Angst, meine Kindheit,Corona und ich

Angst ist in diesen Krisentagen weit verbreitet. Sehen wir Angst zunächst als  ein Gefühl, das primär unserem Schutz dient. Ausprägung und Stärke der Angst, der Umgang mit der CoronaKrise und ihren Folgen, ist individuell. Bei jedem Menschen fallen Krisen und die damit auftretenden Ängste auf einen biografischen Boden: jede/r hat Unterschiedliches erlebt und auf unterschiedliche Weise bewältigt. Was wir in unserem Leben erfahren haben und unser Umgang damit, bestimmt, wie wir auf neue Situationen zugehen. Unser Umgang mit der aktuellen Corona-Krise ist bestimmt durch vorhergehende Krisenerfahrungen. Menschen mit frühen und dauerhaften belastenden Erfahrungen in ihren Familien sind somit geprägt: sie entwickeln teils große Ängste, wenn Situationen unkontrollierbar erscheinen und sie auf deren Verlauf offensichtlich keinen Einfluss haben. Zugleich haben belastete Kinder auch besondere Stärken und Copings entwickelt, die sie im Jetzt unterstützen können- die Zugänge zu diesen Krisenhelfern sind ihnen teils abhanden gekommen, in Vergessenheit geraten oder unter ängstlicher Erstarrung verschütt gegangen.

Was Krisen, Stress, Gefühle und das Gehirn miteinander zu tun haben

Die schlechte Nachricht, die Ihnen als Betroffene sicher bereits bekannt ist, vorab: Kinder, die dauerhaft Krisen  ihrer belasteten Familien ausgesetzt sind, können massive Folgen davontragen; diese Folgen sind teils messbar an ihrem Serum-Cortisolspiegel und in Hirnstrukturen,  können sie doch neuronale Strukturen des Hippocampus, der Amygdala sowie des Corpus Callosum zerstören. Verursacht werden zum Teil organisch begründbare Regulationsstörungen, später auch komplexe Störungen von Lernen, Emotionen und Verhalten (Trost 2003). Auch wenn dieser Zusammenhang von neuronaler Schädigung für betroffene Kinder in quantitativen Untersuchungen noch nicht hinreichend untersucht ist, muss vermutet werden, dass Gehirne von Kindern aus belasteten Familien durch das emotionale Klima ihrer Familien stark geprägt sind. Es steht zu befürchten, dass lang andauernde wiederholte Belastungen der familiären Umwelt neuronal entsprechend verankert werden und diese‚ emotionalen Straßen’ auch dann aufgesucht werden, wenn es nicht mehr von Nöten ist. Dies zeigte sich bei denjenigen erwachsenen Personen, die bis ins hohe Alter keine Auflösung des familiären Tabus erfahren hatten, bei denen sich etwa Suchtbelastung durch etliche Jahrzehnte zog und auch im Erwachsenenalter lebensbestimmend blieb. Es scheint in diesem Fall schwer zu sein, eingefahrene Hirnstraßen zu verlassen (etwa die der Angst und Ohnmacht) und neue Straßen (Freude,Hoffnung etc.) zu befahren. Damit kann ein wesentlicher Faktor zur Orientierung in der Welt durch das familiäre Erleben maßgeblich negativ beeinflusst werden.

Vererbt durch die Generationen?

Sogar genetisch scheinen diese Erfahrungen Spuren zu hinterlassen (In jüngerer Zeit wurde an Mäusen nachgewiesen, dass die Gene bei Nachkommen traumatisierter Mütter in Mitleidenschaft gezogen waren; sie zeigten sich als weniger Stressresistent und verzweifelter in eigenen Krisensituationen). „Muss ich das auch noch wissen?“, denken Sie nun vielleicht,“ das ist doch nur traurig. Ich finde, ja, sie sollten das wissen, um sich selbst ein Stück besser zu verstehen und sich in Ihrem „So-Sein“ annehmen und nicht noch zusätzlich abwerten, als „Weichei, Mimose, Versager“. Erst, wenn wir verstehen, warum wir wurden, wie wir sind, können wir besser neue Krisen bewältigen, einen Zugang zu unserer wahren Identität bekommen: im anderen Falle, wenn wir Altes unerkannt abspalten, drohen wir uns selbst fremd zu bleiben und in alten, ungünstigen Krisencopings ( zum Beispiel dem Erstarren) feststecken zu bleiben. Angst ist ein Signalgeber, im besten Fall Wachrüttler.

