Gesundbleiben in Coronazeiten: Entspannen statt Alarmismus

Wenn Menschen in belasteten Familien aufgewachsen sind, dann mussten sie oft eine erhöhte Wachsamkeit entwickeln. „Hat die Mama schon angefangen zu trinken und tut gleich Unberechenbares?“… „Wird Papa gleich wütend und gewalttätig werden?“ „Werde ich gleich viele ungute Dinge zu hören bekommen?“…Das waren Fragen, die Sie sich als betroffenes Kind meist täglich stellen und möglichst richtig beantworten mussten: um Gefahren vorauszusehen und sich selbst vorausschauend in Sicherheit zu bringen. Diese erhöhte Wachsamkeit rettete damals womöglich Ihr Überleben. Wenn Sie diese Unsicherheiten, gar Bedrohungen über Jahre erleben mussten, hat sich die erhöhte Dauerwachsamkeit womöglich verfestigt und sich in Ihnen als neuronale Endlos-Spur verschaltet. Sie ist vielleicht Teil Ihres Erlebens geworden, den Sie nicht einmal mehr bemerken. Mit der Folge: Sie sind auch heute noch schnell sehr wach und hoch angespannt, wie ein Luchs, in Dauerbeobachtung vor lauernden Gefahren. Wie meine Praxisarbeit zeigt wirkt sich das Corona-Virus nun ungünstig auf Erwachsene aus belasteten Familien aus: sie klagen vermehrt über eine große Erschöpfung und Gereiztheit, die sie zunächst nicht mit ihrer Geschichte in Zusammenhang bringen. Dieser „Alarmismus“, wie ich ihn hier nennen möchte, in der Fachliteratur auch in Zusammenhang mit posttraumatischen Belastungsstörungen als Vigilanz bezeichnet, kostet viel Kraft und Energie. Unerkannt kann Alarmismus burnoutähnliche Symptome auslösen.

Was hilft?

Betroffene benötigen dringend Auszeiten: das in Höchstleitung arbeitende System muss dringend runtergefahren werden, damit sich Immunabwehr und Regeneration entfalten können – Ihr System braucht Pausen des Loslassens, des Nicht-Aufpassen-Müssens, mindestens einmal täglich. Heute können Sie sich solche Auszeiten meist selbst kreieren. Über Achtsamkeitsübungen, Waldspaziergänge, Natur-und Tiererlebnisse oder anderes, das sie positiv erleben. Vielen hilft auch eine tägliche Imagination, wie die eines sicheren Ortes.Also: Coronaregeln einhalten ist das eine, Infos sammeln auch: Selbstfürsorge mit Entspannen und Auszeit scheint eine dringend notwendige Maßnahme zur Gesunderhaltung. Alles kann mit nur einem bewussten Atemzug beginnen.: trainieren Sie Ihre hoffnungsvolle Seite.

Eine gute Woche wünscht Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Angst, meine Kindheit,Corona und ich

Angst ist in diesen Krisentagen weit verbreitet. Sehen wir Angst zunächst als  ein Gefühl, das primär unserem Schutz dient. Ausprägung und Stärke der Angst, der Umgang mit der CoronaKrise und ihren Folgen, ist individuell. Bei jedem Menschen fallen Krisen und die damit auftretenden Ängste auf einen biografischen Boden: jede/r hat Unterschiedliches erlebt und auf unterschiedliche Weise bewältigt. Was wir in unserem Leben erfahren haben und unser Umgang damit, bestimmt, wie wir auf neue Situationen zugehen. Unser Umgang mit der aktuellen Corona-Krise ist bestimmt durch vorhergehende Krisenerfahrungen. Menschen mit frühen und dauerhaften belastenden Erfahrungen in ihren Familien sind somit geprägt: sie entwickeln teils große Ängste, wenn Situationen unkontrollierbar erscheinen und sie auf deren Verlauf offensichtlich keinen Einfluss haben. Zugleich haben belastete Kinder auch besondere Stärken und Copings entwickelt, die sie im Jetzt unterstützen können- die Zugänge zu diesen Krisenhelfern sind ihnen teils abhanden gekommen, in Vergessenheit geraten oder unter ängstlicher Erstarrung verschütt gegangen.

Was Krisen, Stress, Gefühle und das Gehirn miteinander zu tun haben

Die schlechte Nachricht, die Ihnen als Betroffene sicher bereits bekannt ist, vorab: Kinder, die dauerhaft Krisen  ihrer belasteten Familien ausgesetzt sind, können massive Folgen davontragen; diese Folgen sind teils messbar an ihrem Serum-Cortisolspiegel und in Hirnstrukturen,  können sie doch neuronale Strukturen des Hippocampus, der Amygdala sowie des Corpus Callosum zerstören. Verursacht werden zum Teil organisch begründbare Regulationsstörungen, später auch komplexe Störungen von Lernen, Emotionen und Verhalten (Trost 2003). Auch wenn dieser Zusammenhang von neuronaler Schädigung für betroffene Kinder in quantitativen Untersuchungen noch nicht hinreichend untersucht ist, muss vermutet werden, dass Gehirne von Kindern aus belasteten Familien durch das emotionale Klima ihrer Familien stark geprägt sind. Es steht zu befürchten, dass lang andauernde wiederholte Belastungen der familiären Umwelt neuronal entsprechend verankert werden und diese‚ emotionalen Straßen’ auch dann aufgesucht werden, wenn es nicht mehr von Nöten ist. Dies zeigte sich bei denjenigen erwachsenen Personen, die bis ins hohe Alter keine Auflösung des familiären Tabus erfahren hatten, bei denen sich etwa Suchtbelastung durch etliche Jahrzehnte zog und auch im Erwachsenenalter lebensbestimmend blieb. Es scheint in diesem Fall schwer zu sein, eingefahrene Hirnstraßen zu verlassen (etwa die der Angst und Ohnmacht) und neue Straßen (Freude,Hoffnung etc.) zu befahren. Damit kann ein wesentlicher Faktor zur Orientierung in der Welt durch das familiäre Erleben maßgeblich negativ beeinflusst werden.

Vererbt durch die Generationen?

Sogar genetisch scheinen diese Erfahrungen Spuren zu hinterlassen (In jüngerer Zeit wurde an Mäusen nachgewiesen, dass die Gene bei Nachkommen traumatisierter Mütter in Mitleidenschaft gezogen waren; sie zeigten sich als weniger Stressresistent und verzweifelter in eigenen Krisensituationen). „Muss ich das auch noch wissen?“, denken Sie nun vielleicht,“ das ist doch nur traurig. Ich finde, ja, sie sollten das wissen, um sich selbst ein Stück besser zu verstehen und sich in Ihrem „So-Sein“ annehmen und nicht noch zusätzlich abwerten, als „Weichei, Mimose, Versager“. Erst, wenn wir verstehen, warum wir wurden, wie wir sind, können wir besser neue Krisen bewältigen, einen Zugang zu unserer wahren Identität bekommen: im anderen Falle, wenn wir Altes unerkannt abspalten, drohen wir uns selbst fremd zu bleiben und in alten, ungünstigen Krisencopings ( zum Beispiel dem Erstarren) feststecken zu bleiben. Angst ist ein Signalgeber, im besten Fall Wachrüttler.

Hirne sind nutzungsabhängig: warum Kinder mit familiärer Belastung leicht ängstlich werden

Schauen wir weiter aus neurowissenschaftlicher Perspektive. Versuchte Erklärungen müssen im Angesicht der hochkomplizierten  Vorgänge in unseren Hirnen unverschämte Vereinfachungen bleiben…versuchen wir dennoch eine Annäherung: Außenwelt hinterlässt Spuren in der Innenwelt. Neurologisch spricht man hierbei von inneren Repräsentationen der Außenwelt. Auch die Repräsentationen unserer Gefühlswelt (neurowissenschaftlichen Untersuchungen u.a. von Braun, Spitzer) spiegeln  erlebte Erfahrungen. Unsere Gefühlswelt ist erlernt, vor allem in sozialer Erfahrung. Befinden, Stimmungen und Gefühle sind bei Kindern aus belasteten Familien stark in Mitleidenschaft gezogen. Kinder lernen etwa: „Wenn Papa trinkt, gibt es Ärger für mich!“ Wird diese Erfahrung wiederholt gemacht, wird diese Erfahrung auch neuronal verschaltet: sie bildet eine Hirnspur. Je öfter diese Erfahrung gemacht werden, umso tiefer gräbt sich diese Spur im Hirn ein, sprich: Kinder entwickeln Ängste ( eine Hirnautobahn „Angst“) und weitere mit diesem Erleben verbundene Gefühle werden nutzungsabhängig verschaltet. Aus dem Kind, das in einer Szene Angst hat, wird bei dauerhafter Wiederholung, leicht ein überängstliches Kind: insbesondere dann, wenn, wie oft in tabuisierenden Familien, das Gefühl des Kindes nicht benannt und besprochen werden darf, das Kind folglich keine angemessene Unterstützung in Form von Trost oder Halt erfährt.

Kindheit prägt unser Erleben als Erwachsene

Das Befinden Betroffener wird durch dieses kindliche Krisenerleben geprägt, das Gehirn entsprechend gebaut – auch als Erwachsene, wenn das Elternhaus längst verlassen wurde, sind diese grundlegenden Verschaltungen angelegt. Es ist also nachvollziehbar, dass ein in der Kindheit entsprechend „verschalteter“ Erwachsener, der die Spur Angst zu einer regelrechten Autobahn im Kopf entwickelt hat (Formulierung in Anlehnung an Hüther), auch als Erwachsener schnell auf eben dieser Autobahn landet. Denkweisen, Selbstbild, Körpererfahrung usw. sind neuronal verschaltet: sie bilden ein Erlebens- Panorama im Jetzt, das im familiären System erlernt wurde.

Denken wir die vorangestellten Forschungen für Erwachsene aus belasteten Familien weiter, so wird deutlich:

  • es besteht ein Zusammenhang zwischen emotionalen Belastungen in Kindheitstagen und emotionaler Befindlichkeit im Erwachsenenalter
  • es besteht ein Zusammenhang von wiederholten stressenden Kindheitserfahrungen und chronischen/schweren Erkrankungen im Erwachsenenalter.

Eine große Belastung der Lebensqualität von Menschen mit belasteter Kindheit erscheint  evident. Somit stellt die aktuelle Corona-Krise neben medizinisch-alltäglichen Überlegungen insbesondere Menschen mit Kindheitsbelastungen vor große psychische Herausforderungen – .

„Help…I need somebody“

Fasst man die vorab geschilderten Forschungsergebnisse zusammen, so sind die Belastungen und Folgen bei Kindheitsbelastungen hoch einzustufen. Und dennoch eine gute Nachricht aus der Forschung:  es gibt Stärkendes! Widerstandskräfte, die uns schützen, sogenannte Resilienzen. Resilienzen sind also das, was uns stark macht.  Resilienzen sorgen dafür, dass viele Menschen mit Kindheitsbelastungen eben auch nicht erkranken. Eine bedeutsame stabile Beziehung im Umfeld eines aufwachsenden Kindes ist eine solch hochwirksame Resilienz. Sind Erkrankungen vorhanden, zeigten sich etwa Meditation und soziale Anbindung als hochwirksam. Vernetzen und andere Menschen mit ins Boot Holen zeigt in allen Lebensphasen Wirkung. Nervensystem und Immunsystem können einander verständigen, dies können wir für uns nutzen. Decartes Dualismus hat lange Medizin bestimmt. Aber neuere Forschungen überprüfen, wie Gehirn und Immunsystem zusammenhängen und es wird deutlich: sie sind in ständigem Austausch. Ein gestresstes Gehirn beeinflusst das Immunsystem, somit gilt auch die Umkehrung: ein entspanntes Gehirn entlastet den Körper. Körper und Geist sind eine Einheit, was ganzheitliche, integrative, leiborientierte, kreative und komplementär-Medizin für Betroffene auf den Plan ruft. Basis bildet weiterhin die Schulmedizin. Gute Erfolge ließen sich auch durch kognitive Umstrukturierung erzielen, also problematische, dysfunktionale Gedanken, etwa durch einen anderen Gedanken zu ersetzen ( wie es in einigen Religionen und Philosophien auch seit Jahrtausenden gelehrt wird)…  Selbstheilung können Sie aktiv unterstützen. Sogar ein EEG kann signifikant verändert werden. Sie können durch Ihre Lebens-und Denkweise Einfluss nehmen.

Ein wichtiger Faktor: eine soziale Umgebung, ein Feld der Hoffnung (gerade dürfen wir auf einen Impfstoff hoffen) und Zuwendung (teils Liebe genannt), im Idealfall im eigenen Zuhause. Der Satz: „Ich kann gesund werden!“, oder: „Ich kann meine Kindheitswunden überwinden!“ gehört zur hochwirksamen Einstellung, die Veränderung und damit Wege aus der erstarrten Angst möglich werden läßt. Hilfe für Betroffene muss individuell erfolgen, spezifisch zugeschnitten sein: sie benötigt mindestens einen wohlwollenden Anderen. Immer sollte sie Anregung zur Selbsttätigkeit beinhalten (hierzu auch das AWOKADO-Selbsthilfe-Programm in Vater, Mutter, Sucht 2015 und Meine schwierige Mutter 2017).

Das hilft
Glauben wir den Erkenntnissen der Psychoneuroimmunologie, so helfen Krisenkindern bei der schwierigen Bewältigung vor allem: Optimismus, stabile Sozialkontakte, ein  Alltag mit guten Erfahrungen sowie körperliche Nähe.

