Wort und Tabu in Eltern-Kind-Beziehungen

Viele erwachsene Kinder aus belasteten Familien haben nie mit jemandem über ihre schwierige Lage Daheim gesprochen. Sie hätten eigentlich wenig darüber nachgedacht als Kind, heißt es oft, es sei eben einfach so gewesen , wie es nun mal war… und manch Betroffener bemerkt beim genaueren Hinschauen, wenn die Familie längst verlassen wurde, dass es ein Sprechverbot gab, über das Belastende zu sprechen, ja, teils sogar überhaupt darüber nachzudenken. Nehmen wir ein Beispiel: Die Familie hat die Sucht des erkrankten Elternteils tabuisiert, darüber wird nicht gesprochen, es wird bagatellisiert und verharmlost. Oft ist es für die betroffenen Kinder ein großes Ereignis, wenn sie ihre damit einhergehende Belastung erstmalig mit Worten belegen, sie vor sich selbst und in der Folge vor anderen benennen. Manche fühlen sich dann schlecht, fühlen sich als Verräter oder Denunzianten der Eltern. Philosoph Peter Bieri beschreibt dies im Zusammenhang der verlorengehenden Würde  treffend: „Wenn das Wort ausgesprochen ist, gibt es keinen Spielraum mehr für Verleugnung oder Beschönigung – keine Möglichkeit mehr zu tun, als sei das Unglück nicht der Fall.“ (Bieri, Eine Art zu leben, S.232). Das ausgesprochene Wort verändere die Beziehungen, sogar, wenn es nur gedacht sei.

Es scheint entscheidend, mit welchen Worten sie ihr  Elternteil belegen. Nehmen Sie sich ein paar Atemzüge Zeit: Denken Sie doch kurz einmal darüber nach, welche drei Worte Sie Ihrem „schwierigen“ Elternteil zuschreiben…was wurde für Sie persönlich zur Belastung?

Vielleicht sind Sie nun bei Diagnosen und Krankheitszuschreibungen gelandet, vielleicht steht dort: Sucht, Alkoholismus, Depression o.ä. Dann sind vielleicht gängige Diagnosen zu ihren eigenen Worten der Beschreibung geworden und sie könnten noch einmal überprüfen, ob Ihnen diese Kategorien, die aus medizinischen Klassifikationen abgeleitet wurden, heute noch ausreichen.

Unsere Worte können  Welt gestalten: sie können  etwas endlich klar scheinen lassen, sie können ebenso abstempeln und so jede Hoffnung aufgeben, sie können ebenso beschönigen wie verfremden. Auch die noch nicht gefundenen Worte gestalten unsere Beziehungen.

Eine wichtige Rolle kommt dabei den Tabus zu: Tabus können Beziehungen zersetzen, da sie ihnen die Echtheit entziehen. Authentizität geht verloren, sogar dann,wenn einer nur weiß, dass der andere sein Tabu kennt: da hat die Mutter ihren massiven Selbstverletzungsversuch in die Tabuecke gedrängt, er darf nicht mehr erwähnt werden, aber Mutter und Tochter wissen beide darum. Bleiben solche Tabus unbesprochen, werden keine Worte gefunden, sind die Eltern-Kind-Beziehungen schwer belastet – insbesondere die Kinder tragen dann ein schweres stummes Paket, an dem sie oft lebenslang leiden und oft selbst nicht mehr wissen, warum: auch aus ihrem Bewusstsein musste das Schreckliche dann verdrängt werden..

Weit verbreitet ist es auch, wenn endlich ein Wort gefunden wurde, dieses als alleiniges Beschreibungsmerkmal für das belastete Elternteil zu verwenden…Meine Mutter ist Alkoholikerin!…ein großer wichtiger Schritt, wenn das Kind erstmals dies aussprechen kann und es gilt mit der Zeit zugleich, mehr Worte zur Beschreibung zu finden. Manchmal hilft es Erwachsenen neben dem großen Schatten auch das Licht, die positive Seite, noch einmal in den Blick zu nehmen und so das elterliche Bild authentischer zu komplettieren.Die Mutter war Alkoholikerin,aber eben auch viel mehr.Sehen Sie mehr Schatten und wenig Licht,nur entweder oder,kaum und?

  Die gewählten Worte zur Beschreibung der eigenen Eltern genauer anzuschauen, förmlich mit der Lupe zu sezieren, kann ein lohnenswerter Akt sein: tut sich doch unsere Seele als Spiegel vor uns auf. Manchmal wehren sich Kinder gegen  Zuschreibungen an die Eltern, sie befürchten Etikettierungen…: „Alkoholiker- das klingt wie eine Gattungsbezeichnung und damit wie etwas, was einer unwiderruflich ist. Das nimmt ihm die offene Zukunft. Einer, der nur zuviel trinkt, kann aufhören. Ein Alkoholiker hat keine Chance mehr, es nicht zu sein.“ (Bieri ebenda)

In ihren Worten über ihre Eltern spiegeln sich Wünsche, Verzweiflungen und Hoffnungen der belasteten Kinder: diese Worte wollen gesprochen, gelebt oder auch geschrieben sein. Zur Sprache zurückzufinden über das Belastende, in der passenden, stimmigen Weise, kann ein bedeutender Schritt auf dem Weg zur Heilung sein, insbesondere, wenn es Betroffenen in der Kindheit die Sprache verschlagen hat(te). Denn: in einem belasteten System wird die Wahrheit oftmals zum Feind: man stempelt sie zur Lüge. Mitlügen wird zum Preis für Zugehörigkeit, nicht Sehen, Nicht Hören, nicht Sprechen die Eintrittskarte in den „Club“. Allein ist einem solchen System meist schwer beizukommen: es braucht Helfer, Beistand, aufrechten Widerstand und Allianzen, die meist erst auf einem längeren Lebensweg gefunden werden. Worte können solche Begleiter sein und werden, Worte Finden für Unausgesprochenes kann so ein Akt des Begreifens und Verstehens werden, der leibliche Spuren nachhaltig verändern kann.

So mag es manch einem Betroffene so ergehen, wie es Roger Willemsen in „Wer wir waren“  als Zeitphänomen des 3.Jahrtausends klug beschrieben hat: „Nicht wissen im Wissen zu behaupten; nicht gewusst zu haben werden, während man doch wusste“.

