Darf es ein bisschen mehr „Ich“ sein?- wie wir in belasteten Familien miteinander umgehen

familie Abgrund (2)

 

Wie gestaltet man den Kontakt zu den alten Eltern in der Corona-Krise, wenn die Beziehung schwierig war? Diese Frage treibt im Moment manch einen Kindheitsbelasteten um. Es wird kaum die Antwort auf diese Frage geben und in jedem Fall erfordert diese Ihre ganz persönliche Antwort, fußend auf Ihrem Standpunkt, Ihrer augenblicklichen familiären Situation und Ihren persönlichen Werten.

Wer benennt, fliegt!

Um den eigenen Standpunkt im familiären Miteinander augenblicklich zu finden, braucht es oft zunächst die Erlaubnis, einen eigenen Blick auf die Herkunftsfamilie zuzulassen. Das klingt banal, einfach, ist aber in belasteten Familien eine schwere Herausforderung: eigene Ansichten, etwa über die Sucht der Mutter, waren in der Kindheit meist nicht gewünscht, oft gar nicht erlaubt. Betroffene Kinder lernen, sich einen eigenen Standpunkt, eine eigene Sichtweise zu verbieten, da sie sich mit der unausgesprochenen Konsequenz des Ausschlusses aus der Gemeinschaft konfrontiert sahen. Willst du dazu gehören, musst du denken wie wir!, lautete die oft nicht einmal in Worte gefasste Ansage, die unausgesprochen den Beteiligten klar war. Wenn Sie also bis heute in einer chronifizierten Tabuisierung der Geschehnisse mit Ihren alten Eltern leben, wird es für Sie schwer sein, eine Position zu finden, in der sie nicht nur berücksichtigen, was Ihren Eltern gut tut, sondern vor allem auch Ihnen selbst. Diese eigene Haltung muss dann mühsam erkämpft werden.

Hinschauen bedeutet(e) für viele betroffene Kinder „Abgrund“. Wenn wir aber unsere Fragen beantworten wollen, wie wir heute unseren Umgang mit den Eltern günstig gestalten, dann wird dies kaum ohne diesen Blick auf unser altes Familien-System und wie es funktioniert,gelingen

Zum Beispiel: Suchtfamilie

 Nehmen wir zum Beispiel eine Suchtfamilie: Kinder süchtiger Eltern beschreiben diesen Abgrund genauer. Atmosphäre und Familiendynamik lassen diese Familien offenbar zu Orten mit besonderen Merkmalen werden. Jede Familie ist anders und individuell, und doch zeigt der Ort Suchtfamilie typische Ortskennzeichen, die vielen Familien gemeinsam sind (nach Barnowski-Geiser 2015: Vater, Mutter, Sucht 2015):

  • Nicht-Ort: es wird so stark tabuisiert, das es angeblich keine Probleme gibt

  • Extrem-Ort: alle bewegen sich an kaum zu bewältigenden Grenzen und Extremen. Typisch sind Gefühlsachterbahnen, von denen alle so tun als gäbe es sie nicht

  • Arena: die Familienmitglieder kämpfen um die Sucht und deren Aufgabe, sie kämpfen um ihre eigenen Identität und um den Erhalt der Familie

  • Brutstätte der Sehnsucht: der chronische Mangel im „Nest“ wird Motor für eine beinahe rauschhaft anmutende Suche nach Liebe und Zuwendung, nach gesehen, gehört und erkannt werden

  • Festung oder Burg: nichts darf von Innen nach Außen dringen und manchmal darf niemand hinein, niemand hinter die Burgmauern schauen.

Indianischer Weisheit zufolge werden Menschen immer auch ein Stück von der Landschaft und Welt, die sie umgibt. Folgen wir dieser indianischen Weisheit, so werden auch Menschen aus belasteten Familien etwas von dem familiären Ort annehmen, der sie umgab:

  • Burgbewohner werden demnach ein wenig (oder mehr) versteinern, unzugänglich und verschlossen sein. Oft werden sie als Erwachsene neuerlich Geheimnisträger
  • Arenabewohner wachsen heran zu unermüdlichen, vielleicht sehr tapferen Kämpfern,
  • am Nicht-Ort-Lebende neigen im Angesicht von Schwierigem zum Verleugnen, werden „auffällig unauffällig“ in einer „Hier ist doch gar nichts!-Mentalität“
  • Bewohner der Brutstätte der Sehnsucht werden ewig Suchende nach Liebe – eine Suche, die sie oftmals auch in eigene Süchte katapultiert.
  • Extrem-Ort Erwachsene wirken oft wie Grenzgänger: Wanderer zwischen extremen Beziehungen, extremen Stimmungen, Emotionen und Lebensformen