Der in der Kapitelüberschrift verwendete Oldie der Beatles bringt auf den Punkt, was wir Kindheitsbelastungen, Stimmungs-und Befindlichkeitstörungen entgegensetzen können: Hilfe suchen und annehmen, die Verbindung und Zuwendung von anderen, nahestehenden Menschen…die entstehende Überlastung im Beruf würdigen und zunehmend mehr Menschen müssen sich eingestehen, dass längst nicht mehr alles schaffbar ist, bestimmt nicht alles wir früher, perfekt laufen kann- nur, so gut es eben geht.  Vielleicht schreiben Sie anderen hier, indem Sie die Kommentarfunktion nutzen, wie Sie es gerade schaffen trotz Corona-Krise, vielleicht trotz Ihrer Angst – ich freue mich, von Ihnen zu lesen.

Bleiben Sie gesund und behalten Sie bei aller nötigen Hygiene vor allem auch Ihre Seele im Blick,

bis ganz bald

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Heimweh, Sehnsucht und Co: Coronazeiten als Brutstätten der Sehnsucht

Corona stellt uns, wie wir hier schon einige Male beleuchtet haben, vor besondere Herausforderungen. Die Folgen der sozialen Distanzierung werden gerade erst präziser in den Blick genommen. In meiner Arbeit fällt mir auf, dass die Themen „Leere“ und „Verlorenheit“ verstärkt eine Rolle spielen im Leben der Menschen mit Kindheitsbelastungen. Manch einem kommt die staatlich erzwungene Diustanzierung zu schwierigen Eltern nicht ungelegen: und dennoch lässt sie in manch Kindheitsbelastetem ein ungutes Gefühl zurück: etwas fehlt, seit Kindheitstagen. Betroffene empfinden Leere, „Nichts“, bei genuaerem Nachforschen werden alte Wunden, Verlorenheit, mangelnde Geborgenheit, spürbar. Dieses Gefühl gleicht dem kindlichen Heimweh der Menschen, die die elterliche Nähe ein Leben lang suchten und nie fanden.

Die offene Rechnung: Kindheitsbelastungs-Heimweh

Fühlen auch Sie sich manchmal scheinbar grundlos traurig und niedergeschlagen, haben an kaum etwas Interesse, fühlen sich appetitlos im Wechsel mit Heißhungerattacken?…Sie haben das Gefühl, nicht richtig dazuzugehören, verspüren wenig Motivation zur Arbeit und auch nicht, tatkräftig etwas Neues zu beginnen? Dann kann es sein, dass sie unter chronischem Belastungs-Heimweh leiden…

Wenn kindliche Bedürfnisse nach elterlicher Liebe und Zuwendung nicht befriedigt wurden, dann scheint oft lebenslang etwas offen zu bleiben. Etwas Unbestimmtes scheint verloren. Etwas, das am ehesten mit dem Begriff Heimweh zu beschreiben ist. In der Folge richten erwachsene Kinder ihr Bemühen darauf, dieses Heimweh wegzubekommen, es von den Eltern doch noch gestillt zu bekommen oder auch, es einfach nicht mehr zu fühlen.

Viele Kinder aus belasteten Familien leiden im hohen Erwachsenenalter  an chronischem Heimweh, ohne darum zu wissen: belastete Familien sind wahre Brutstätten der Sehnsucht (zit. Vater, Mutter, Sucht, s.u.). Der Begriff Heimweh wird allgemein als Beschreibung gewählt, wenn in früher Kindheit eine Gemeinschaft verloren gegangen ist. Bei belasteten Kinder bekommt Heimweh eine andere Dimension.  Heimweh, das ich als Belastungsheimweh bezeichnen möchte, ist vielmehr bei all denjenigen vorhanden, die eine familiäre Gemeinschaft nie befriedigend erlebt haben und bei denjenigen, die sich selbst in der Suche nach elterlicher Liebe verloren gegangen sind. Belastungsheimweh ist immer auch ein Suche nach uns selbst, nach der eigenen Identität – oft einhergehend mit großer Verzweiflung.

Die junge Frau ist außer sich. Ihr Freund betrüge sie permanent, schlage sie, wenn sie ihn darauf anspreche und sie nehme diese Behandlung wieder und wieder in Kauf. Sie verstehe sich selbst nicht, Biografisches kommt ihr in den Sinn. Sie ist Tochter eines Alkoholikers und einer depressiven, tablettenabhängigen Mutter. In der Arbeit zu diesem Thema äußert sie, süchtig nach Ihrem Freund zu sein. „In meiner Familie hat das angefangen: ich bin der Liebe, die ich nicht bekam, hinterhergelaufen. Wie ein Stier hinter dem roten Tuch, so laufe  ich seitdem der Liebe hinterher!“

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Warum bin ich ängstlicher als andere? Über das ungute Duo Corona-Krise und belastete Kindheit

Sind Sie augenblicklich ziemlich gereizt, genervt bei geringsten Anlässen, in einer Daueranspannung mit zum Zerbersten gespannten Muskeln, im Daueralarm? Wenn Sie in sich nachforschen, bemerken Sie große Ängste und Sie fragen sich, ob diese Ängste im Angesicht der Corona-Krise berechtigt oder doch übertrieben sind? Und ob Sie diese Ängste nicht einfach mal, wenigstens für ein paar Stunden, abstellen können, so wie scheinbar manch andere, die offenbar vergnügt in Parks sitzen, was natürlich auch der Krise nicht angemessen erscheint?

Angst ist in diesen Tagen weit verbreitet, ein Gefühl, das zunächst einmal unserem Schutz dient. Ausprägung und Stärke der Angst, der Umgang mit der CoronaKrise und ihren Folgen, ist individuell. Bei jedem Menschen fallen Krisen und die damit auftretenden Ängste auf einen biografischen Boden: jede/r hat Unterschiedliches erlebt und auf unterschiedliche Weise bewältigt. Was wir in unserem Leben erfahren haben und unser Umgang damit, bestimmt, wie wir auf neue Situationen zugehen. Unser Umgang mit der aktuellen Corona-Krise ist bestimmt durch vorhergehende Krisenerfahrungen. Menschen mit frühen und dauerhaften belastenden Erfahrungen in ihren Familien sind somit geprägt: sie entwickeln teils große Ängste, wenn Situationen unkontrollierbar erscheinen und sie auf deren Verlauf offensichtlich keinen Einfluss haben. Zugleich haben belastete Kinder auch besondere Stärken und Copings entwickelt, die sie im Jetzt unterstützen können- die Zugänge zu diesen Krisenhelfern sind ihnen nur teils abhanden gekommen, in Vergessenheit geraten oder unter ängstlicher Erstarrung verschütt gegangen. In den nächsten Tagen und Wochen möchte ich Ihnen dazu Gedanken und Hilfen anbieten, in der Hoffnung, sie auf diese Weise ein bisschen unterstützen zu können.