Herzliche Gruesse

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Schweigen – das stumme Leiden in belasteten Familien

Schweigen kann viele Gesichter haben. Während das Miteinanderschweigen in einer guten Atmosphäre des Miteinanders ein Ausdruck tiefer Verbundenheit sein kann, oder eine schweigende Gemeinschaft in einem Retreat Erholung und Getragensein ermöglicht, kennen viele Kinder belasteter Eltern besonders die Schattenseite des Schweigens: Schweigen in eisiger und gespannter Atmosphäre. Ein oftmals unbemerktes und unerkanntes Schreckensgesicht ihrer Kindheitstage, kommt es doch leise daher, ist kaum sichtbar und wird leicht überhört. Diese Kinder erinnern sich mit einem Schaudern an dieses in ihren Ohren dröhnende „eisige Schweigen“, oftmals eines Elternteils, an emotionale Kälte, die die gesamte Atmosphäre bestimmt, ihr zu Hause bewohnt und sich irgendwann in ihnen selbst niederlässt, zur unangenehmen inneren Heimat wird. Wenn die Mutter die Schweigende ist, so wird dies oft besonders schmerzlich erlebt, wenn diese von Beginn des Lebens an die meiste Zeit mit den KIndern verbringt und ihr Schweigen womöglich erpresserisch, machtvoll oder anderweitig nachteilig einsetzt

Wer zuerst spricht, hat verloren – Macht und Kontrolle durch Schweigen

Wenn Eltern beispielsweise selbst als Kinder wiederholt Ohnmachtserfahrungen machen mussten, dann sind sie gefährdet, Schweigen in ihrer elterlichen Rolle als Machtmittel einzusetzen. Schweigen wird dann zum Mittel durch das Kontrolle über andere ausgeübt wird. Die Familienmitglieder werden etwa solange ignoriert, „bekommen“ keine Worte, bis sie wieder so funktionieren, wie es dieser Elternteil erwartet. Der so agierende Elternteil siegt  so über seine eigene als Kind erlebte Ohnmacht, indem er nun Macht über die Kontaktgestaltung seiner Familienmitglieder ausübt. Er oder sie bestimmt, wann gesprochen wird und wann nicht. Schweigen wird manipulativ eingesetzt, kindliche Abhängigkeit sträflich missachtet und ausgenutzt

Wenn Krankheit stumm macht…und Kinder ins Leere laufen
Manchmal ist Schweigen Teil einer Erkrankung: maipulatives Schweigen kann etwa bei narzistisch und borderlinestrukturierten Menschen als Teil der Störung auftreten. In der elterlichen Depression begegnen Kinder einer anderen Form des Schweigens: die mit der Erkrankung oft einhergehende Teilnahmslosigkeit prägt dann auch die Interaktionen zwischen Eltern und Kind. Dies  führt dazu, dass Reaktionen auf kindliche Fragen ausbleiben, kaum Einfühlung und Mitgefühl ausgedrückt wird, Kinder gefuehlt wiederholt ins Leere laufen. Dem depressiv Erkrankten ist dies meist nicht bewusst. Wird es ihm doch bewusst, verursacht es ihm weitere Schuldgefühle, die in der Erkrankungszeit schwer aushaltbar sind. Kinder von erkrankten Eltern brauchen dringend Hilfen von anderen Menschen: denn wenn Kinder diese Leere-Erfahrungen über längere Zeit und in den ersten Lebensjahren machen müssen, kann das nachhaltige Auswirkungen für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung haben, die weit in das Erwachsenenalter hineinreichen, hier insbesondere als Selbstwert-und Bindungsprobleme oder auch als quälende Einsamkeitsgefühle

Kollektives Schweigen: wenn das Tabu das Zepter schwingt

Besonders dramatisch ist das kollektive familiäre Schweigen, wenn einem Familienmitglied ein großes Leid zugefügt wird und darüber geschwiegen wird, wenn Missbrauch oder Gewaltanwendung durch Eltern stillschweigend geduldet wird, wenn das Wahren des Tabus stärker zählt als die Würde des betroffenen Kindes. Die Missbrauchs- oder Gewalterfahrung ist das eine, die fehlende Unterstützung durch die anderen Familienmitglieder, so beschreiben es Betroffene, ist eine weitere Quelle des Leidens, die teils traumatisch erlebt wird. Ebenso leiden oftmals Geschwisterkinder, die in ihrer Hilflosigkeit Gewalt mitansehen müssen und dem familiären Tabu stillschweigend verpflichtet werden. Der Nachhall in das erwachsene Leben ist gewaltig. Kinder in  tabuisierenden Familien brauchen achtsame Menschen außerhalb des direkten Familiensystems, die in Loyalität die Wahrnehmung der KInder stärken, eine Zuflucht außerhalb anbieten, und zunächst das Schweigen der Kinder respektieren. Manche finden diese Personen erst als Erwachsene, manche müssen aus ihren Familien genommen werden. Andere leiden insbesondere unter elterlicher Gewalt, wenn Eltern pflegebdürftig und zugleich machtvoll werden. Auch triggern neuerliche Bedrohungsszenarien die erlebte Hilflosigkeit aus Kindheitstagen.

Wenn Leid stumm macht – Leben mit traumatisierten Eltern

Auch Kinder traumatisierter Eltern beschreiben Erfahrungen mit elterlichem Schweigen: so müssen sie etwa erleben, dass die Eltern über erlebten Schrecken verstummt sind und/oder Teile von sich abspalten (in der Fachsprache auch dissoziieren genannt). Sie sprechen partiell nicht oder verstummen, wenn bestimmte Themen oder Gefühle zur Sprache kommen (tragisch eindrücklich etwa bei Kriegsgeschädigten zu beobachten). Ein Beispiel einer solch nachhaltigen Auswirkung und die damit verbundenen Folgen für das Kind beschreibt der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil eindrucksvoll in seinem autobiografischen Buch Die Erfindung des Lebens.

Wenn Vater da war, war jedoch alles viel einfacher, ich war dann erleichtert, weil ich dann nicht mehr allein auf Mutter aufpassen musste. Immerzu befürchteten Vater und ich nämlich, es könnte ihr etwas zustoßen…Ich wusste aber, dass so etwas früher einmal passiert war, und ich wusste auch, dass es etwas ganz besonders Schlimmes gewesen sein musste…gegenwärtig war die Vergangenheit in Mutters Stummsein.“ ( S. 13/14)

„…als wäre ich in meinen ersten Lebensjahren wahrhaftig nur mit zwei Menschen in Berührung gekommen und hätte in einer Art verschwiegenem Geheimbund mit nur den notwendigsten Außenkontakten gelebt.“ (S.43)

„So war die Welt der Kleinfamilie Catt damals, in den frühen fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, auf eine beinahe unheimliche Weise geschlossen, und jeder von uns wachte mit all seinen Sinnen darüber, dass sich daran nichts änderte (S.16)

Wie Worte erlösen können

In der Kindheit erlebtes Schweigen bleibt nicht folgenlos. Wer über Jahre und manchmal gar Jahrzehnte ins Leere gelaufen ist, ist oftmals stark selbstverunsichert. „Ich bin unattraktiv… Ich bin langweilig… Ich bin es einfach nicht wert, dass andere auf mich reagieren…lauten dann  Selbstzuschreibungen im Erwachsenenalter. Das Schweigen aus der Kindheit kann weiteres Leiden in den Partnerschaften der derart Aufgewachsenen verursachen. Oftmals ziehen sich derart Betroffene wie in einem unguten Schlüssel-Schloss-Prínzip an, sie finden exakt diejenigen, mit denen sie dieses schweigende Kindheitsdrama wiederholen. Manche nehmen unbewusst das schweigende Elternteil zum Modell, etwas, was sie partout vermeiden wollten: sie werden selbst zu schweigenden Partnern, schweigenden Vätern oder schweigenden Mütter.