Hirne sind nutzungsabhängig: warum Kinder mit familiärer Belastung leicht ängstlich werden

Schauen wir weiter aus neurowissenschaftlicher Perspektive. Versuchte Erklärungen müssen im Angesicht der hochkomplizierten  Vorgänge in unseren Hirnen unverschämte Vereinfachungen bleiben…versuchen wir dennoch eine Annäherung: Außenwelt hinterlässt Spuren in der Innenwelt. Neurologisch spricht man hierbei von inneren Repräsentationen der Außenwelt. Auch die Repräsentationen unserer Gefühlswelt (neurowissenschaftlichen Untersuchungen u.a. von Braun, Spitzer) spiegeln  erlebte Erfahrungen. Unsere Gefühlswelt ist erlernt, vor allem in sozialer Erfahrung. Befinden, Stimmungen und Gefühle sind bei Kindern aus belasteten Familien stark in Mitleidenschaft gezogen. Kinder lernen etwa: „Wenn Papa trinkt, gibt es Ärger für mich!“ Wird diese Erfahrung wiederholt gemacht, wird diese Erfahrung auch neuronal verschaltet: sie bildet eine Hirnspur. Je öfter diese Erfahrung gemacht werden, umso tiefer gräbt sich diese Spur im Hirn ein, sprich: Kinder entwickeln Ängste ( eine Hirnautobahn „Angst“) und weitere mit diesem Erleben verbundene Gefühle werden nutzungsabhängig verschaltet. Aus dem Kind, das in einer Szene Angst hat, wird bei dauerhafter Wiederholung, leicht ein überängstliches Kind: insbesondere dann, wenn, wie oft in tabuisierenden Familien, das Gefühl des Kindes nicht benannt und besprochen werden darf, das Kind folglich keine angemessene Unterstützung in Form von Trost oder Halt erfährt.

Kindheit prägt unser Erleben als Erwachsene

Das Befinden Betroffener wird durch dieses kindliche Krisenerleben geprägt, das Gehirn entsprechend gebaut – auch als Erwachsene, wenn das Elternhaus längst verlassen wurde, sind diese grundlegenden Verschaltungen angelegt. Es ist also nachvollziehbar, dass ein in der Kindheit entsprechend „verschalteter“ Erwachsener, der die Spur Angst zu einer regelrechten Autobahn im Kopf entwickelt hat (Formulierung in Anlehnung an Hüther), auch als Erwachsener schnell auf eben dieser Autobahn landet. Denkweisen, Selbstbild, Körpererfahrung usw. sind neuronal verschaltet: sie bilden ein Erlebens- Panorama im Jetzt, das im familiären System erlernt wurde.

Denken wir die vorangestellten Forschungen für Erwachsene aus belasteten Familien weiter, so wird deutlich:

  • es besteht ein Zusammenhang zwischen emotionalen Belastungen in Kindheitstagen und emotionaler Befindlichkeit im Erwachsenenalter
  • es besteht ein Zusammenhang von wiederholten stressenden Kindheitserfahrungen und chronischen/schweren Erkrankungen im Erwachsenenalter.

Eine große Belastung der Lebensqualität von Menschen mit belasteter Kindheit erscheint  evident. Somit stellt die aktuelle Corona-Krise neben medizinisch-alltäglichen Überlegungen insbesondere Menschen mit Kindheitsbelastungen vor große psychische Herausforderungen – .

„Help…I need somebody“

Fasst man die vorab geschilderten Forschungsergebnisse zusammen, so sind die Belastungen und Folgen bei Kindheitsbelastungen hoch einzustufen. Und dennoch eine gute Nachricht aus der Forschung:  es gibt Stärkendes! Widerstandskräfte, die uns schützen, sogenannte Resilienzen. Resilienzen sind also das, was uns stark macht.  Resilienzen sorgen dafür, dass viele Menschen mit Kindheitsbelastungen eben auch nicht erkranken. Eine bedeutsame stabile Beziehung im Umfeld eines aufwachsenden Kindes ist eine solch hochwirksame Resilienz. Sind Erkrankungen vorhanden, zeigten sich etwa Meditation und soziale Anbindung als hochwirksam. Vernetzen und andere Menschen mit ins Boot Holen zeigt in allen Lebensphasen Wirkung. Nervensystem und Immunsystem können einander verständigen, dies können wir für uns nutzen. Decartes Dualismus hat lange Medizin bestimmt. Aber neuere Forschungen überprüfen, wie Gehirn und Immunsystem zusammenhängen und es wird deutlich: sie sind in ständigem Austausch. Ein gestresstes Gehirn beeinflusst das Immunsystem, somit gilt auch die Umkehrung: ein entspanntes Gehirn entlastet den Körper. Körper und Geist sind eine Einheit, was ganzheitliche, integrative, leiborientierte, kreative und komplementär-Medizin für Betroffene auf den Plan ruft. Basis bildet weiterhin die Schulmedizin. Gute Erfolge ließen sich auch durch kognitive Umstrukturierung erzielen, also problematische, dysfunktionale Gedanken, etwa durch einen anderen Gedanken zu ersetzen ( wie es in einigen Religionen und Philosophien auch seit Jahrtausenden gelehrt wird)…  Selbstheilung können Sie aktiv unterstützen. Sogar ein EEG kann signifikant verändert werden. Sie können durch Ihre Lebens-und Denkweise Einfluss nehmen.