Was Krisen, Stress, Gefühle und das Gehirn miteinander zu tun haben

Die schlechte Nachricht, die Ihnen als Betroffene sicher bereits bekannt ist, vorab: Kinder, die dauerhaft Krisen  ihrer belasteten Familien ausgesetzt sind, können massive Folgen davontragen; diese Folgen sind teils messbar an ihrem Serum-Cortisolspiegel und in Hirnstrukturen,  können sie doch neuronale Strukturen des Hippocampus, der Amygdala sowie des Corpus Callosum zerstören. Verursacht werden zum Teil organisch begründbare Regulationsstörungen, später auch komplexe Störungen von Lernen, Emotionen und Verhalten (Trost 2003). Auch wenn dieser Zusammenhang von neuronaler Schädigung für betroffene Kinder in quantitativen Untersuchungen noch nicht hinreichend untersucht ist, muss vermutet werden, dass Gehirne von Kindern aus belasteten Familien durch das emotionale Klima ihrer Familien stark geprägt sind. Es steht zu befürchten, dass lang andauernde wiederholte Belastungen der familiären Umwelt neuronal entsprechend verankert werden und diese‚ emotionalen Straßen’ auch dann aufgesucht werden, wenn es nicht mehr von Nöten ist. Dies zeigte sich bei denjenigen erwachsenen Personen, die bis ins hohe Alter keine Auflösung des familiären Tabus erfahren hatten, bei denen sich etwa Suchtbelastung durch etliche Jahrzehnte zog und auch im Erwachsenenalter lebensbestimmend blieb. Es scheint in diesem Fall schwer zu sein, eingefahrene Hirnstraßen zu verlassen (etwa die der Angst und Ohnmacht) und neue Straßen (Freude,Hoffnung etc.) zu befahren. Damit kann ein wesentlicher Faktor zur Orientierung in der Welt durch das familiäre Erleben maßgeblich negativ beeinflusst werden. Sogar genetisch scheinen diese Erfahrungen Spuren zu hinterlassen (In jüngerer Zeit wurde an Mäusen nachgewiesen, dass die Gene bei Nachkommen traumatisierter Mütter in Mitleidenschaft gezogen waren; sie zeigten sich als weniger Stressresistent und verzweifelter in eigenen Krisensituationen). „Muss ich das auch noch wissen?“, denken Sie nun vielleicht,“ das ist doch nur traurig. Ich finde, ja, sie sollten das wissen, um sich selbst ein Stück besser zu verstehen und sich in Ihrem „So-Sein“ annehmen und nicht noch zusätzlich abwerten, als „Weichei, Mimose, Versager“. Erst, wenn wir verstehen, warum wir wurden, was wir sind, können wir besser neue Krisen bewältigen, einen Zugang zu unserer wahren Identität bekommen: im anderen Falle, wenn wir Altes unerkannt abspalten, drohen wir uns selbst fremd zu bleiben und in alten, ungünstigen Krisencopings ( zum Beispiel dem Erstarren) feststecken zu bleiben.

Hirne sind nutzungsabhängig: warum Kinder mit familiärer Belastung leicht ängstlich werden

Schauen wir weiter aus neurowissenschaftlicher Perspektive. Versuchte Erklärungen müssen im Angesicht der hochkomplizierten  Vorgänge in unseren Hirnen unverschämte Vereinfachungen bleiben…versuchen wir dennoch eine Annäherung: Außenwelt hinterlässt Spuren in der Innenwelt. Neurologisch spricht man hierbei von inneren Repräsentationen der Außenwelt. Auch die Repräsentationen unserer Gefühlswelt (neurowissenschaftlichen Untersuchungen u.a. von Braun, Spitzer) spiegeln  erlebte Erfahrungen. Unsere Gefühlswelt ist erlernt, vor allem in sozialer Erfahrung. Befinden, Stimmungen und Gefühle sind bei Kindern aus belasteten Familien stark in Mitleidenschaft gezogen. Kinder lernen etwa: „Wenn Papa trinkt, gibt es Ärger für mich!“ Wird diese Erfahrung wiederholt gemacht, wird diese Erfahrung auch neuronal verschaltet: sie bildet eine Hirnspur. Je öfter diese Erfahrung gemacht werden, umso tiefer gräbt sich diese Spur im Hirn ein, sprich: Kinder entwickeln Ängste ( eine Hirnautobahn „Angst“) und weitere mit diesem Erleben verbundene Gefühle werden nutzungsabhängig verschaltet. Aus dem Kind, das in einer Szene Angst hat, wird bei dauerhafter Wiederholung, leicht ein überängstliches Kind: insbesondere dann, wenn, wie oft in tabuisierenden Familien, das Gefühl des Kindes nicht benannt und besprochen werden darf, das Kind folglich keine angemessene Unterstützung in Form von Trost oder Halt erfährt. Das Befinden Betroffener wird durch dieses kindliche Krisenerleben geprägt, das Gehirn entsprechend gebaut – auch als Erwachsene, wenn das Elternhaus längst verlassen wurde, sind diese grundlegenden Verschaltungen angelegt. Es ist also nachvollziehbar, dass ein in der Kindheit entsprechend „verschalteter“ Erwachsener, der die Spur Angst zu einer regelrechten Autobahn im Kopf entwickelt hat (Formulierung in Anlehnung an Hüther), auch als Erwachsener schnell auf eben dieser Autobahn landet. Denkweisen, Selbstbild, Körpererfahrung usw. sind neuronal verschaltet: sie bilden ein Erlebens- Panorama im Jetzt, das im familiären System erlernt wurde.

Denken wir die vorangestellten Forschungen für Erwachsene aus belasteten Familien weiter, so wird deutlich:

  • es besteht ein Zusammenhang zwischen emotionalen Belastungen in Kindheitstagen und emotionaler Befindlichkeit im Erwachsenenalter
  • es besteht ein Zusammenhang von wiederholten stressenden Kindheitserfahrungen und chronischen/schweren Erkrankungen im Erwachsenenalter.

Eine große Belastung der Lebensqualität von Menschen mit belasteter Kindheit erschent  evident. Somit stellt die aktuelle Corona-Krise neben medizinisch-alltäglichen Überlegungen insbesondere Menschen mit Kindheitsbelastungen vor große psychische Herausforderungen – .