Sie fühlen sich betroffen? Wenn Sie um Ihre eigenen Worte schwer ringen müssen, können kreative Wege für sie ein Mittel der Wahl sein. Dazu finden sie auf diesen Seiten einige Anregungen. Wenn Sie um die Worte eines anderen Menschen bis heute kämpfen müssen, sich gar durch Wohlverhalten Worte „erst verdienen“ müssen, dann scheinen Sie und Ihre Seele an diesem Ort nicht gut aufgehoben. Wenn Ich-Botschaften wie „Ich leide, wenn du nicht mit mir sprichst!“, ohne jeden Nachhall ins Leere verklingen, ist Unterstützung von anderen Menschen sicher hilfreich und von Nöten: Sie sind heute kein Kind mehr, Sie sind nicht abhängig wie früher (auch wenn sich das manchmal so anfühlt). Durchbrechen Sie die Kette: sprechen sie Worte, suchen sie „Erlösung“ – bei anderen, die Ihnen gern Ohren und Worte schenken.

(Text in Anlehnung an Geiser-Heinrichs/Barnowski-Geiser (2017): Meine schwierige Mutter)

Produkt-InformationBuchdeckel „978-3-608-86121-1

„Sie brauchen Struktur!“- von Ratschlägen, Tipps, Sinn und Unsinn in Corona-Zeiten

„Sie brauchen Struktur!“ schreibt es gerade von überall. „7 Tipps gegen die Corona-Angst!“ twittert, instagramed und facebooked es. So viele Tipps und Ratschläge zum Umgang mit der Corona-Krise erreichen uns gerade. Ich finde es wunderbar, dass viele Menschen sich Gedanken um andere machen, helfen wollen und Hilfe auch konkret und selbstlos anbieten. Tipps und Ratschläge können nach meinen Erfahrungen durchaus als kurzfristige Krisenhelfer wirken. Langfristig werden wir jedoch  unseren persönlichen Umgang, unsere individuelle Bewältigung der Krise finden müssen- und dies gelingt, so zeigen eindrucksvolle Arbeiten, etwa vom Begründer der Logotherapie Victor Frankl, nur über  etwas sehr zentrales in unser aller Leben: Sinn! 20170713_204157!

Krise als Wendepunkt

Wenn wir neben allen bemühten Verhaltenstipps und Strukturplänen, unter der scheinbaren „Machbarkeit“ nicht unsere persönliche Sinnfindung betreiben, droht dies alles zur bloßen Makkulatur zu degenerieren- Chance vertan!  Sinn finden, sich auf den eigenen Grund zu bewegen, das braucht vor allem Zeit, Muße und Vertrauen auf den Wandel. Der Weg hin zu uns selbst muss ebenso individuell gefunden werden: für manche in der Meditation, im Gehen, in der Gedankenstoppleere, im Entdecken der Natur, neuen Begeisterungen, oft schlichtweg im „einfach Sein“. Und das ist alles andere als „einfach“. Krisen bezeichnen dem Wortsinn nach Wendepunkte- also greift die Frage: Wann wird es endlich wieder so wie früher? m.E. zu kurz. Wie wird es anders besser? , frage ich mich.Krisenbewältigung erfordert ein Einlassen auf das Hier und Jetzt, die Akzeptanz, dass es genaus so gerade ist, und nicht anders. In dieser Fähigkeit mussten sich Kindheitsbelastete oft früh erproben – manche wurden wahre Meister des „Dennoch“ – Meister darin, in schwierigsten Familiensituationen Dennoch Sinn zu ergründen, zu finden, zu stiften –  sie vergessen nur allzuoft ihre Meisterschaft, fühlen sich stattdessen, verständlich oft durch das wiederholt im Außen Erlebte, klein und hilflos…

Wir wissen nicht, wielange diese Krise dauern wird: Ist es wirklich erst einige Wochen her, als ich mein Leben noch nach vorne plante, mit einigen Unwägbarkeiten, aber auch viel verlässlich Erscheinendem im Gepäck?  Werden wir irgendwann auch, wie unsere Eltern früher unsere Erzaehlungen beginnen mit, „Damals vor Corona“, wie wir es als „Damals vor/nach dem Krieg“ aus  Schilderungen der Älteren vertraut kennen?

Ich wünsche Ihnen, dass Sie im Vertrauen auf den Wandel– so schwer das gerade auch erscheint- in dieser Jetzt-Corona-Zeit  Neues, Sinnstiftendes entdecken – Ihre Meisterschaft ausbauen!

Einen guten Sonntag, bleiben Sie gesund, das wünscht von Herzen

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser 

Haben Sie schon Worte…oder hat es Ihnen die Sprache verschlagen? – Tabu und Wort in Eltern-Kind-Beziehungen

Viele erwachsene Kinder aus belasteten Familien haben nie mit jemandem über ihre schwierige Lage Daheim gesprochen. Sie hätten eigentlich wenig darüber nachgedacht als Kind, heißt es oft, es sei eben einfach so gewesen , wie es nun mal war… und manch Betroffener bemerkt beim genaueren Hinschauen, wenn die Familie längst verlassen wurde, dass es ein Sprechverbot gab, über das Belastende zu sprechen, ja, teils sogar überhaupt darüber nachzudenken. Nehmen wir ein Beispiel: Die Familie hat die Sucht des erkrankten Elternteils tabuisiert, darüber wird nicht gesprochen, es wird bagatellisiert und verharmlost. Oft ist es für die betroffenen Kinder ein großes Ereignis, wenn sie ihre damit einhergehende Belastung erstmalig mit Worten belegen, sie vor sich selbst und in der Folge vor anderen benennen. Manche fühlen sich dann schlecht, fühlen sich als Verräter oder Denunzianten der Eltern. Philosoph Peter Bieri beschreibt dies im Zusammenhang der verlorengehenden Würde  treffend: „Wenn das Wort ausgesprochen ist, gibt es keinen Spielraum mehr für Verleugnung oder Beschönigung – keine Möglichkeit mehr zu tun, als sei das Unglück nicht der Fall.“ (Bieri, Eine Art zu leben, S.232). Das ausgesprochene Wort verändere die Beziehungen, sogar, wenn es nur gedacht sei.

Es scheint entscheidend, mit welchen Worten sie ihr belastetes Elternteil belegen. Nehmen Sie sich ein paar Atemzüge Zeit: Denken Sie doch kurz einmal darüber nach, welche drei Worte Sie Ihrem belasteten Elternteil zuschreiben…was wurde für Sie persönlich zur Belastung?

Vielleicht sind Sie nun bei Diagnosen und Krankheitszuschreibungen gelandet, vielleicht steht dort: Sucht, Alkoholismus, Depression o.ä. Dann sind vielleicht gängige Diagnosen zu ihren eigenen Worten der Beschreibung geworden und sie könnten noch einmal überprüfen, ob ihnen diese Kategorien, die aus medizinischen Klassifikationen abgeleitet wurden, heute noch reichen.

Unsere Worte können  Welt gestalten: sie können  etwas endlich klar scheinen lassen, sie können ebenso abstempeln und so jede Hoffnung aufgeben, sie können ebenso beschönigen wie verfremden. Auch die noch nicht gefundenen Worte gestalten unsere Beziehungen.

Eine wichtige Rolle kommt dabei den Tabus zu: Tabus können Beziehungen zersetzen, da sie ihnen die Echtheit entziehen. Authentizität geht verloren, sogar dann,wenn einer nur weiß, dass der andere sein Tabu kennt: da hat die Mutter ihren massiven Selbstverletzungsversuch in die Tabuecke gedrängt, er darf nicht mehr erwähnt werden, aber Mutter und Tochter wissen beide darum. Bleiben solche Tabus unbesprochen, werden keine Worte gefunden, sind die Eltern-Kind-Beziehungen schwer belastet – insbesondere die Kinder tragen dann ein schweres stummes Paket, an dem sie oft lebenslang leiden und oft selbst nicht mehr wissen, warum: auch aus ihrem Bewusstsein musste das Schreckliche dann verdrängt werden..

Weit verbreitet ist es auch, wenn endlich ein Wort gefunden wurde, dieses als alleiniges Beschreibungsmerkmal für das belastete Elternteil zu verwenden…Meine Mutter ist Alkoholikerin!…ein großer wichtiger Schritt, wenn das Kind erstmals dies aussprechen kann und es gilt mit der Zeit zugleich, mehr Worte zur Beschreibung zu finden. Manchmal hilft es Erwachsenen neben dem großen Schatten auch das Licht, die positive Seite, noch einmal in den Blick zu nehmen und so das elterliche Bild authentischer zu komplettieren.

  Die gewählten Worte zur Beschreibung der eigenen Eltern genauer anzuschauen, förmlich mit der Lupe zu sezieren, kann ein lohnenswerter Akt sein: tut sich doch unsere Seele als Spiegel vor uns auf. Manchmal wehren sich Kinder gegen  Zuschreibungen an die Eltern, sie befürchten ungute Etikettierungen…und auch dies kann sinnvoll sein: „Alkoholiker- das klingt wie eine Gattungsbezeichnung und damit wie etwas, was einer unwiderruflich ist. Das nimmt ihm die offene Zukunft. Einer, der nur zuviel trinkt, kann aufhören. Ein Alkoholiker hat keine Chance mehr, es nicht zu sein.“ (Bieri ebenda)

In ihren Worten über ihre Eltern spiegeln sich Wünsche, Verzweiflungen und Hoffnungen der belasteten Kinder: diese Worte wollen gesprochen, gelebt oder auch geschrieben sein. Zur Sprache zurückzufinden über das Belastende, in der passenden, stimmigen Weise, kann ein bedeutender Schritt auf dem Weg zur Heilung sein, insbesondere, wenn es Betroffenen in der Kindheit die Sprache verschlagen hat(te). Denn: in einem belasteten System wird die Wahrheit oftmals zum Feind: man stempelt sie zur Lüge. Mitlügen wird zum Preis für Zugehörigkeit, nicht Sehen, Nicht Hören, nicht Sprechen die Eintrittskarte in den „Club“. Allein ist einem solchen System meist schwer beizukommen: es braucht Helfer, Beistand, aufrechten Widerstand und Allianzen, die meist erst auf einem längeren Lebensweg gefunden werden. Worte können solche Begleiter sein und werden, Worte Finden für Unausgesprochenes kann so ein Akt des Begreifens und Verstehens werden, der leibliche Spuren nachhaltig verändern kann.

So mag es manch einem Betroffene so ergehen, wie es Roger Willemsen in „Wer wir waren“  als Zeitphänomen des 3.Jahrtausends klug beschrieben hat: „Nicht wissen im Wissen zu behaupten; nicht gewusst zu haben werden, während man doch wusste“.

Schweigen – das stumme Leiden in belasteten Familien

Schweigen kann viele Gesichter haben. Während das Miteinanderschweigen in einer guten Atmosphäre des Miteinanders ein Ausdruck tiefer Verbundenheit sein kann, oder eine schweigende Gemeinschaft in einem Retreat Erholung und Getragensein ermöglicht, kennen viele Kinder belasteter Eltern besonders die Schattenseite des Schweigens: Schweigen in eisiger und gespannter Atmosphäre. Ein oftmals unbemerktes und unerkanntes Schreckensgesicht ihrer Kindheitstage, kommt es doch leise daher, ist kaum sichtbar und wird leicht überhört. Diese Kinder erinnern sich mit einem Schaudern an dieses in ihren Ohren dröhnende „eisige Schweigen“, oftmals eines Elternteils, an emotionale Kälte, die die gesamte Atmosphäre bestimmt, ihr zu Hause bewohnt und sich irgendwann in ihnen selbst niederlässt, zur unangenehmen inneren Heimat wird. Wenn die Mutter die Schweigende ist, so wird dies oft besonders schmerzlich erlebt, wenn diese von Beginn des Lebens an die meiste Zeit mit den KIndern verbringt und ihr Schweigen womöglich erpresserisch, machtvoll oder anderweitig nachteilig einsetzt

