Wenn der Nebel sich lichtet… „Erwachen“ durch Klarblick
„Ich war wie in einem Hexenkessel gefangen, ich konnte nichts mehr sehen, weder Schönes, noch irgendetwas klar in meinen Problemen. Erst als ich mich um mich gekümmert habe, mich gespürt mit all meinen Gefühlen, bekam mein Leben eine neue Richtung.“ Frau L. malt für dieses „Jetzt“ ein Haus im Grünen, mit Vögeln und Weite und gibt ihm den Titel ‚Erwachen’. (Frau L., 44 Jahre, zit. nach Barnowski-Geiser, W.2009: Hören, was niemand sieht)
Manchmal beschreiben Menschen ihren Veränderungsprozess ähnlich wie Frau L.: sie bezeichnet es eindrücklich als „Erwachen“. Wenn Belastendes tabuisiert wird oder in Kindheitstagen wurde, wenn klar Sehen im familiären Gefüge nicht erwünscht war, nicht geduldet, vielleicht sogar mit Gewalt oder Ausgrenzung beantwortet wurde, dann kann die eigene Sicht, die eigene Wahrnehmung und schließlich die gesamte Selbstwahrnehmung dem Tabu zum Opfer fallen: Tatsachen aus der Kindheit wirken wie in einen Nebel getaucht, fühlen, erkennen, benennen war und ist bedrohlich.Der Nebel schützt zunächst die kindliche Seele…Hält die Tabuisierung über einen langen Zeitraum an (womöglich bis ins heutige Erwachsenenalter), kann dieser Nebel Teil des gesamten Erlebens werden: es prägt dann wie Betroffene sich selbst und ihre Umgebung wahrnehmen, ihren Leib und ihre Seele, es beeinflusst ihr Erinnerungsvermögen. Unter ungünstigen Bedingungen mündet es in Selbstvergessenheit bis hin zum erlebten Selbstverlust, einem chronischen Befinden, „das vielfach durch eine eigentümliche Ortlosigkeit, Verschwommenheit und fehlendes Selbstgefühl bis hin zur Entfremdung charakterisiert ist. (Fuchs 2000, S.43f) Mit Erwachen verbunden ist oftmals eine neue Achtsamkeit, ein „Einrasten“ der Richtungen im Umraum, eine stärkere Zentrierung und mehr Prägnanz. Das Erwachen gleicht dem Aufwachen nach dem Schlaf. Körper und Atem , die Sinne und das Fühlen können dabei Brücken in das Erleben schlagen; über diese Brücken kann Verdrängtes und Abgespaltenes wieder integriert werden.
„Im Erwachen sucht der Leib nach den Fäden des Netzes, das ihn mit den vom Vortag her vertrauten Dingen des Umraums verbindet.“(Ebenda) Oftmals kann Erwachen erst eintreten, wenn die bedrohliche Umgebung verlassen wird und Betroffene sich um sich selbst kümmern können. Im Anschluss beschrieben sich Betroffene, wie hier Frau L., fürsorglicher und achtsamer im Umgang mit sich selbst, zuleich ruhiger und gelöster, sie erlebten sich selbst weniger fremd.
Buch sowie weitere leibphilosophische Betrachtungen bei Thomas Fuchs. Keine leichte Kost, aber lohnenswert.
Eine gute Woche wünscht
Ihre
Waltraut Barnowski-Geiser