„Help…I need somebody“

Fasst man die vorab geschilderten Forschungsergebnisse zusammen, so sind die Belastungen und Folgen bei Kindheitsbelastungen hoch einzustufen. Und dennoch eine gute Nachricht aus der Forschung:  es gibt Stärkendes! Widerstandskräfte, die uns schützen, sogenannte Resilienzen. Resilienzen sind also das, was uns stark macht.  Resilienzen sorgen dafür, dass viele Menschen mit Kindheitsbelastungen eben auch nicht erkranken. Eine bedeutsame stabile Beziehung im Umfeld eines aufwachsenden Kindes ist eine solch hochwirksame Resilienz. Sind Erkrankungen vorhanden, zeigten sich etwa Meditation und soziale Anbindung als hochwirksam. Vernetzen und andere Menschen mit ins Boot Holen zeigt in allen Lebensphasen Wirkung. Nervensystem und Immunsystem können einander verständigen, dies können wir für uns nutzen. Decartes Dualismus hat lange Medizin bestimmt. Aber neuere Forschungen überprüfen, wie Gehirn und Immunsystem zusammenhängen und es wird deutlich: sie sind in ständigem Austausch. Ein gestresstes Gehirn beeinflusst das Immunsystem, somit gilt auch die Umkehrung: ein entspanntes Gehirn entlastet den Körper. Körper und Geist sind eine Einheit, was ganzheitliche, integrative, leiborientierte, kreative und komplementär-Medizin für Betroffene auf den Plan ruft. Basis bildet weiterhin die Schulmedizin. Gute Erfolge ließen sich auch durch kognitive Umstrukturierung erzielen, also problematische, dysfunktionale Gedanken, etwa durch einen anderen Gedanken zu ersetzen ( wie es in einigen Religionen und Philosophien auch seit Jahrtausenden gelehrt wird)…  Selbstheilung können Sie aktiv unterstützen. Sogar ein EEG kann signifikant verändert werden. Sie können durch Ihre Lebens-und Denkweise Einfluss nehmen.

Ein wichtiger Faktor: eine soziale Umgebung, ein Feld der Hoffnung und Zuwendung (teils Liebe genannt ), im Idealfall im eigenen Zuhause. Der Satz: „Ich kann gesund werden!“, oder: „Ich kann meine Kindheitswunden überwinden!“ gehört zur hochwirksamen Einstellung, die Veränderung möglich werden läßt. Hilfe für Betroffene muss individuell erfolgen, spezifisch zugeschnitten sein: sie benötigt mindestens einen wohlwollenden Anderen. Immer sollte sie Anregung zur Selbsttätigkeit beinhalten (hierzu auch das AWOKADO-Selbsthilfe-Programm in Vater, Mutter, Sucht 2015 und Meine schwierige Mutter 2017).
Glauben wir den Erkenntnissen der Psychoneuroimmunologie, so helfen Krisenkindern bei der schwierigen Bewältigung vor allem: Optimismus, stabile Sozialkontakte, ein guter Alltag und körperliche Nähe.

Der in der Überschrift verwendete Oldie der Beatles bringt auf den Punkt, was wir Kindheitsbelastungen, Stimmungs-und Befindlichkeitstörungen entgegensetzen können: Hilfe suchen und annehmen, die Verbindung und Zuwendung von anderen, nahestehenden Menschen… dies stellt im Angesicht der Corona-Krise eine weitere Herausforderung dar, sollen wir uns doch sozial distanzieren, zumindest real körperlich. Hier ist Ihre Kreativität gefragt: feste Termine für Videoanrufe, bleibender Austausch per Email etc . Vielleicht schreiben Sie anderen hier, indem Sie die Kommentarfunktion nutzen, wie Sie es gerade schaffen trotz Corona-Krise – ich freue mich, von Ihnen zu lesen.

Bleiben Sie gesund und behalten Sie bei aller nötigen Hygiene vor allem auch Ihre Seele im Blick,

bis ganz bald

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

„Die eigene Würde retten!“ – von der Suche zwischen Wahrheit, Tabu und Lüge

Würde (so wie auch Würdigung und Wertschätzung), scheint, schauen wir auf manch eine belastete Familie, die über Jahre und Jahrzehnte eben ihren schweren Belastungen ausgesetzt war, oft leise und still, gleichsam klamm-heimlich verloren gegangen zu sein. Würde gleicht hier in diesen Familien einem Fremdwort, mit dem man nicht mehr viel anfangen kann, dass man sich, so scheint es, kaum leisten kann; beinahe scheint es Kindern nach vielen Jahren so, als würde sie den Menschen hier in ihrer Familie nicht einmal zustehen: die Ent-Würdigung ist zur Selbstverständlichkeit geworden. Was süchtige Menschen beispielsweise teils ihren Familien antun, überschreitet oft jede Grenze, oft auch jedes Vorstellungsmaß… und dabei denke ich nicht nur an körperliche Gewalt, sondern auch an verbale Dauerattacken, Kämpfe rund um das Aufrechterhalten des Tabus, das Ringen um Normalität, die beständige Suche in Sucht etwa, die die Angehörigen zu Statisten eines schleichenden Selbstmords degradiert… und das oftmals jahrzehntelange vergebliche Ringen auf Seiten mitbetroffener Kinder und Partner, doch noch gesehen und geliebt zu werden. Um diese Liebe zu bekommen, glauben diese erwachsenen Kinder, dass sie sich verbiegen müssten: Preis ist ihre eigene Würde, die sie zu verlieren drohen oder zumindest Teilaspekte derselben…die Selbstachtung nimmt schleichend Schaden.

Herrn M.s Mutter, so findet Herr M heraus, übersteht den Narzissmus und die Sucht des Vaters über Jahrzehnte, indem sie ihn einfach anders sieht als er ist. Nicht süchtig eben, sondern einfach großartig. Alles, was zu dieser, ihrer Wahrheit nicht passt, schneidet sie aus ihrer Wahrnehmung; sogar so weit, dass sie Menschen, die ihre Wahrheit als Lüge zu entlarven drohen, aus ihrem Leben verbannt. Anstatt ihre Sicht auf ihren Ehemann als Lüge zu sehen und in Frage stellen zu müssen, stellt sie diese Menschen, die Überbringer der „Wahrheit“ oder Realität, als Lügner hin. Herr M. erwartet, das seine Mutter dies endlich eingestehe, denn ihr Verhalten sei unter aller Würde: die Aufdeckung der familiären Wahrheit brauche er, so findet er heraus, um sich seinen letzten Funken von Würde zu bewahren. Er wolle nicht weiter, wie Jahrzehnte zuvor, mitspielen und heile Welt vorgaukeln. Gespräche mit seiner Mutter laufen erfolglos: immer deutlicher wird Herrn M., dass seine Mutter so stark in ihrer eigenen Identität verunsichert ist, so bindungsschwach und abhängig, dass eine realistischere Sicht auf den Vater ihr gesamtes Lebenskonzept erschüttern würde. Wenn der Sohn ihr diese weiter abverlange, werde sie eher den Kontakt zu ihm abbrechen, vermutet er…diesen Kontaktabbruch erwägt Herr M., wie er sagt selbst schon länger, um seine Würde nicht weiter zu beschädigen, er will endlich „die eigene Würde retten!“.