Wer zuerst spricht, hat verloren – Macht und Kontrolle durch Schweigen

Wenn Eltern beispielsweise selbst als Kinder wiederholt Ohnmachtserfahrungen machen mussten, dann sind sie gefährdet, Schweigen in ihrer elterlichen Rolle als Machtmittel einzusetzen. Schweigen wird dann zum Mittel durch das Kontrolle über andere ausgeübt wird. Die Familienmitglieder werden etwa solange ignoriert, „bekommen“ keine Worte, bis sie wieder so funktionieren, wie es dieser Elternteil erwartet. Der so agierende Elternteil siegt  so über seine eigene als Kind erlebte Ohnmacht, indem er nun Macht über die Kontaktgestaltung seiner Familienmitglieder ausübt. Er oder sie bestimmt, wann gesprochen wird und wann nicht. Schweigen wird manipulativ eingesetzt, kindliche Abhängigkeit sträflich missachtet und ausgenutzt

Wenn Krankheit stumm macht…und Kinder ins Leere laufen
Manchmal ist Schweigen Teil einer Erkrankung: maipulatives Schweigen tritt etwa bei narzistisch und borderlinestrukturierten Menschen als Teil der Störung auf. In der elterlichen Depression begegnen Kinder einer anderen Form des Schweigens: die mit der Erkrankung oft einhergehende Teilnahmslosigkeit prägt dann auch die Interaktionen zwischen Eltern und Kind. Dies  führt dazu, dass Reaktionen auf kindliche Fragen ausbleiben, kaum Einfühlung und Mitgefühl ausgedrückt wird, Kinder wiederholt ins Leere laufen. Dem depressiv Erkrankten ist dies meist nicht bewusst. Wird es ihm doch bewusst, verursacht es ihm weitere Schuldgefühle, die in der Erkrankungszeit schwer aushaltbar sind. Kinder von erkrankten Eltern brauchen dringend Hilfen von anderen Menschen: denn wenn Kinder diese Leere-Erfahrungen über längere Zeit und in den ersten Lebensjahren machen müssen, kann das nachhaltige Auswirkungen für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung haben, die weit in das Erwachsenenalter hineinreichen, hier insbesondere als Selbstwert-und Bindungsprobleme oder auch als quälende Einsamkeitsgefühle

Kollektives Schweigen: wenn das Tabu das Zepter schwingt

Besonders dramatisch ist das kollektive familiäre Schweigen, wenn einem Familienmitglied ein großes Leid zugefügt wird und darüber geschwiegen wird, wenn Missbrauch oder Gewaltanwendung durch Eltern stillschweigend geduldet wird, wenn das Wahren des Tabus stärker zählt als die Würde des betroffenen Kindes. Die Missbrauchs- oder Gewalterfahrung ist das eine, die fehlende Unterstützung durch die anderen Familienmitglieder, so beschreiben es Betroffene, ist eine weitere Quelle des Leidens, die teils traumatisch erlebt wird. Ebenso leiden oftmals Geschwisterkinder, die in ihrer Hilflosigkeit Gewalt mitansehen müssen und dem familiären Tabu stillschweigend verpflichtet werden. Der Nachhall in das erwachsene Leben ist gewaltig. Kinder in  tabuisierenden Familien brauchen achtsame Menschen außerhalb des direkten Familiensystems, die in Loyalität die Wahrnehmung der KInder stärken, eine Zuflucht außerhalb anbieten, und zunächst das Schweigen der Kinder respektieren. Manche finden diese Personen erst als Erwachsene, manche müssen aus ihren Familien genommen werden. Andere leiden insbesondere unter elterlicher Gewalt, wenn Eltern pflegebdürftig und zugleich machtvoll werden. Auch triggern neuerliche Bedrohungsszenarien die erlebte Hilflosigkeit aus Kindheitstagen.

Wenn Leid stumm macht – Leben mit traumatisierten Eltern

Auch Kinder traumatisierter Eltern beschreiben Erfahrungen mit elterlichem Schweigen: so müssen sie etwa erleben, dass die Eltern über erlebten Schrecken verstummt sind und/oder Teile von sich abspalten (in der Fachsprache auch dissoziieren genannt). Sie sprechen partiell nicht oder verstummen, wenn bestimmte Themen oder Gefühle zur Sprache kommen (tragisch eindrücklich etwa bei Kriegsgeschädigten zu beobachten). Ein Beispiel einer solch nachhaltigen Auswirkung und die damit verbundenen Folgen für das Kind beschreibt der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil eindrucksvoll in seinem autobiografischen Buch Die Erfindung des Lebens.

Wenn Vater da war, war jedoch alles viel einfacher, ich war dann erleichtert, weil ich dann nicht mehr allein auf Mutter aufpassen musste. Immerzu befürchteten Vater und ich nämlich, es könnte ihr etwas zustoßen…Ich wusste aber, dass so etwas früher einmal passiert war, und ich wusste auch, dass es etwas ganz besonders Schlimmes gewesen sein musste…gegenwärtig war die Vergangenheit in Mutters Stummsein.“ ( S. 13/14)

„…als wäre ich in meinen ersten Lebensjahren wahrhaftig nur mit zwei Menschen in Berührung gekommen und hätte in einer Art verschwiegenem Geheimbund mit nur den notwendigsten Außenkontakten gelebt.“ (S.43)

„So war die Welt der Kleinfamilie Catt damals, in den frühen fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, auf eine beinahe unheimliche Weise geschlossen, und jeder von uns wachte mit all seinen Sinnen darüber, dass sich daran nichts änderte (S.16)

Wie Worte erlösen können

In der Kindheit erlebtes Schweigen bleibt nicht folgenlos. Wer über Jahre und manchmal gar Jahrzehnte ins Leere gelaufen ist, ist oftmals stark selbstverunsichert. „Ich bin unattraktiv… Ich bin langweilig… Ich bin es einfach nicht wert, dass andere auf mich reagieren…lauten dann  Selbstzuschreibungen im Erwachsenenalter. Das Schweigen aus der Kindheit kann weiteres Leiden in den Partnerschaften der derart Aufgewachsenen verursachen. Oftmals ziehen sich derart Betroffene wie in einem unguten Schlüssel-Schloss-Prínzip an, sie finden exakt diejenigen, mit denen sie dieses schweigende Kindheitsdrama wiederholen. Manche nehmen unbewusst das schweigende Elternteil zum Modell, etwas, was sie partout vermeiden wollten: sie werden selbst zu schweigenden Partnern, schweigenden Vätern oder schweigenden Mütter.