Neurowissenschaftliche Untersuchungen unterstützen diese alte indianische Weisheit: unsere kindlichen emotionalen Erfahrungen werden neuronal abgespeichert, sie können zu prägenden Bahnungen im Gehirn führen. Wenn wir also ein Verständnis für uns und unser So-Sein entwickeln wollen,wenn wir begreifen wollen, warum wir genau so, in unserer Art und Weise in der Welt sind, kommen wir, so anstrengend es scheint, kaum am Abgrund Herkunftsfamilie vorbei. Wenn wir um diesen Abgrund wissen, kann es  weitergehen: wir können den Abgrund besteigen, erkunden, umgehen, ihn nutzen, überspringen, umtanzen, vielleicht sogar überfliegen. Und auch sehen, mit welchen uns hier ebenso zu eigen gewordenen Stärken wir ihn überstanden haben. Die alte Dynamik wird weiter prägen und wir und die Eltern haben einen Wandel vollzogen: zumindest wir haben die Chance, heute anders zu agieren, unser Rollenkorsett ein wenig zu lösen.

So, nun habe ich aber lange ausgeholt: ja, und genauso schwierig und langwierig gestaltet sich das Antwortenfinden auf den Umgang miteinander  in belasteten Familien heute. Der Klarblick auf die Situation eröffnet die Chance, die eigene Belastung früher und heute anzuerkennen und im zweiten Schritt, die eigene Belastungsgrenze zu finden. Selbstschutz, und dazu gehört auch psychische Belastung, ist nach meinen Erfahrungen das erste Krisengebot. Für die meisten Betroffenen bedeutet Herkunftsfamilie lange Selbstaufgabe. Das kann krank machen, erschöpfen. Die Suchenden nach Liebe werden erhoffen, dass Mama und Papa heute doch nich endlich sehen werden, wie sie sich einsetzen…auch diese Hoffnung erfordert eine angemessene Überprüfung.

Wieviel Sie in die Beziehung zu den Eltern heute einbringen wollen, etwa als Einkaufshilfe, Telefonkontakt etc. muss zwischen Mitmenschlichkeit und Selbstschutz  gefunden werden und liegt bei Ihnen – es ist Ihre ganz persönlich schwierige Entscheidung: In Ambivalenz, bei vielen Betroffenen in den Extremen zwischen Hass und Liebe. Dieses „Und“ will ernst genommen sein. Kränkungen erscheinen auf diesem Boden nahezu unvermeidlich ( dazu habe ich auch einen Beitrag zur „Macht der Kränkung“  auf der Seite der Stiftung fuerkinder geschrieben). Ich bin gespannt, wie Sie die Frage für sich beantworten…

Und:Wenn der klare Blick auf den Abgrund sie  ängstigt, Sie zu verschlingen droht, ist mehr Sicherheitsabstand gefordert: noch! Der ideale Zeitpunkt wird sich Ihnen eröffnen, wenn Ihre Seele zum Klarblick bereit ist! Vertrauen Sie auf die Weisheit Ihrer Seele.

Eine gute Woche wünscht

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Dr. Waltraut Barnowski-Geiser ist Therapeutin, Lehrende und Autorin. Vater, Mutter, Sucht (201519)  ,Hören, was niemand sieht (2009) und zusammen mit ihrer Tochter Maren Geiser-Heinrichs (2017/19) „Meine schwierige Mutter“ sind ihre Bücher zur Thematik. In der Praxis KlangRaum in Erkelenz bietet sie Hilfe für Menschen mit Kindheitsbelastungen auf der Basis des von ihr entwickelten AWOKADO-7-Schritte-Programms.

Nicht nur zur Weihnachtszeit-Elternbeziehungen auf dem Prüfstand

Neue Beziehungschancen durch Perspektivwechsel?