Viele chronisch belastete Familien stecken in einer Abhängigkeitsfalle, in der Wahrheit und Würde geopfert werden. Ein Ausweg scheint nicht in Sicht, solange die einzelnen Familienmitglieder nicht in der Lage sind, Hilfe zu suchen und mit Klarblick eigen-ständig schauen zu können. Es braucht Kraft, die Verblendung wirklich anzuschauen. Den Würdeverlust wahrzunehmen, ihn anzuschauen ist für Kinder aus belasteten Familien oft der 1. Schritt auf dem Weg zur Veränderung des eigenen Lebens. Dies erfordert Stärke, die oftmals nach jahrzehntelangem Kampf nicht mehr vorhanden zu sein scheint. Oftmals sind Lebenslügen und Verblendung Teil der Identität geworden, die Verstrickung bestimmt mehr und mehr über die einzelnen Familienmitglieder, ihre Sicht auf sich selbst, auf die Familie und die Welt.

„Die Würde scheint uns weniger bedroht, wenn die Lüge wegen der Größe der inneren Gefahr verzeihlich ist, wie bei einer verleugneten tödlichen Krankheit oder beim Eingeständnis einer Unfähigkeit, die für das Selbstbild vernichtend wäre. Dann denken wir: das kann man von niemandem verlangen. Lebenslügen… sollten nur dann als würdelos beurteilt werden, wenn dem Betreffenden die Stärke zugeschrieben wird, ihrer Auflösung standzuhalten.“ Bieri, Eine Art zu leben, S.226

Eigen-ständig Denken wird in belasteten Familien oft als Bedrohung wahrgenommen, die mit Ausschluss belegt wird: oft ohne Worte liegt die Ausgrenzung doch drohend in der Luft, ist Teil einer unguten Atmosphäre, Teil des familiären Klimas geworden.Wir kommen in der Arbeit mit familiendynamischen Aspekten immer an ethische Fragestellungen, mit denen viele erwachsene Kinder, oftmals Tag und Nacht, und doch wenig bewusst, befasst sind.

Vielleicht halten Sie kurz inne und schreiben etwas zu den nachfolgenden Fragen:

  • Welche Werte sind in Ihrer Familie bestimmend?
  • Und für welche Werte möchten Sie eintreten?
  • Was bedeutet für Sie Würde und was braucht Ihre Würde?
  • Für wen stellen diese Ihre eigenen Vorstellungen eine Bedrohung dar?

Der Philosoph Peter Bieri hat ein  Buch über die Vielfalt der Würde verfasst, das ich all denjenigen unter Ihnen empfehlen mag, die über schnelle Lösungen hinaus interessiert sind,  gern tiefer schauen…auch wenn sich das Buch nicht speziell auf belastete Familien bezieht und somit einen Transfer auf die eigene Situation erfordert, halte ich es für diese unsere Zielgruppe lohnenswert.

Eine Art zu leben

 

Eine gute Zeit

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

 

Mehr von dieser Autorin, u.a. bei Klett-Cotta

Vergessenen Kindern eine Stimme geben-Texte zur Coa-Aktionswoche 4

Frau K., 34 Jahre:  „…Wie eine Marionette an unsichtbaren Fäden“

Wenn ich auf mein Elternhaus zufahre, ist mir bis heute mulmig: ich bekomme Herzrasen, feuchte Hände, mir wird schwindlig. Ich bin seit mehr als zehn Jahren bei meinen Eltern ausgezogen und immer noch holen mich diese alten Gefühle ein. Mein Vater hat seit meiner frühesten Kindheit getrunken, in unterschiedlichem Ausmaß, man nennt das wohl Quartalstrinken. Manchmal hat er Wochen trinkend in seinem Bett verbracht, dann stand er nur auf, um sich etwas zu trinken kaufen zu gehen und dann gab es auch Wochen, in denen er nichts trank- dann wirkte er sehr depressiv, verkatert, übellaunig. Seine Stimmung war überhaupt unberechenbar: sie konnnte abrupt wechseln  zwischen übergriffig-liebevoll und gewalttätig-aggressiv.

Lange Zeit meiner Kindheit hat niemand etwas von der Sucht meines Vaters gewusst. Er ging noch einer Arbeit nach und wenn er zu betrunken war, hat meine Mutter ihn mit erfundenen Ausreden entschuldigt. Auf Familienfesten hatte ich permanent Angst: wenn seine ausgelassenene Stimmung kippte, konnte er vor allen sehr ausfallend werden. Auch erzähte er dann gern Intimes über mich und meine Freunde und gab es zum Amüsement der anderen zum Besten. Wenn ich es je wagte, mich darüber zu beschweren, wertete er mich einfach als zu empfindlich ab und meine Mutter stand ihm bei. Wenn er nicht mehr trank, tat sie so, als wäre nur „schön gefeiert“ worden. Mit meinem heutigen Wissen kann ich sagen, dass sie die klassische Co-Abhängige ist. Ihr gesamtes Leben ist auf ihn ausgerichtet – ein einziges Warten, dass er sich mit ihr beschäftigt. Wenn er nicht zur Verfügung stand, musste ich das früher übernehmen. Hörte er auf mit der Trinkerei, wurde ich wieder auf den Kinderplatz gestellt und war von ihren Unternehmungen ausgeschlossen – meine Freunde wurden misstrauisch beäugt. Schließlich sollte niemand wissen, wie es bei uns zuging. Ich habe auch sehr oft Freunde ausgeladen oder versetzt, weil es zu peinlich war, wenn jemand meinen Vater in seiner Trunkenheit mitbekommen hätte.

Oft denke ich, ich bin verrückt: wenn ich diese Körpersymptome habe und keine Erklärung dafür zu finden ist.Seit neustem habe ich  richtige Panikattacken – Hilfe geholt habe ich mir vorher noch nicht, weil ich nicht über mein Zuhause sprechen will- ich möchte meine Eltern nicht schlecht machen. Irgendwie empfinde ich das als Verrat-ich mag meine Eltern ja auch.Ich habe mir ein paar Bücher gekauft, in denen es um Sucht geht- so habe ich ein bisschen was kapiert wenigstens.

Seit ich nun selbst Kinder habe, sind die Attacken schlimmer geworden. In meinen eigenen Kindern begegnet mir so viel, was mich an schlimme Situationen aus meiner Kindheit erinnert. Dann denke ich, dass ich besser keine Kinder bekommen hätte, weil mir bestimmt ganz viel fehlt, um eine gute Mutter sein zu können. Meine Eltern fanden das nicht gut, dass ich Kinder bekommen habe- sie haben sehr bedeckt reagiert, als ich ihnen erzählte, dass ich schwanger bin. Ich glaube, sie wollten selber weiter mehr Raum in meinem Leben einnehmen und ihren exklusiven Platz nicht mit meinen Kindern teilen. Meine Mutter beansprucht mich immer noch wie ihren Besitz. Wenn mein Vater trinkt, spüre ich das sofort – es ist , als würde ich immer noch auf ungewöhnliche Weise mit ihnen verwoben sein. Das schwappt einfach durch die Luft. Wenn es schwierig ist mit ihm, ruft meine Mutter mich bis heute an und erwartet, dass ich das übernehme: ihn ins Krankenhaus bringen, einen Arzt motivieren oder auf ihn einreden, dass er aufhören möge etc. All das ist eigentlich eh sinnlos, aber ich fühle mich wie eine Marionette an unsichtbaren Fäden, ich kann nicht nein sagen, wenn ich meine Eltern in ihrer Not sehe.