Sie fühlen sich betroffen? Wenn Sie um Ihre eigenen Worte schwer ringen müssen, können kreative Wege für sie ein Mittel der Wahl sein. Dazu finden sie auf deisen Seiten einige Anregungen. Wenn Sie um die Worte eines anderen Menschen bis heute kämpfen müssen, sich gar durch Wohlverhalten Worte „erst verdienen“ müssen, dann sind sie und ihre Seele an diesem Ort nicht gut aufgehoben. Wenn Ich-Botschaften wie „Ich leide, wenn du nicht mit mir sprichst!“, ohne jeden Nachhall ins Leere verklingen, ist Unterstützung von anderen Menschen sicher hilfreich und von Nöten: Sie sind heute kein Kind mehr, Sie sind nicht abhängig wie früher (auch wenn sich das manchmal so anfühlt). Durchbrechen Sie die Kette: sprechen sie Worte, suchen sie „Erlösung“ – bei anderen, die Ihnen gern Ohren und Worte schenken.

(Text in Anlehnung an Geiser-Heinrichs/Barnowski-Geiser (2017): Meine schwierige Mutter)

Produkt-InformationBuchdeckel „978-3-608-86121-1

Meine schwierige Mutter.Das Buch für erwachsene Töchter und Söhne

Auch als Kind einer schwierigen Mutter ist es möglich, im Erwachsenenalter ein gutes Leben zu führen und den Ballast des Elternhauses abzuwerfen. Die Autorinnen zeigen konkrete Wege dorthin mit kreativen Übungen, Selbsttest und Möglichkeiten der Selbstreflexion. Mehr Info Klett-Cotta-Verlag

„Ein intelligenter, differenzierter und elaborierter Ratgeber…der den Leser durch Vielschichtigkeit und Fülle fordert.“

Jens Flassbeck auf socialnet

Erschienen im Klett-Cotta Verlag, 2.Auflage 2019, 175 Seiten, 17€

Ich freue mich, dass dieses Buch in Zusammenarbeit mit meiner Tochter Maren Geiser-Heinrichs entstehen konnte

Leere-ueber einen heimlichen Beziehungskiller und wie Sie ihm auf die Spur kommen

Verzweifelte Paare, die in die Therapie kommen, haben manchmal Schwierigkeiten zu beschreiben, was ihr eigentliches Problem ist: der Kern der Probleme ist dann oftmals wenig mit Worten auszumachen. Irgendwie ungreifbar erscheinen ihre Beziehungsprobleme: Man streite sich wenig, es gäbe aber auch wenig Höhen, wenig Tiefen… aber irgendwie sei die Luft raus, heißt es dann. Stumm und verzweifelt, meist resigniert, wirken die derart Betroffenen. Arbeitet man als Therapeutin mit der eigenen Resonanz zum Geschehen, so wird ein ungeliebtes Gefühl spürbar, von dem die Paarthematik dominiert wird: Leere. Leere kann ein Beziehungskiller sein, der unerkannt, im Verborgenen sein Unwesen treibt.

Gar nicht schlimm?

Leere – wenn dieses Gefühl vorherrschend ist, klingt das für Menschen, die mit diesem Gefühl wenig anfangen können (da sie noch kaum Berührung damit hatten oder auch wenig darum wissen und es somit auch nicht wahrnehmen), wenig schlimm. „Leer“, das ist für sie nah an „Es ist doch nichts“, oder auch nah an einem Zustand, den es doch laut Meditations-und Kontemplationsformen gerade zu erreichen gilt. Der erstrebte Geisteszustand der Versenkung ist hier jedoch nicht am Werk, sondern etwas quälend Anderes, das offenbar schwer zu beschreiben ist -. Leere als „Nichts-Ist“. Wenn „nichts ist“, wie kann man dann darunter leiden? Leere kann, wie wir noch sehen werden, tatsächlich sehr unterschiedliche Qualitäten haben. Leere ist alles andere als „nichts“: wie wird quälend erlebt, versetzt in Starre, stumm machend, verbunden mit tiefen Einsamkeitsgefühlen, gepaart mit Antriebs- und Hoffnungslosigkeit, nah an dem, was man landläufig mit „depressiv“ verbindet. So und ähnlich beschrieben Betroffene nach allmählicher Annäherung ihr Tal der Leere. Oft überdeckt Leere andere starke Gefühle, betäubt, anästhetisiert, wie es in der Fachsprache heißt.

Das Drama der Leere im Dopelpack: Beziehungsleere

Die hier beschriebene Form der Leere möchte ich als biografisch verwurzelte Beziehungsleere bezeichen. Betroffene kennen Beziehungsleere dann seit Kindheitstagen: sie sind als Kinder bei ihren Eltern  ständig ins Leere gelaufen, wurden in der Leere stehen gelassen (zum Beispiel nach Trennungen der Eltern oder mit schweren Erkrankungen, hier oftmals nur für Stunden des Tages, aber auch hier mit nachhaltigen Verlust- und Ohnmachtserfahrungen gekoppelt), oder/und erfuhren kaum Resonanz auf ihnen wichtige Gefühle und Ereignisse. Diese Grunderfahrung der Leere, insbesondere in ersten wichtigen Beziehungen, kann dazu führen, dass diese Kinder als Erwachsene weiter suchen, um endlich einen Menschen zu finden, bei dem es eine Auflösung gibt für die in der Kindheit so schmerzlich erfahrene Leereerfahrung. Besonders schwierig wird es, wenn beide Partner als Kinder Leereerfahrungen gemacht haben – und zugleich keine angemessenen Auflösungen gefunden haben. Im ungünstigen Falle verstummen und erstarren dann beide Partner, beide „Kinder der Leere“. Trotz bester Absichten, trotz eigentlich vorhandener Liebe, steckt dann die Liebe im Leere – Drama fest. Oft endet dies mit Trennung und wiederholt sich tragischer Weise, wird der Prozess nicht erkannt, mit neuen Partnern, nur in anderer Besetzung.