Herr N., 32 Jahre erzählt: „Ich weiß jetzt, dass ich nie die emotionalen Eltern haben werde, die ich mir gewünscht habe, aber ich bin dennoch dankbar für die Versorgung und das, was sie mir als kleines Kind, bevor ihre psychischen Probleme und Ehestreitigkeiten überhand nahmen,  gegeben haben. Ich werde versuchen, mit diesen sozialen, versorgenden Eltern in Kontakt zu bleiben – seit ich meine emotionalen Erwartungen an meine Eltern aufgegeben haben, empfinde ich nach einer Phase der Trauer nun endlich inneren Frieden.“

Weihnachtstage sind für viele immer noch Familientage: und damit oftmals Krisentage. Gerade in der Vorweihnachtszeit, in der Familienbesuche und soziales Zusammenrücken groß geschrieben werden, geraten Menschen aus belasteten Familien unter besonderen Stress: „Soll ich meine Eltern öfter besuchen, soll ich den Kontakt zu meinen Eltern abbrechen oder diese Beziehung doch aufrecht erhalten?“… „Liebe ich meine Eltern oder hasse ich sie nicht eigentlich, nach allem, was sie mir angetan haben?“ “ Aber bin ich Ihnen das als Ihr Kind nicht schuldig, Sie sind doch meine Eltern?“ So und ähnlich lauten Fragen, die sich erwachsene Kinder aus belasteten Familien oftmals quälend stellen und auf die sie nur schwer im „Entweder oder“ Antworten finden. Harmonisch Weihnachten feiern im Kreise der Lieben, so wird uns nicht nur in der Werbung suggeriert, ist scheinbar das Normalste der Welt…Warum gelingt das so schwer? Beratungsstellen und Therapeutische Ambulanzen haben vor dem Fest der Liebe regelmäßig Hochkonjunktur. Menschen, die etwas durch ihre Eltern erlitten haben, fühlen sich, wenn sie sich distanzieren, allein und ausgegrenzt oder, wenn sie sich mehr in die Herkunftsfamilie begeben, in einer erzwungenen Harmoniefalle. Es scheint kaum einen Ausweg zu geben aus diesem Dilemma. Oft liegt diesem „Ich sitze in der Falle“-Gefühl“ eine „Entweder-Oder“-Sicht zugrunde. Die alte offene Rechnung mit den Eltern schmerzt und doch gibt es diese Sehnsucht nach Zuhaus…Herr N. hat viele Jahre des Trauerns, Zürnens und Verzweifelns mit seinen Eltern hinter sich. Was ist nun anders?

Die schwierige Suche nach dem „Und“

Manchen Betroffenen hilft es, einen Perspektivwechsel vorzunehmen. Sie sehen die Elternbeziehung differenzierter an. Sie betrachten komplexer, etwa nicht mehr ausschließlich den Mangel  oder nicht ausschließlich das Gute: was konnten die Eltern nicht geben und was vielleicht doch, trotz der familiären Belastung?   Viele Eltern-Kind-Beziehungen stecken im Hamsterrad der alten offenen Rechnungen fest: die Eltern geben etwa Materielles und definieren, wie undankbar ihr Kind für ihre zahlreichen Gaben sei. Die Kinder können die elterlichen Gaben kaum würdigen, scheint doch, so empfinden sie schmerzlich, weder ihre emotionale Leistung noch ihre kindliche Belastung anerkannt, noch bekommen sie heute die ersehnte emotionale Zuwendung,  in Form von Resonanz, Wärme und Zuwendung.

Nicht „einfach“- Ambivalenz

Wenn die Eltern-Kind-Beziehung belastet ist, dann fühlen Kinder oft auch noch als Erwachsene ambivalent: sie lieben und sie hassen, sie wollen sich distanzieren und haben doch große Sehnsucht nach elterlicher Zuwendung. Diese Ambivalenz gilt es anzuerkennen und auszuhalten. Einige negieren die Schattenseite, andere die, nennen wir sie hier „Lichtseite“, der Eltern.

Viele erwachsene Kinder  aus belasteten Familien fühlen sich zerrissen zwischen Licht- und Schattenperspektive, von Gefühlen, die sie als widersprüchlich und als ein „Entweder-oder“ empfinden. Manche finden bei genauerem Hinsehen ein „Und“, das in ihrer inneren Bewertung vorher kaum eine Rolle spielte. Oft wirken diese Sichtweisen gegensätzlich: sie wurden jedoch in der Regel beide erlebt. In unterschiedlichen Beziehungsphasen rückt dann jeweils nur die Lichtseite oder nur die Schattenseite in den Blick. In der Und-Perspektive wird manchmal beides möglich:  dass Eltern  materiell  unterstützten und das Kind doch  emotional zu kurz kam. Dass  es eine gute Versorgung  mit Essen und Trinken gab und   Kinder doch emotional unterernährt wurden: Sie waren etwa viel zu früh in der Elternrolle statt, dass ihre kindlichen Bedürfnisse befriedigt wurden (Kinder waren „Eheberater“, „Therapeuten“, „Mediatoren“ ihrer Eltern – unbezahlt, ohne Dank) und die Eltern  haben  eine freie, unkonventionelle Lebensform ermöglicht, geholfen,Träume zu realisieren etc..Herr N. kann sich nun nach jahrelangem Ringen mit den Eltern arrangieren- er beschreibt sich als versöhnt. Dieses „Versöhnen“, und darauf möchte ich ausdrücklich hinweisen, ist nicht „einfach so“, wie teils vollmundig propagiert, als positive Denkleistung „mal eben so“ möglich, sondern sie setzt, oft jahrelange Prozesse voraus, ein Anerkennen des Geschehenen, ein Durcharbeiten, ein Verstandenwerden, gehört-gesehen, getröstet werden.

