Nichts fuehlt sich richtig an:Wie Erfahrungen mit (sucht-)belasteten Eltern Ihre Bewertungen beeinflussen

„Bei uns zu Hause ist immer Karneval!“, lacht der Kleine (von seinen Lehrern in die Beratung geschickt wegen fehlender Impulskontrolle und unangemessenem Verhalten gegenüber seinen Mitschülern) und beschreibt damit treffend, wie seine Sucht-Familie lebt: mit ständig wechselnden Regeln, die, wenn Papa trinkt, komplett außer Kraft gesetzt sind, alles ist erlaubt… um diese Regeln allerdings dann, wenn der Vater mit dem Trinken aufgehört hat, unter Strafandrohungen wieder einzufordern. Wertungen und ethische Prinzipien werden hier immer wieder in Frage gestellt. In seiner Familie, so erzählt Herr S., Sohn eines Alkoholikers, seien alle Werte vom Alkohol bestimmt gewesen: Menschen wurden als „gut“ eingestuft, wenn sie viel Alkohol anboten und tranken, Nichttrinker galten als zu vermeidende schlechte Menschen- sie provozierten den Vater und wurden folglich gemieden. Solche Erzählungen von Betroffenen muten teils absurd an: und genau diese Absurdität stellt die Lebenswelt der Kinder und erwachsenen Kinder aus belasteten Familien dar.

Die dritte Säule der Identität, die die Normen und Werte betrifft, ist somit, wenn derartige Belastungen sich durch die gesamte Kindheit oder mehrere Jahre ziehen,  stark beeinträchtigt. Betroffene wissen in der Folge nicht mehr, was richtig und falsch, was gut oder schlecht ist: ihre eigenen Bewertungen schwappen ähnlich unsicher hin und her, wie sie es vormals bei ihren Eltern erlebt haben. Vielleicht ist falsch ja richtig, fragen sie sich, und irren kernverunsichert durch ihr Leben, jede noch so kleine kleine anstehende Entscheidung erleben sie dann als große Herausforderung.

 Nina, 17 Jahre, erzählt wie sich ihre Kernverunsicherung in den Alltag webt, hier bei ihrem Zahnarztbesuch: wegen einer  Kieferfehlstellung wurde ihr eine Zahnklammer angepasst. Sie sollte fühlen, ob diese Klammer sich nach dem Einsetzen richtig anfühle. Sie habe weinen mögen, erzählt sie, denn darauf hätte sie keine Antwort gehabt…Wie sollte Nina das auch beantworten können: ihr Kiefer hatte noch nie in der richtigen Position gestanden….Falsch ist für Nina zu richtig geworden. So verhalte es sich auch mit ihrer Gefühlswelt, beschreibt sie aufgeregt….

Wie Nina ergeht es vielen Kindern aus belasteten Familien: wenn tatgtäglich zu Hause Dinge passieren, die eigentlich unmöglich, übergriffig und unwürdig sind, diese aber keinerlei Beachtung oder Sanktion erfahren, kein Entsetzen und kein Aufschreien, keinen Trost und keinen Zuspruch, dann wird  das Übergriffige und eigentlich Unmögliche zur Normalität. Erst im Kontakt mit anderen, etwa nichtsüchtigen Familiensystemen, bemerken die Betroffenen, dass es andere Wertungen und ethische Prinzipien gibt: eine Kernverunsicherung mit großer Lebensunsicherheit ist dann oftmals die Folge. Es gibt einen Weg aus diesem Dilemma, wie sich in der Arbeit mit erwachsenen Betroffenen zeigte: sich mit  Wertvorstellungen und Sinnfragen aktiv zu beschäftigen,  eigene Werte zu definieren, zu ändern oder auch zu stärken, die eigene innere Stimme zu aktivieren, stellt dann eine Kernaufgabe für Betroffene dar. Wenn diese angegangen wird, zeigt sich das Leben oft aus neuer, eigener Perspektive, es wird sinnig-er und stimmig-er.

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

 

Wider den Weihnachtswahn: Notfallgedanken für Festtage mit schwierigen Angehörigen

Gerade, wenn der Frieden in der Welt bedroht scheint, wird die Sehnsucht nach einem friedvollen Ort unendlich groß: ihre Familie, so wünschen die meisten Menschen, sollte ein solcher Ort sein. Ein Ort, an dem sie geliebt werden, so wie sie sind, ein Ort, an dem sie sich wohlfühlen können, wo Resonanzen aufrichtig schwingen, ein Ort, an dem Frieden wohnt. Waren und sind jedoch die Beziehungen zu den Eltern schwierig und stark 20160117_132431belastet, sogar mit Leiden angefüllt, dann wird der Besuch dieses Ortes oft als Gegenteil  erlebt: als Kriegsschauplatz etwa oder als ungeselliger rauer Ort,  an dem, so beschreiben es Betroffene, man keine Luft bekomme, die Atmosphäre  wie zum Zerreißen gespannt sei etc. Gerade Festtage, wie das bevorstehende Weihnachtsfest, die gemeinhin für Gemeinsamkeit in Harmonie stehen, können dann zu einer großen Belastung werden. Insbesondere, wenn bereits schwere Wunden entstanden sind, werden die anstehenden Begegnungen nicht als Freude, sondern als schwere Lasten empfunden. Betroffene fühlen sich gefangen in einem Hamsterrad der offenen Rechnungen Mehr lesen

Was Betroffene  bei Feiertagsbegegnungen mit ihrer belasteten Herkunftsfamilie in Therapien als hilfreich beschreiben, habe ich für Sie in 5 Punkten zusammengefasst: (diese Hilfen sind allerdings nur dann erfolgreich, wenn die Situation nicht völlig verfahren ist)

1 Klar sehen und Akzeptieren

Schon zum 1. Schritt gehört viel Mut: Akzeptieren Sie und sehen Sie klar, dass Ihre Herkunfts-Familie genau so ist wie sie ist. Ihre Einflussmöglichkeiten sind begrenzt. Reden Sie sich die Situation nicht besser oder schöner als Sie ist (und dramatisieren auch nicht unnötig, indem Sie in die Hilflosigkeit Ihrer Kindheit zurückfallen), um dann wieder und wieder Ungutes zu erleben, etwa wieder von einem Elternteil „angefallen“ zu werden: eigentlich wissen Sie, worauf Sie sich einlassen und können heute vorbauen. Einen besseren Experten für Ihre Familie gibt es nicht: nutzen Sie Ihre Expertise, werten Sie Ihre Erfahrungen aktiv aus! Durchblick kann Sie schützen.

2 Dosieren

Fragen Sie sich vorher: Wieviel Zeit kann ich in meiner Herkunftsfamilie zubringen, ohne  im Anschluss „völlig auf dem Zahnfleisch zu gehen“?…Dann ist es gut möglich, dass Sie bei ehrlicher Antwort nur zwei Stunden statt zwei Tage verkraften. Sorgen Sie für eine angemessene Dosierung oder mindestens für Auszeiten, in denen Sie „raus“ sind, etwa allein spazieren gehen,o.ä.

Auch vielleicht schon lange anstehende Großkampf-Auseinandersetzungen sind selten ein passendes Feiertagsprogramm…

3 Verbinden

Verbündete suchen, mit denen sie sich austauschen können, vorher und nachher oder auch am Telefon während des Besuches. Schauen Sie, mit wem Sie angenehmen Kontakt erleben, vielleicht mit den Kindern Ihrer Geschwister…Sie können heute bestimmen, wem Sie sich verstärkt zuwenden möchten. Wählen Sie nach Möglichkeit Menschen aus, die im Rahmen des Möglichen gut tun. Sind Sie allein mit einem schwierigen Elternteil, so kann es sinnvoll sein, Telefonverbündete vorher zu informieren und Kontakt im Dazwischen sicherzustellen…

4 Distanzieren

Aktivieren Sie Ihren inneren Beobachter, so wie Sie es in Meditationen und Kontemplationen auf diesen Seiten schon geübt haben.Eine wichtige Brücke dabei ist die Konzentration auf den eigenen Atem. Wenn Sie merken, dass  Sie sich unwohl fühlen, gehen Sie mit Ihrer Achtsamkeit zu sich selbst und verankern sich in Ihrem Atem. Kreative Menschen nutzen solche Situationen teils, um sie später als Geschichten zu schildern…manche Satire konnte so entstehen…auch Humor und ein humorvoller Blick kann eine  Distanzierungshilfe sein.

5 Umgestalten

Aktiv neu gestalten: Neue Feierformen ( etwa mit Freunden und Familie gemeinsam feiern oder an einem anderen Ort, an ungewöhnlicher Location), die ihnen mehr entsprechen.. Dies zeigte sich als ebenso hilfreich wie das Verändern von alten unguten Verhaltensweisen. Wenn Sie sich in ihrer alten Rolle und einem Familien-Muster gefangen fühlen ( „Du hast doch immer gute Laune!“ und dabei immerzu „schlucken, um harmonisch sein“..) kann es ein erster Schritt sein, ein bisschen anders zu agieren, auch mal zu zeigen, wenn Ihnen etwas nicht passt. Hier kann auch helfen, ein inneres Team zu aktivieren. Kleine Dinge können verändernd wirken: legen Sie Musik auf, die sie gern mögen, unterhalten Sie sich mit einem Familienmitglied, mit dem es sonst kaum möglich scheint