Gefangen in der Leere- wenn ungute Beziehungen kein Ende finden

Menschen mit existenziellen Beziehungsleereerfahrungen treffen aud wundersam anmutende Weise immer wieder  auf andere Menschen, die ähnliche Kindheitserfahrungen gemacht haben und bei näherem Betrachten in Bindungsmustern starke Ähnlichkeit mit ihren Eltern zeigen. Die neuronalen Prägungen ziehen in Resonanz magnetisch Vertrautes an: nur unter jeweils anderen Gewändern. Wenn die Partner-Wahl auf jemanden gefallen ist, an dem ungute Erfahrungen wiederholt werden (etwa mit Suchtkranken oder bindungsunfähhigen Partnern), dann ist der Beziehungsalltag meist massiv belastet,  dann mutet es für Außenstehende wundersam an, dass Betroffene ihre Partner, trotz fortwährend beschriebener negativer Erfahrungen, nicht verlassen oder wie sie es selber erleben, nicht verlassen können. Für die Betroffenen selbst ergibt ihr Verhalten auf einer tieferen Ebene durchaus Sinn: sie hoffen, dass die Geschichte diesmal doch endlich einmal gut ausgehen möge. Es ist in ihnen etwas offen geblieben, in der Gestalttherapie spricht man von der offenen Gestalt, die geschlossen werden muss. Bei Trennungshemmung trotz unzumutbarem Beziehungsgeschehen sind oft kindliche Leereerfahrungen wirkmächtig: da auch die mit Trennungen einhergehende befürchtete Leere  unaushaltbar erscheint, wirkt Trennen letztlich schlimmer als Bleiben, ebenso wie die Hoffnung, dass es doch noch gut ausgeht und die offene Gestalt sich schließen kann, ebenso. Oftmals kehren diese Betroffenen auch nach ersten Trennungsschritten wieder um, da die sich ihnen auftuende Leere als unüberwindbarer Abgrund erscheint: Allein-Sein löst  beängstigende Leeregefühle aus, fällt auf traumatisch besetzten Boden. Betroffene haben noch keinen Weg gefunden, wie ihr Leben, abseits einer Beziehungsfixierung, erfüllt sein könnte: eine Wüste der Leere muss durchschritten werden, mit vielen Tälern von Einsamkeits- und Sinnlosigkeitsgefühlen, die neben anderen massiven Gefühlen unter der Leere verborgen sind. Kann dieses Leere – Erleben verwandelt werden, ist manchmal auch eine Partnerschaft wieder möglich – und erfüllt. Damit dies möglich wird, müssen beide Partner aktiv werden.

Kreativ-Coaching: Wege aus der Leere

Selten ist es Betroffenen bewusst, unter „Leere“ zu leiden…Betroffene beschreiben mehrheitlich Diffuses und nicht Greifbares, Leere tritt erst allmählich zutage. Wenn Sie sich mit Ihren Leeregefühlen stärker auseinandersetzen möchten, können das kreative Tun im Kreativ-Coaching der Woche ein erster Anstoß für Ihren Prozess sein. Wenn Ihr Partner dazu bereit ist, kann es bereichernd sein, zusammen zu gestalten und anschließend darüber zu sprechen. Auf kreativem Weg können Sie auf ungewöhnliche Weise etwas über sich erfahren, indem Sie vertraute Wege verlassen und neue Gehen…die Veränderung passiert unmerklich, spielerisch, je mehr Sie sich einfach von Ihrer Aufgabe mitreißen lassen.

Für die heutige Übung brauchen Sie mindestens 30 Minuten Zeit, ein großes Blatt und ein paar alte Zeitschriften, die Sie nicht mehr benötigen, mit Bildern, die sie ausschneiden können sowie ein paar Stifte.

Beginnen Sie nun mit dem Gestalten einer Collage: Knicken Sie zunächst ein größeres Blatt in drei gleich große Teile, sodass drei senkrechte Spalten entstehen. Gestalten Sie auf die linke Seite ein Bild, das die Überschrift „Leere“ trägt…

….auf die äußerst rechte Seite nun ein Bild, das für Sie das Gegenteil darstellt.

Betrachten Sie beides und gestalten nun in die Mitte Verbindungen zwischen beiden Seiten. Finden Sie auch für diese beiden Seiten eine Überschrift.

Wenn Sie gern weiterarbeiten möchten, gehen Sie nun noch einen Schritt weiter: stellen Sie sich vor, dass Ihre Collage Schauplatz eines Märchens ist. Lassen Sie diese Geschichte auf der linken Seite beginnen. Starten Sie mit dem Satz „Das hatte sie nicht erwartet“… Was ist davor passiert? Schreiben Sie einfach los und lassen Sie die Geschichte sich weiterentwickeln bis sie gedanklich auf der rechten Seite Ihrer Collage angekommen sind.

Welche hilfreichen Aspekte können  Sie aus Ihrer Collage gewinnen,  und  welche aus Ihrer Geschichte?

Sprechen Sie mit Ihrem Partner, wenn möglich…

Wenn Ihnen die kreative Arbeit Freude macht, liefert das Buch von Nick Bantock weitere Anregungen. Wenn Sie sich näher mit abhängigen Beziehungen beschäftigen möchten, ist sicher  Ich will mein Leben zurück von Jens Flassbeck interessant.

Du bist ein Künstler - Nick BantockBuchdeckel „978-3-608-86045-0

Gute Ostertage und Raum für Neues wünscht

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Schweigen…Über die vielen Gesichter eines stummen Leidens

Schweigen kann viele Gesichter haben. Während das Miteinanderschweigen in einer guten Atmosphäre des Miteinanders ein Ausdruck tiefer Verbundenheit sein kann, oder eine schweigende Gemeinschaft in einem Retreat Erholung und Getragensein ermöglicht, kennen viele Kinder belasteter Eltern besonders die Schattenseite des Schweigens: Schweigen in eisiger und gespannter Atmosphäre. Ein oftmals unbemerktes und unerkanntes Schreckensgesicht ihrer Kindheitstage, kommt es doch leise daher, ist kaum sichtbar und wird leicht überhört. Diese Kinder erinnern sich mit einem Schaudern an dieses in ihren Ohren dröhnende „eisige Schweigen“, oftmals eines Elternteils, an emotionale Kälte, die die gesamte Atmosphäre bestimmt, ihr zu Hause bewohnt und sich irgendwann in ihnen selbst niederlässt, zur unangenehmen inneren Heimat wird. Wenn die Mutter die Schweigende ist, so wird dies oft besonders schmerzlich erlebt, wenn diese von Beginn des Lebens an die meiste Zeit mit den KIndern verbringt und ihr Schweigen womöglich erpresserisch, machtvoll oder anderweitig nachteilig einsetzt

Wer zuerst spricht, hat verloren – Macht und Kontrolle durch Schweigen

Wenn Eltern beispielsweise selbst als Kinder wiederholt Ohnmachtserfahrungen machen mussten, dann sind sie gefährdet, Schweigen in ihrer elterlichen Rolle als Machtmittel einzusetzen. Schweigen wird dann zum Mittel durch das Kontrolle über andere ausgeübt wird. Die Familienmitglieder werden etwa solange ignoriert, „bekommen“ keine Worte, bis sie wieder so funktionieren, wie es dieser Elternteil erwartet. Der so agierende Elternteil siegt  so über seine eigene als Kind erlebte Ohnmacht, indem er nun Macht über die Kontaktgestaltung seiner Familienmitglieder ausübt. Er oder sie bestimmt, wann gesprochen wird und wann nicht. Schweigen wird manipulativ eingesetzt, kindliche Abhängigkeit sträflich missachtet und ausgenutzt