Ein wichtiger Faktor: eine soziale Umgebung, ein Feld der Hoffnung (gerade dürfen wir auf einen Impfstoff hoffen) und Zuwendung (teils Liebe genannt), im Idealfall im eigenen Zuhause. Der Satz: „Ich kann gesund werden!“, oder: „Ich kann meine Kindheitswunden überwinden!“ gehört zur hochwirksamen Einstellung, die Veränderung und damit Wege aus der erstarrten Angst möglich werden läßt. Hilfe für Betroffene muss individuell erfolgen, spezifisch zugeschnitten sein: sie benötigt mindestens einen wohlwollenden Anderen. Immer sollte sie Anregung zur Selbsttätigkeit beinhalten (hierzu auch das AWOKADO-Selbsthilfe-Programm in Vater, Mutter, Sucht 2015 und Meine schwierige Mutter 2017).

Das hilft
Glauben wir den Erkenntnissen der Psychoneuroimmunologie, so helfen Krisenkindern bei der schwierigen Bewältigung vor allem: Optimismus, stabile Sozialkontakte, ein  Alltag mit guten Erfahrungen sowie körperliche Nähe.

Der in der Kapitelüberschrift verwendete Oldie der Beatles bringt auf den Punkt, was wir Kindheitsbelastungen, Stimmungs-und Befindlichkeitstörungen entgegensetzen können: Hilfe suchen und annehmen, die Verbindung und Zuwendung von anderen, nahestehenden Menschen…die entstehende Überlastung im Beruf würdigen und zunehmend mehr Menschen müssen sich eingestehen, dass längst nicht mehr alles schaffbar ist, bestimmt nicht alles wir früher, perfekt laufen kann- nur, so gut es eben geht.  Vielleicht schreiben Sie anderen hier, indem Sie die Kommentarfunktion nutzen, wie Sie es gerade schaffen trotz Corona-Krise, vielleicht trotz Ihrer Angst – ich freue mich, von Ihnen zu lesen.

Bleiben Sie gesund und behalten Sie bei aller nötigen Hygiene vor allem auch Ihre Seele im Blick,

bis ganz bald

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Ich stoppe meine Selbstabwertung!…ein wichtiger Vorsatz fuer Erwachsene mit Kindheitsbelastungen

Sich selbst abzuwerten, ist Menschen mit Kindheitsbelastungen seltsam vertraut. Dies lässt sich entwicklungspsychologisch nachvollziehen: wer von klein an mit schwierigen Belastungen, etwa mit psychisch oder suchterkrankten Eltern aufwächst, bezieht das Verhalten der Erkrankten oftmals auf sich. Verhalten die ihn Umgebenden sich über lange Zeit „krankhaft“, so glaubt das Kind, das sich in der Phase des Egozentrismus befindet, für dieses Verhalten verantwortlich zu sein. Erfährt es in dieser Phase keine angemessene Auflösung (hält etwa das süchtige und für das Kind wenig befriedigende Verhalten der Eltern über lange Zeit an) , so kann dies  zum lebensbegleitenden Thema werden. Irgendwann ist die eigene Abwertung und sich für alles Negative verantwortlich Fühlen so vertraut, dass es Betroffenen gleichsam zur zweiten Haut wird. Oft zieht Selbstabwertung ungesunde Selbstausbeutung nach sich. Ein Um-und Neulernen wird nötig. Vielleicht auch Ihr Vorsatz nach dem Sommer?

Herzliche Grüße

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Dennoch Lieben- Ode an ein Gefuehl

Ich hab‘ ein zärtliches Gefühl
für jede Frau, für jeden Mann
für jeden Menschen, wenn er nur
vollkommen wehrlos lieben kann

Hermann van Veen

Neulich spielte mir eine Freundin diesen Song vor. Der Song berührte mich, auch wenn er nun zu den „Oldies“ gehört…An wen Hermann van Veen bei diesen Zeilen wohl gedacht haben mag? Eine wunderbare  Beschreibung…vollkommen wehrlos lieben. Eine Beschreibung, die ich heute mit Ihnen, liebe LeserIn des Blogs, teilen mag. Mit dieser Formulierung macht Songpoet Van Veen uns eigentlich Unbeschreibliches begreifbar: die Selbstaufgabe etwa, die mit einer großen Liebe einhergehen kann, ein sich verletzbar und angreifbar Machen, ein Öffnen bis hin zur Wehrlosigkeit, in einer Unschuld, die dieser Art zu lieben ureigen scheint…