Natürlich kann in bestimmten Fällen ( insbesondere wenn die Eltern kooperations-und bindungsfähig sind) Ihre Einstellung, mit der Sie an den Besuch herangehen, einen wichtigen Beitrag leisten, etwa indem Sie Erwartungen von vorneherein reduzieren und Enttäuschungen vermeiden. Herr N., 32 Jahre, erzählt:

Ich weiß jetzt, dass ich nie die emotionalen Eltern haben werde, die ich mir gewünscht habe, aber ich bin dennoch dankbar für die Versorgung und das, was sie mir als kleines Kind, bevor ihre psychischen Probleme und Ehestreitigkeiten überhand nahmen,  gegeben haben. Ich werde versuchen, mit diesen sozialen, versorgenden Eltern in Kontakt zu bleiben – seit ich meine emotionalen Erwartungen an meine Eltern aufgegeben haben, empfinde ich nach einer Phase der Trauer nun endlich inneren Frieden.“

Ein Hinweis zum Schluss für traumatisierte Erwachsene: Wurden Sie durch Ihre Familie  traumatisiert, so muss ein Besuch äußerst gut überlegt, vorbereitet und dosiert sein: körperliche Symptome und psychische Gereiztheit sind dann oftmals Belastungssymptome, die sich unter Kontakt mit den Menschen, die ihnen Schlimmes angetan haben, verständlicher Weise verstärken. Dann gilt es, Ihre Symptome zu verstehen und übersetzen, sich ihrer anzunehmen anstatt sich zu bezichtigen, „unnormal“ zu sein.

Ich wünsche Ihnen gute, sinnerfüllte und friedliche Weihnachtstage.

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

I

Vergessenen Kindern eine Stimme geben – Texte zur Coa-Aktionswoche/3

„Alle tun, als gäbe es das nicht!“


Dass meine Mutter trank, das hat niemand gewusst. Wir haben auch in der Familie nie darüber gesprochen, das war wie ein schwarzes Loch, jeder wusste, dass es da ist, aber alle tun so, als gäbe es das nicht. Eben unsichtbar. Für mich war es glaube ich am schlimmsten, weil ich am meisten mit ihr zusammen sein musste, ich war ja die Jüngste. Meine Geschwister haben auch nie was gesagt, zu peinlich, glaube ich. Mein Bruder verliert bis heute kein Wort darüber. Ich glaube, er denkt, wenn er nicht drüber redet, dann gibt es das Trinken meiner Mutter auch nicht. In der Schule war ich nervös, weil ich ja nicht wusste, was mich zu Hause erwarten würde. Wenn ich nach Hause kam und sie schlief, dann war es ganz gut, dann standen da leere Flaschen rum und ich wusste, heute passiert mir nichts mehr. Schlecht war, wenn sie halb voll war. Dann saß sie mit der Rotweinflasche neben mir und kontrollierte meine Hausaufgaben, da konnte ich mir dann schnell mal ein paar einfangen. Mein Vater hat dazu nichts gesagt, er hat mich manchmal in den Arm genommen, er hat gesagt: Du musst tun, was deine Mutter sagt. Sei nicht so ein Dickkopf! Meine Lehrer haben meine Eltern mal angesprochen, warum ich immer so schnell ausflippe und dass man mit mir nicht reden kann und so, da haben sie gesagt, dass ich von Klein an zickig war und dann war das Thema vom Tisch.
Mit meinen Freunden habe ich da auch nicht drüber gesprochen: ich fand das peinlich. Ich glaube auch, die fanden, wenn sie mal bei uns waren, ich durfte ja kaum Besuch haben, meine Mutter cool. Sie hat dann alle in den Arm genommen und war lustig und hat meinen Freundinnen Alkohol angeboten, den sie ja sonst noch nicht trinken durften. Ich glaube, ich war die einzige, mit der meine Mutter Probleme hatte- vielleicht bin ich schuld, dass sie so getrunken hat. Wenn man eine Tochter hat, die einen nicht versteht und zickig ist, glaube ich, dann ist man traurig und will mit Trinken vielleicht bessere Laune kriegen… Sarah, 14

   Dr. Waltraut Barnowski-Geiser ist Therapeutin, Lehrende und Autorin. Vater, Mutter, Sucht (2015) und Hören, was niemand sieht (2009) sind ihre Bücher zur Thematik. In der Praxis KlangRaum in Erkelenz bietet sie Hilfe für Menschen mit Kindheitsbelastungen auf der Basis des von ihr entwickelten AWOKADO-7-Schritte-Programms