Wenn Krankheit stumm macht…und Kinder ins Leere laufen
Manchmal ist Schweigen Teil einer Erkrankung: maipulatives Schweigen tritt etwa bei narzistisch und borderlinestrukturierten Menschen als Teil der Störung auf. In der elterlichen Depression begegnen Kinder einer anderen Form des Schweigens: die mit der Erkrankung oft einhergehende Teilnahmslosigkeit prägt dann auch die Interaktionen zwischen Eltern und Kind. Dies  führt dazu, dass Reaktionen auf kindliche Fragen ausbleiben, kaum Einfühlung und Mitgefühl ausgedrückt wird, Kinder wiederholt ins Leere laufen. Dem depressiv Erkrankten ist dies meist nicht bewusst. Wird es ihm doch bewusst, verursacht es ihm weitere Schuldgefühle, die in der Erkrankungszeit schwer aushaltbar sind. Kinder von erkrankten Eltern brauchen dringend Hilfen von anderen Menschen: denn wenn Kinder diese Leere-Erfahrungen über längere Zeit und in den ersten Lebensjahren machen müssen, kann das nachhaltige Auswirkungen für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung haben, die weit in das Erwachsenenalter hineinreichen, hier insbesondere als Selbstwert-und Bindungsprobleme oder auch als quälende Einsamkeitsgefühle

Kollektives Schweigen: wenn das Tabu das Zepter schwingt

Besonders dramatisch ist das kollektive familiäre Schweigen, wenn einem Familienmitglied ein großes Leid zugefügt wird und darüber geschwiegen wird, wenn Missbrauch oder Gewaltanwendung durch Eltern stillschweigend geduldet wird, wenn das Wahren des Tabus stärker zählt als die Würde des betroffenen Kindes. Die Missbrauchs- oder Gewalterfahrung ist das eine, die fehlende Unterstützung durch die anderen Familienmitglieder, so beschreiben es Betroffene, ist eine weitere Quelle des Leidens, die teils traumatisch erlebt wird. Ebenso leiden oftmals Geschwisterkinder, die in ihrer Hilflosigkeit Gewalt mitansehen müssen und dem familiären Tabu stillschweigend verpflichtet werden. Der Nachhall in das erwachsene Leben ist gewaltig. Kinder in  tabuisierenden Familien brauchen achtsame Menschen außerhalb des direkten Familiensystems, die in Loyalität die Wahrnehmung der KInder stärken, eine Zuflucht außerhalb anbieten, und zunächst das Schweigen der Kinder respektieren. Manche finden diese Personen erst als Erwachsene, manche müssen aus ihren Familien genommen werden. Andere leiden insbesondere unter elterlicher Gewalt, wenn Eltern pflegebdürftig und zugleich machtvoll werden. Auch triggern neuerliche Bedrohungsszenarien die erlebte Hilflosigkeit aus Kindheitstagen.

Wenn Leid stumm macht – Leben mit traumatisierten Eltern

Auch Kinder traumatisierter Eltern beschreiben Erfahrungen mit elterlichem Schweigen: so müssen sie etwa erleben, dass die Eltern über erlebten Schrecken verstummt sind und/oder Teile von sich abspalten (in der Fachsprache auch dissoziieren genannt). Sie sprechen partiell nicht oder verstummen, wenn bestimmte Themen oder Gefühle zur Sprache kommen (tragisch eindrücklich etwa bei Kriegsgeschädigten zu beobachten). Ein Beispiel einer solch nachhaltigen Auswirkung und die damit verbundenen Folgen für das Kind beschreibt der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil eindrucksvoll in seinem autobiografischen Buch Die Erfindung des Lebens.

Wenn Vater da war, war jedoch alles viel einfacher, ich war dann erleichtert, weil ich dann nicht mehr allein auf Mutter aufpassen musste. Immerzu befürchteten Vater und ich nämlich, es könnte ihr etwas zustoßen…Ich wusste aber, dass so etwas früher einmal passiert war, und ich wusste auch, dass es etwas ganz besonders Schlimmes gewesen sein musste…gegenwärtig war die Vergangenheit in Mutters Stummsein.“ ( S. 13/14)

„…als wäre ich in meinen ersten Lebensjahren wahrhaftig nur mit zwei Menschen in Berührung gekommen und hätte in einer Art verschwiegenem Geheimbund mit nur den notwendigsten Außenkontakten gelebt.“ (S.43)

„So war die Welt der Kleinfamilie Catt damals, in den frühen fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, auf eine beinahe unheimliche Weise geschlossen, und jeder von uns wachte mit all seinen Sinnen darüber, dass sich daran nichts änderte (S.16)

Wie Worte erlösen können

In der Kindheit erlebtes Schweigen bleibt nicht folgenlos. Wer über Jahre und manchmal gar Jahrzehnte ins Leere gelaufen ist, ist oftmals stark selbstverunsichert. „Ich bin unattraktiv… Ich bin langweilig… Ich bin es einfach nicht wert, dass andere auf mich reagieren…lauten dann  Selbstzuschreibungen im Erwachsenenalter. Das Schweigen aus der Kindheit kann weiteres Leiden in den Partnerschaften der derart Aufgewachsenen verursachen. Oftmals ziehen sich derart Betroffene wie in einem unguten Schlüssel-Schloss-Prínzip an, sie finden exakt diejenigen, mit denen sie dieses schweigende Kindheitsdrama wiederholen. Manche nehmen unbewusst das schweigende Elternteil zum Modell, etwas, was sie partout vermeiden wollten: sie werden selbst zu schweigenden Partnern, schweigenden Vätern oder schweigenden Mütter.

Sie fühlen sich betroffen? Wenn Sie um Ihre eigenen Worte schwer ringen müssen, können kreative Wege für sie ein Mittel der Wahl sein. Dazu finden sie auf deisen Seiten einige Anregungen. Wenn Sie um die Worte eines anderen Menschen bis heute kämpfen müssen, sich gar durch Wohlverhalten Worte „erst verdienen“ müssen, dann sind sie und ihre Seele an diesem Ort nicht gut aufgehoben. Wenn Ich-Botschaften wie „Ich leide, wenn du nicht mit mir sprichst!“, ohne jeden Nachhall ins Leere verklingen, ist Unterstützung von anderen Menschen sicher hilfreich und von Nöten: Sie sind heute kein Kind mehr, Sie sind nicht abhängig wie früher (auch wenn sich das manchmal so anfühlt). Durchbrechen Sie die Kette: sprechen sie Worte, suchen sie „Erlösung“ – bei anderen, die Ihnen gern Ohren und Worte schenken.

(Text in Anlehnung an Geiser-Heinrichs/Barnowski-Geiser (2017): Meine schwierige Mutter)

 

 

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