Hilfe für die „Vergessensten der Vergessenen“ – Was Kindheitsbelastungen heilen kann

Erwachsene aus Suchtfamilien müssen leider zu den „Vergessensten der Vergessenen“ gezählt werden. Zwei Denkfehler begünstigen dieses Vergessen:

1. Der Fehlschluss, dass die Kindheitsbelastung doch lange, lange vorbei sei und damit im „Jetzt“, da Betroffene nicht mehr in der Herkunftsfamilie leben, ohne Folgen wäre (und nicht einmal das trifft bei vielen Erwachsenen zu, die oft ein Leben lang mit den Sucht- und psychisch Erkrankten konfrontiert sind).

2. Der Fehlschluss, dass, wenn die Betroffenen nicht von Kindheitsbelastung sprechen, auch keine Belastung vorhanden sei. Da die Kinder über Jahrzehnte in ihren Familien lernen, erkrankte Eltern zu schützen, nicht über ihr eigenes Leid zu sprechen ( es oft nicht einmal wahrnehmen dürfen), fehlen ihnen Worte. In Familien, die die elterliche Erkrankung tabuisieren, werden die Kinder frühzeitig zu „Burgbewohnern mit Haut und Haar“ (Barnowski-Geiser 2015). Oft erzählt allein ihr Körper oder ihre sie überfordernde Gefühlswelt, dass sie bis heute schwer belastet sind: zu wirksam ist das kindliche Tabu, auch wenn Erwachsene das Elternhaus längst verlassen haben.

Zu diesen Denkfehlern gesellt sich ein großes Manko: Therapeuten, Ärzte und Pädagogen sind zu wenig bis gar nicht auf diese Klientel spezialisiert ausgebildet worden. Und: reine Information über diese Familien reicht als Hilfestellung allein nicht aus. Das AWOKADO-Konzept soll hier eine Lücke der erlebensorientierten  Arbeit mit Erwachsenen aus belasteten Familien schließen.(Quelle: Klett-Cotta http://klett-cotta.de/buch/Fachratgeber/Vater_Mutter_Sucht/55896#buch_leseprobe)

Das AWOKADO-Konzept

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Mehr als zehn Jahre lang arbeitete ich schon  mit Kindern und Erwachsenen aus Suchtfamilien, um dann 2008 im Rahmen eines wissenschaftlichen Forschungsprojektes Befragungen und Interviews durchzuführen. Meine Fragestellung: Was hilft „Suchtkindern“, ihr Leben zum Positiven zu verändern? Die Ergebnisse der Studie und Befragungen mündeten im AWOKADO-Konzept und der Promotionsstudie „Hören, was niemand sieht“. Die befragten Kinder und Erwachsenen beschrieben vor allem 7 Aspekte als heilend. Vielleicht können auch Sie sich diesen Aspekten zuwenden und diesen in Ihrem Leben mehr Raum geben. Die Anfangsbuchstaben ergaben das Wort AWOKADO, die ermittelten Hilfefaktoren stehen dabei für:

A Achtsamkeit
Vom Kreisen um die Suchterkrankten zur Selbstachtsamkeit im „Jetzt“
W Würdigung der Belastung und Würdigung der Stärken
Hinwendung zu den eigenen Wunden, aber auch zu den hier gewachsenen Kräften und besonderen Stärken
O Orientierung
Finden einer eigenen Weltsicht, abseits des Familientabus
K Kreativität
Schöpferische Potenziale als Quell von Lebensfreude im „Für mich sein“
A Aus-Druck
    Eine Bewegung vom Innen ins Außen; Abbau von Spannungen und Druck
D Deckung und De-Parenting
Das Erleben von Sicherheit und sicheren Zonen (Schutzräume)
O  Offenheit und Öffnung
Positive Resonanz-und Beziehungserfahrungen, in Netzwerken, spezialisierten Therapien und Hilfegruppen

Die Namensverwandtschaft mit der Frucht Avocado schien sinnfällig: gilt die Avocado doch als äußerst heilsame und wirksame Frucht, die dosiert und maßvoll einzusetzen ist.Featured image

Auf der Basis des AWOKADO-Konzeptes, das sie seit vielen Jahren in therapeutischer Praxis anwendet, entwickelte ich das AWOKADO-7-Schritte-Programm zur aktiven Selbsthilfe, das AWOKADO-Stärkungsritual sowie das schulische Präventionsprojekt BEL-Kids, das als modularisierte Fortbildung an Pädagogen, Therapeuten und Studierende multipliziert wurde.

Das AWOKADO-7-Schritte-Programm konnte auch erfolgreich angewendet werden bei erwachsenen Kindern chronisch und existenziell erkrankter Eltern (z. B. bei elterlicher Krebserkrankung) sowie bei Erwachsenen von psychisch erkrankten Eltern.

Herzliche Sommergruesse sendet

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser