wird, zeigt sich das Leben oft aus neuer, eigener Perspektive, es wird sinnig-er und stimmig-er.

Ich wünsche Ihnen eine gute Karnevalszeit, wie auch immer Sie diese gestalten. Vielleicht mögen Sie die Tage nutzen als einen Freiraum, sich mit ihren Werten zu beschäftigen…oder mit der Frage Ihrer Identität, indem Sie Papierpilgern, wenn Sie diese kreative Selbsterfahrung aus der Vorweihnachtszeit noch nicht probiert haben

In der nächsten Woche erzähle ich Ihnen zur dritten Säule der Identität gern mehr und auch zu meinem neuen Buch, das ich gemeinsam mit meiner Tochter geschrieben habe. Ich freue mich auf Sie!

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

 

Hören, was niemand sieht.Kreativ zur Sprache bringen, was Kinder und Erwachsene aus alkoholbelasteten Familien bewegt

Kinder aus alkoholbelasteten Familien erleben täglich Krisen, die von ihren Eltern oftmals verleugnet und von ihrem Umfeld nicht wahrgenommen werden – mit teil großen Folgen für ihr Leben und Erleben. Im Buch werden praxisnahe Hilfen und kreativtherapeutische Wege für diese vergessene Hochrisikogruppe aufgezeigt. Grundlage dieses Buches ist meine Dissertation zur leiborientierten Musiktherapie an der Hochschule für Musik und Theater/Institut für Musiktherapie der Universität Hamburg.

Semnos-Verlag, 2009, 320 Seiten, 19,50€

„Wenn man dieses Buch gelesen hat, lichtet sich der Nebel, der immer wieder über dem Thema Alkoholismus schwebt, das Diffuse wird klarer, das Unfassbare greifbarer…Die Tendenz wegzuschauen, einem unangenehmen Thema, das Ohnmacht und Hilflosigkeit hervorruft, aus dem Weg zu gehen, verwandelt sich in einen starken Wunsch nach tatkräftigem Handeln.“

Ute Torspecken amazon Rezension