„Du bist ein wunderbares Kind!“… wie Wertschätzung heilt

Liebe LeserInnen,

nun sind Sie mit vielen tausend anderen Menschen offenbar regelmäßig lesend auf dieser Webseite unterwegs. Das freut mich natürlich und es stellt sich eine Verbundenheit mit Ihnen ein: der Online – Familie der Kinder und Erwachsenen aus belasteten Familien.

Weihnachten steht vor der Tür. Ich mag Ihnen nochmal eine etwas andere Weihnachtsgeschichte zukommen lassen, die ich vor etwa 15 Jahren verfasst habe (und später dann auch gelesen habe auf der CD „Gefühlskinder“ mit dem Duo EigenARTs und Beate Theißen am Klavier): eine Geschichte, die ich damals unter dem Eindruck einer wahren Begebenheit verfasste. Ein kleiner Klient, Sohn einer trinkenden Mutter, erzählte sie mir. Diese Geschichte hat etwas Schweres und Tragisches und eine doch so, wie ich finde, gute Auflösung. Mir hat der Kleine gezeigt, wie überlebens-wichtig Wertschätzung für kleine und große Menschen ist. Deshalb möchte ich diese kleine Geschichte nochmal auf den Weg bringen, sie euch und Ihnen, als mein persönliches Weihnachtsgeschenk  zur Verfügung stellen-.

Ein gutes Weihnachtsfest für Sie und alle, die Ihnen lieb und wichtig sind wünscht Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Quer – Lage

Eine Kurzgeschichte von Waltraut Barnowski-Geiser

Endlich lag er richtig. Wie immer war es ihm schwer gefallen, eine Position einzunehmen, die ihm entsprach und doch korrekt war. Meistens lag er daneben oder war schiefgewickelt, wie Mama sagte. Jetzt ruhte er gerade, der Länge nach, quer. Zunächst hatte er in der Mitte gelegen, lang ausgestreckt, gegen die sengende Sonne blinzelnd. Er war überrascht, wie gut er dazwischen passte, aber dazwischen passen konnte er. Er passte auch zwischen Mama und Ingo, seinem 10 Jahre älteren Bruder und seit Ingo ausgezogen war, passte er auch zwischen Mama und Ken, ihrem neuen 15 Jahre jüngeren Freund, eigentlich 14 Jahre, 264 Tage und 9 Stunden! Aber so genau solle das wirklich niemand wissen, hatte Mama gestöhnt und wieder mit diesem flehenden Blick zum Himmel, “Oh dieser Junge!“ geseufzt. Das machte sie schon, seit er denken konnte, als er also noch ganz klein gewesen war.Dann wäre er am liebsten wie die Mäuse in ein Loch gekrochen. Obwohl er sich, wie er selber fand, oft ganz klein machte, war er Ken zu groß. Zu groß und zu viel! Hier draußen war sogar noch Platz um ihn herum , Bewegungsspielraum, den er nicht brauchte, nicht mehr. Die Arme eng an den Körper gepresst, fast wie die Soldaten im Counterstrikespiel, hatte er sich eingefügt. Benötigte den Adlerflügelspielraum für die Arme kaum. Im Rücken zwickte es ein wenig, eigentlich ein bisschen viel. Eigentlich bevorzugte er die Bauchlage, war in Erinnerung seiner vorgeburtlichen Eskapaden fast ein wenig stolz. Davon erzählte Mama oft, dass er schon da mit seiner Lage Schwierigkeiten gemacht hatte, er ein Kaiserschnitt wurde. Das klang so toll adelig, wenn Mama das sagte. Sie hatte sich Stunden mit ihm abgequält, weil er sich anders als andere Babies hingelegt hatte, eben quer, schon da ein Dickkopf, was er heute nicht mehr fand, fühlte er doch oft den Umfang seines Kopfes ab, Mamas Aussage, wie so oft, wörtlich nehmend. Er fand seinen Kopf eher klein, wie er ja überhaupt zu den Kleinen in seiner Klasse gehörte. Und dann hatten sie ihn erwartungsvoll aus Mamas Bauch herausgeschnitten, das Personal bestimmt enttäuscht über so einen kleinen blutigen schreienden unadeligen „Querschläger“. Das war der Beginn seines Lebens gewesen und er hatte gelesen, dass Menschen am Ende immer zurückblickten im Zeitraffertempo. „Zeitraffertempo“ war auch wieder so ein Wort, das Kinder eigentlich nicht benutzen, das tat man nicht. Immer musste er auffallen:  weil er  Worte so neu und lustig und fremd und spannend fand. Seine Deutschlehrerin gab sich begeistert, entzückt rief sie eins ums andere Mal: „Still, Kinder. Na, wie formuliert das unser kleines Sprachgenie?“ Das war ihm so peinlich, dass er sich bei ihr nicht mehr zu Wort meldete. „Sprachgenie, Sprachgenie!“, hatten die anderen gerufen, „spielt nicht mit dem, der ist doch so ein Genie, mit uns will der doch gar nichts zu tun haben.“ Er war halt so verdammt anders, hochbegabt sagten die Ärzte. „ Zu wenig Normalo, dein kleiner Typ!“ maulte Ken.

Mama fand es schlimm, dass er immer auffallen musste. Erschreckt bemerkte er nun, dass sein jetziges Vorhaben so zum Scheitern verurteilt war. Er lag tatsächlich schon wieder falsch. Natürlich, so konnte das nicht gehen, quer musste er hier liegen, quer und mit dem Kopf nach unten. Als er noch kleiner war, hatte er immer geglaubt, wenn man die Augen zu mache, würde man nicht mehr gesehen. Darauf hoffte er auch nun. Im übrigen konnte er nicht gesehen werden, er war recht sicher, hatte er sich doch bestimmt zwei Kilometer von der Bahnhofseinfahrt weggeschlichen.