Die radikale Annahme dessen, was ist, wie sie etwa im Zen propagiert wird (und von verschiedenen therapeutischen Richtungen, wie Gestalt-und Integrativer Therapie auch favorisiert wird, etwa Marsha Linehan), kann ein erster Schritt sein: Akzeptanz von scheinbar widersprüchlichen Gefühlen und Impulsen, die radikale Bestandsaufnahme, was die Beziehung zu den Eltern in ihrer Komplexität und vielleicht als widersprüchlich empfundenen Ganzheit eigentlich ausmacht: Licht und Schatten. Die Entdeckung des „Und“  anstatt des „Entweder oder“ kann  befreiend wirken.  Manche Beziehungen sind so stark belastet, dass der Kontaktabbruch als einziger Ausweg erscheint – das kann eine not-wendige Option sein, Zufriedenheit mit dieser Lösung bleibt oft jedoch aus (mehr dazu im Buch Barnowski-Geiser 2015: Vater, Mutter, Sucht).

Vielleicht ist das Weihnachtsfest für Sie eine Chance, zu beobachten, nach Licht und Schatten zu suchen und auch nach dem eigenen Maß, wieviel Herkunftsfamilie Ihnen gut tut.

Eine gute Vorweihnachtszeit wünscht

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

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Dr. Waltraut Barnowski-Geiser ist Therapeutin, Lehrende und Autorin. Vater, Mutter, Sucht (2015) und Hören, was niemand sieht (2009) sind ihre Bücher zur Thematik. In ihrer Praxis KlangRaum in Erkelenz bietet sie Hilfe für Menschen mit Kindheitsbelastungen auf der Basis ihres AWOKADO-7-Schritte-Programms an.

Ein Schritt zurück: Ihr persönlicher Fortschritt

In unendlichen Diskussionen gefangen, nichts geht mehr, immer gleiche Gedankenstränge und keine Lösung in Sicht? Insbesondere, wenn Menschen auf andere mit vertrauten Kindheitsmustern treffen, etwa auf die eigenen Eltern, scheinen alle wie in einem dichten diffusen Knäuel gefangen.Manchmal hilft es dann, einen Schritt zurückzutreten. Abstand gewinnen und aus der verschlingenden Nähe herausgehen. Probieren Sie es bei nächster Gelegenheit aus, indem Sie den Schritt zurück konkret im Raum tun: manchmal kann  ein Schritt zurück einen entscheidenden Perspektivwechsel herbeiführen. Einen Abstand herstellen, aus der Distanz schauen, Atmen. Zum Beobachter der Situation und der eigenen Gefühle werden, Achtsamkeit zwischen Reiz und Reaktion legen. Agieren Sie gerade so, wie es Ihnen wirklich entspricht? Was brauchen Sie, um ihnen gemäß zu handeln? Lassen Sie sich Zeit, geben Sie Raum: Der so gestaltete „Schritt zurück“ kann wichtige Veränderungen zwischen ihnen und anderen einleiten, ihren persönlichen Fortschritt in Beziehungen einleiten.

Und auch bei anstehenden Entscheidungen kann dieses Innehalten, nicht gleich entscheiden und tun Müssen, zentral sein: Raum und Zeit für die eigenen Beweggründe, mit Abstand anschauen und bewerten statt sich im Meer der vielen Stimmen fortschwemmen  zu lassen.  Achtsamkeit, der erste Hilfefaktor aus dem AWOKADO-7-Schritte-Programm,  wurde von vielen Menschen aus belasteten Familien als stützender Faktor zum „Jetzt besser leben“ beschrieben. Weitere Übungen und Artikel auf dieser Seite (s.a.Kreativ-Coaching) und im Buch „Vater, Mutter Sucht“.