„Fakenews waren in meiner Familie an der Tagesordnung“ – über Vertrauen und Misstrauen in schwierigen Zeiten
Herr K., Sozialarbeiter, 35 Jahre alt, ruft an. Er sei verunsichert. Er wisse nicht mehr, wo ihm der „Kopf stehe“. „Corona und die beruflichen Unsicherheiten machen mir Angst. Ich verliere zunhemend die Orientierung, ich weiß nicht, wem und was ich glauben soll. Was ist Fake, was muss ich ernst nehmen?“
Herr K. ist Erwachsener aus einer Alkoholikerfamilie. Viele Menschen mit diesen und anderen Kindheitsbelastungen fühlen sich augenblicklich besonders verunsichert. „In unserer Familie wusste man nie, wo man dran war, eigentlich war alles Fake – Fakenews über das Trinken meines Vaters waren bei uns an der Tagesordnung. Ja, Fake ist bis heute die Normalität bei meinen Eltern!“
Oftmals wird Menschen wie Herrn K. entgegengehalten: „Du musst einfach mehr Vertrauen haben!“ Menschen mit Kindheitsbelastungen würden ja gerne…sie kennen aus ihrer Kindheit jedoch oft so verzerrte Wahrheiten, dass sie längst nicht mehr wissen, wem und was sie glauben schenken können. Pauschales Vertrauen erscheint da wenig hilfreich, wie uns Fakenews und andere ungute mediale Entwicklungen zeigen. Auch Politiker demonstrierten in der garnicht fernen Vergangenheit teils, nicht nur in Amerika, einen sehr speziellen Umgang mit Wahrheit und Wirklichkeit: die Wahrheit, das Eigentliche und Offizielle wird kurzerhand umdefiniert, uminterpretiert oder so gezeigt ( retuschiert), wie es der eigenen Vorstellung entspricht. Dieser Mechanismus ist Kindern aus belasteten Familien oft zutiefst vertraut: Ihre Eltern haben familiäre Geschichte genauso interpretiert, umgeschrieben oder umgedeutet wie es für sie selbst am ehesten „passte“ oder wie es, so glaubten diese Eltern, für alle am ehesten zu verkraften war: Eben so, dass das Familiengefüge zusammenblieb. Fakenews, alternative Fakten und andere Verzerrungen sind für Kindheitsbelastete heimatlich vertrauter Boden, ein Boden der familienspezifischen Narration (Erzählung): die Erzählung einzelner Familienmitglieder kann sehr unterschiedlich ausfallen, wie Sie es vielleicht auch aus Ihrem Leben kennen (s. Meine schwierige Mutter 2017). Diese Uminterpretation wird in manchen Familien so intensiv betrieben, dass die Betroffenen kaum noch zwischen Realität und Verzerrung unterscheiden können, weder die Erzählenden noch die Hörenden. Blind abverlangtes Vertrauen führt oft in chronische Verwirrung. „Jedes Leben ist voller Illusionen, wohl weil uns die Wahrheit zu unerträglich erscheint. Und doch ist uns die Wahrheit so unentbehrlich, dass wir ihren Verlust mit schweren Erkrankungen bezahlen.“ (Alice Miller 1997, S.11)
Warum der klare Blick sie ganz schön verwirren kann
Jahrzehntelanges Ansehen von täglicher Werteverschiebung oder Umdeutung bleibt nicht ohne Folgen: Betroffene Kinder und Erwachsene wissen oftmals nicht mehr, was richtig und falsch, was wichtig oder unwichtig ist. Für Betroffene liegt das, was sie erleben oder erlebt haben, oftmals im Nebel, im Diffusen, ist unklar und nicht greifbar. Manchmal fehlen jegliche Erinnerungen an die Kindheit, zurückgeblieben ist nur ein dumpfes Gespür, dass irgendetwas nicht stimmt, ohne dafür einen Grund benennen zu können. Das Unaushaltbare in den „Nebel des Vergessens“ zu hüllen, erscheint als not-wendiges Coping, den in der elterlichen Sucht begründeten Krisen zu begegnen. Zugleich löst dieses „Nebulöse“ Unsicherheit aus, vor allem, wenn es zum chronifizierten Erleben wird. Der Verlust des gerichtet Seins, unterdrückte Gefühle, einhergehend mit der Beeinträchtigung der Bewertungsfähigkeit, wirken verstärkend in Richtung eines sich unklar und diffus Fühlens Betroffener. Letztlich wird nicht nur das Erleben der Krise weggeblendet, sondern das gesamte Erleben in den Nebel getaucht: Betroffene beginnen vor ihren eigenen Wahrnehmungen, vor ihren ureigenen Gefühlen davonzulaufen. Oftmals äußern Menschen im therapeutischen Prozess gerade dann, wenn sie die familiäre Realität im Erwachsenenalter erstmals klar sehen: Jetzt bin ich total verwirrt! Das erscheint paradox: aber Der Verdrängungsschutz hat eingesetzt, der Klarblick unterliegt dem Tabu. Es hilft vielen Betroffenen, Verwirrung als eigenen Schutzmechanismus zu akzeptieren und würdigen.