Robotergleich greift sein Arm in die Eisen, zieht den Restkörper nach, die Füße reichen knapp bis zur gegenüberliegenden Seite. Er stützt seinen heute tatsächlich groß schweren Kopf auf den Armen ab , senkt ihn und drückt seine schweißnasse Stirn auf die Handoberflächen. Er findet es schön, dass die Hände sauber duften, nicht den Duft tragen all dessen, was er angefasst hatte. All das, was er nicht hätte anfassen dürfen, das Verbotene. Egal, was er anfasste, am Ende war die Mama traurig und weinte und musste wieder trinken oder diese blöden Tabletten nehmen, von denen sie dann so weg war. Dann weinte sie nicht mehr, aber dann war sie ganz weit weg, wie in Afrika. Und dabei wollte er doch eigentlich ein Glücksbringer für Mama und alle Menschen sein. Er schaffte gar nichts. Manchmal hatte er schon überlegt, sich die Hände anzuhacken, aber er war so ein verdammt ängstlicher Scheißer. Ein beschissener Hosenscheißer. Ja, nicht einmal das hatte er gekonnt, er war nicht sauber zu kriegen gewesen. Und darüber hatte Mama auch geweint, Krokodilstränen. So ein großer Junge, neun Jahre alt, wie er. In seiner Verzweiflung hatte er dann manchmal alles an die Wände geschmiert, braune Farbe, Eigenproduktion, kostenlos und reichhaltig vorhanden. Es hatte nicht geklappt , es wieder wegzukriegen, und das Malen an den Wänden hatte Spaß gemacht. Das hatte die Mama aus Afrika zurückgeholt und dann half nur noch der Stock. Er hoffte sehr, dass der Stock ein Zauberstab wäre, dass er helfen würde, und verdient hatte er es ja, aber bis jetzt hatte der Stock nicht viel ausgerichtet. Manchmal passierte das einfach, es schoss aus ihm heraus, genau so sturzbachartig wie die Gedanken, kreuz und quer und hoch und runter, wie die Figuren auf seinem Game – Boy. Falls Mama ihn nachher finden würde, konnte sie sich freuen: er hatte nicht einmal Spuren unter den Nägeln, seit neustem entfernte er die braun – kotigen Reste dort mit seiner knallgelben Zahnbürste. Nicht auszudenken allerdings, wenn Mama bemerkte, dass er sich seit Tagen die Zähne nicht mehr putzte, igitt, sich vorzustellen, dass das Zeug da in seinen Mund käme. Eklig!

Das war auch echt doof gewesen, dass er Kens beste coole Lederjacke zum Verkleiden aus dessen Schrank in sein Zimmer geholt hatte. Natürlich wie immer nicht weggeräumt und dass dann auch noch das Schlimme passiert war. Manchmal hatte er einfach pech. Eigentlich immer! Fasziniert hatte er zugesehen, wie sich sein cremiges Dunkel in das wildgrüne Wildleder gegraben hatte, interessante Formen zutage traten. Ein Zwergnase über Kens Jackentasche entstand, so weich und warm, kuschelig fast und er hatte gelacht, Fratzen geschnitten, Zwergnase hatte immer andere Formen angenommen. Im Spiel konnte er sich vergessen. Eigentlich hatte er immer jemanden zum Spielen, also nicht wirklich, jetzt flunkerte er, aber er tat so. Zum Beispiel die Figuren auf seinem T-Shirt, die waren immer dabei. Er fand es sogar peinlich, wenn sie ihm beim Pinkeln zusahen, dann hielt er das T – Shirt so hoch, dass nichts Intimes sichtbar wurde.
Er war ein echter Pingel, sagte auch Mama. Und ein kleiner Spinner, meinte Ken. Oh je, wenn Ken seine Jacke finden würde! In der Mülltonne würde er nicht suchen und mit der alten Tischdecke darüber waren nur Umrisse zu sehen gewesen. Aber auf Mülltonne würde der nicht kommen. Und heute war es heiß, warum sollte er gerade heute seine Jacke suchen. Oder? Ken tat manchmal unberechenbare komische Dinge und irgendwie wusste der immer alles. Panik stieg in ihm auf. Wenn Ken jetzt käme, sein Herz pochte wild. Aber noch konnte er das nicht bemerkt haben und so schnell konnte er nicht hier sein. Diese scheiß Gedanken sollten endlich aufhören, Scheiß, Scheiß Angst, scheiß Kopf, sein Kopf sollte absein und die schlimmen Hände auch. Einfach ratsch. Er krallte sich noch tiefer in die Eisen, spürte ein Wummern unter sich, das ihn ganzkörperlich erfasste. Endlich.

„Der Wupperexpress von Hagen nach Aachen über Rheydt, Erkelenz, Lindern trifft wenige Minuten später ein.“

Entfernt hörte er die nüchterne Lautsprecherstimme. Immer kamen alle zu spät, schon wieder, jetzt sogar der Zug, auf den er so dringlich wartete. Papa war das eine mal auch zu spät gekommen, und dann hatte es Mama gereicht, einmal zuviel meinte sie. Und sie hatte gesagt, dass sie mit so einem Unzuverlässigen nichts mehr zu tun haben wolle. Da hatte der Papa geschrieen und getobt, aber genützt hatte es ihm nichts, die Mama hatte ihn und Ingo genommen, war zu ihrer Mutter gegangen, weggezogen und seitdem hatte er keinen Papa mehr. Also, jedenfalls nicht einen, den er sah. Mama sagte, dass Papa kleine Hosenscheißer wie ihn eh hasste. Deshalb hätte der Papa ihn früher verprügelt. Klar, wie sollte der Papa ihn auch mögen. Er könne froh sein, dass er ihm nicht mehr begegnete, denn wenn der ihn zwischen die Finger kriegte, meinte die Mama…

Wie er jetzt wohl aussah? Ein zarter Kinderkörper , Kopf und Hände abschnittbereit auf den scharfkantigen Schienen präsentiert. Unsinnig sah das aus, sinnlos wahrscheinlich. Ohne Sinn, wie so vieles. Darüber dachte er oft nach, über den Sinn des Lebens. Mama mochte das nicht. “Das sind doch keine Gedanken für ein Kind!“, schimpfte sie. Die Schwester im Krankenhaus hatte ihm lange zugehört und nachdenklich gefragt: „ Wie willst du einen Sinn finden, wenn du deine Sinne nicht nutzt und schätzt.“ Das klang spannend, die Sinne nutzen, sich selbst schätzen. Und komisch! An ihm war vieles komisch, er konnte sich die verrücktesten Geschichten ausmalen, mit Menschen, die Kreide mit Ketchup aßen und für die die Sonne ein Schatz war, nicht Geld, sondern einfach Sonnenwärme. Mama wollte diese Geschichten nicht hören. „Fängst du wieder an, müssen wir dich wieder wegbringen?“ sagte sie dann und dann war er ganz schnell still. Er wollte nicht wieder in dieses Krankenhaus. Obwohl die da ganz schön nett zu ihm gewesen waren. Und die Schwester hatte sogar seine Hände geküsst und gemeint: „Du hast wunderbare Hände, Junge, du bist so ein wunderbares Kind.“ Das hatte so doll gekribbelt in seinem Bauch, fast so wie bei dem Kuss von Isa, er war ganz wild durch die Krankenstation gehüpft. Unmerklich lockerte er seinen Griff, die Beine suchten nach Boden. Kaum hörbar formten seine Lippen immer wieder dieselben Worte: „Ich bin ein wunderbares Kind.“