Wie Raffaela das Glauben lernen will – ein Beispiel aus einer kreativtherapeutischen Einheit
„Und jetzt will ich endlich glauben!“
Raffaela, 13 Jahre alte und Tochter einer drogenabhängigen Mutter, hat einen Stimmungsstein mit in die Therapie gebracht. Sie findet an diesem gerade unter Jugendlichen in Mode gekommenen Accessoire interessant, herauszufinden, welche Stimmungen sie denn habe. „Ich möchte gerne positive Stimmungen haben, die anderen lieber nicht!“, meint sie. Sie sprüht auf meine Anregung hin ihre aktuellen Stimmungen mit Gouachefarbe auf Papier und kommentiert jeweils: „Rot: Das ist meine Liebe zu verschiedenen Personen, auch zu Mama, ich freue mich, dass sie jetzt eine Wohnung nimmt, Grün ist meine Hoffnung, Lila meine Unsicherheit. Am meisten beunruhigt sie die Stelle, an der alles ineinander geht, ganz viele Gefühle und Stimmungen, die sie mit absoluter Verwirrung verbindet. „Ich weiß oft meinen Weg nicht mehr!“, sagt sie leise. „Ich weiß nicht, woran ich glauben soll. Ich will glauben, dass Mama es jetzt schafft, trocken zu werden und dann klappt das manchmal doch wieder nicht. Und wenn andere daran zweifeln, dass Mama trocken wird, wenn andere was anderes sagen, dann bin ich total verwirrt. Ich will jetzt aber glauben, dass das klappt diesmal.“ Wir suchen in ihrem Bild nach einer Stelle für das Gegenteil der Verwirrung. Dies ist eine Stelle mit geraden Linien. „Hier weiß ich, wo es lang geht. mein Leben hat eine Richtung. Jetzt ist mal die Mama in meinem Leben dran!“ ( Sie hofft, mit ihrer Mutter wieder zusammenleben zu können, Anm. d. Verf.) Das Bild der Klarheit und des geraden Weges gefällt ihr. Sie setzt es in Klang um, trommelt. Sie hört ein spannenderes Leben, das kommen wird. Ich höre in ihrem Spiel eine hohe Dauererregung, die ich in meiner Resonanz anstrengend finde. „Das ist es auch!“, sagt sie. „Ich will gar nicht mehr runter kommen. Pausen mag ich nicht.“ Ich ermuntere sie, in ihr Spiel Pausen einzubauen, was sie tut. „Pausen schlaffen mich ab, dann komme ich nicht zurück in den Glauben. Wenn ich Zeit habe und es ruhig ist, dann habe ich Zweifel. Und jetzt will ich endlich glauben!“ Raffaela,13 Jahre aus Barnowski-Geiser 2009: Hören, was niemand sieht)
Der Weg in das Vertrauen gelingt nach meinen Erfahrungen weder über blindes Vertrauen noch über ungeprüftes Zustimmen zu teils verdrehter Welt, sondern er führt über das Ernstnehmen, der radikalen Akzeptanz des eigenen Misstrauens, durch vorsichtiges Überprüfen: Misstrauen ist ein notwendiger Prozess. Dieser Prozess braucht Zeit und Selbst-Vertrauen, Hinwendung zum Ich. Das musste Raffaela mühsam lernen – ihre Mutter hatte immer wieder schlimme Rückfälle- irgendwann konnte Raffaela das Kreisen um die Sucht der Mutter aufgeben, ihre Hoffnungen relativieren- und ihre Mutter und ihre eigene Situation realistischer einschätzen. Nur da, wo Misstrauen und Zweifeln, Hinterfragen und in Frage stellen erlaubt ist, da, wo Zeit und Muße für Abwägen ist, kann nach meinen Erfahrungen wirkliches Vertrauen, das im eigenen Grund fußt, entstehen. In der Politik und in der Familie, insbesondere in so schweren Krisenzeiten wie der augenblichen.
Und..über den Weg nach Innen zur inneren Weisheit. Vielleicht auch heute mit einer kleinen Einheit, unserer Corona-Krisen-KreativChallenge, für Sie
Corona-Krisen-KreativChallenge Klingender Kraftort
Suchen Sie einen Ort, an dem Sie ungestört sind. Gehen Sie mit Ihrer Achtsamkeit zu Ihrem Atem…lassen Sie sich Zeit, in sich anzukommen…wenn Sie mögen, stellen Sie sich nun vor, dass Sie mit jedem Ihrer Ausatemzüge ein Stück näher zu Ihrem Inneren reisen, zu Ihrem inneren Kraftort…wie sieht es hier aus, welche Farben und Formen gibt es hier, welche Klänge?…Gestalten Sie diesen, suchen sie anschließend ein für Sie passendes Musikstück… spielen Sie es mehrmals, hören Sie es „mit dem ganzen Körper“
Neue Resonanzerfahrungen können bei alten Wunden verdammt Gutes bewirken – und da ist Musik ein echter Schatz…aber dazu vielleicht in den nächsten Tagen mehr. Wozu würden Sie gern etwas mehr erfahren, was können Sie noch gebrauchen, gerade in dieser Zeit? Lassen Sie es mich wissen, gern auch wieder über die Kommentarfunktion oder das Kontaktformular.
Lassen Sie es sich so gut wie eben möglich gehen -,
herzliche Grüße
Ihre
Waltraut Barnowski-Geiser