Diese Art zu lieben begegnet mir oft zwischen Kindern und ihren Eltern, auch und gerade dort, wo man sie nicht vermutet: Gerade dort, wo schwere Erkrankungen oder Belastungen beheimatet sind, die die mitbetroffenen KInder schwer betreffen. Sehr häufig wird diese besondere Fähigkeit, zu lieben, übersehen: in den Familien wie in Therapien, oder gesehen und abgewertet. Gefangen in der Ambivalenz zwischen Liebe und Hass droht das Gefühl der Liebe überhaupt verteufelt zu werden: die Liebe wird schuldig gesprochen, gilt als Mit-Verursacher des persönlichen Dramas in der familiären Enge. Habe ich meinen kranken Vater mit in die Sucht geliebt?, fragt sich dann manch ein Kindheitsbelasteter quälend und auf verquere Weise wird, unterstützt durch ähnlich verquere therapeutische Intervention, aus einem liebenden Angehörigen ein Verursacher, etwa der elterlichen Sucht… anstatt ihn zu sehen als denjenigen, dem in seiner Liebe Schlimmes widerfuhr oder noch widerfährt…

Lieben und zugleich  auf die eigene Grenze achten stellt für erwachsene Kinder belasteter Eltern eine große Herausforderung dar: und vor allem die Herausforderung,  das von van Veen besungene zärtliche Gefühl für die eigene Liebesfähigkeit zu bewahren…oder es heute erstmals aufkeimen zu lassen. Es erfordert immer wieder den Mut der betroffenen Kinder: spätestens,  wenn das Wagnis der Liebe mit anderen Menschen neu eingegegangen werden will. Menschen gehen oftmals Beziehungen ein, aber nicht unbedingt Bindungen oder Lieben…Und wie lieben Sie?

Anbei ein Link zu einer frühen Aufnahme des Songs,

herzliche Grüße

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Bücher zur Thematik von BlogAutorin Dr. Waltraut Barnowski-Geiser hier

Den Himmel sehen…auch in der Krise

Die Krise rund um das Corona-Virus dauert an. Nun sind wir schon ein ganzes Stück des Weges hier im Blog gemeinsam gegangen.

Nehmen Sie sich doch einen Augenblick Zeit und gehen Sie der augenblicklichen Krise im Außen nach… überlegen, wann Sie die Corona-Krise eigentlich zum ersten Mal bewusst wahrgenommen haben?

Wann fing das Thema Corona an, in Ihrem Leben Bedeutung zu bekommen?

Was hat sie eingeschränkt, vielleicht sogar massiv, und was haben Sie vielleicht auch neu dazugewonnen?

Was hat Sie durch die Krisentage getragen?

Menschen mit schweren Kindheitstbelastungen sind in der Regel zwangsläufig KrisenbewältigungsmeisterInnen geworden. Mich interessiert seit vielen Jahrzehnten, was genau Menschen hilft, mit schweren familiären Krisen umzugehen… und wie es dennoch möglich wird, ein befriedigendes oder gar glückliches Leben zu führen. Dazu habe ich über ein Jahrzehnt Menschen befragt und anschließend analysiert, welche Bausteine sie gefunden hatten, um ihr Leben gelingen zu lassen. Einige dieser Interviews, die ich mit kreativen Methoden geführt habe, in den nächsten Tagen hier in Kurzfassung. Die Befragten waren eingeladen, die Zeit vor der Therapie, das Jetzt und ihre Zukunft in Bildern, Klängen oder Bewegungen darzustellen. Heute Frau H, zum Zeitpunkt der Befragung 37 Jahre alt und Tochter eines chronischen Alkoholikers

Vor der Therapie: „Hexenkessel

„Ich bin in einem inneren Hexenkessel gefangen, nichts aus mir darf hinaus. Ich habe Ängste und weiß nicht mehr weiter. Ich habe die Orientierung für mein Leben verloren.“

Jetzt:  „Himmel sehen

„Ich sehe die Dinge klar und habe wieder einen Blick für die Weite. Ich sehe den Himmel über mir und verspüre Lebensfreude.“

Zukunft „In Balance“

„Ich möchte noch ausgeglichener werden und  nicht mehr abhängig von meinen Stimmungen, vielleicht noch unabhängiger von meinen Beziehungen.“

Hilfreich:

„Ich habe in der Therapie zum ersten Mal Wertschätzung und Würdigung erfahren und mich dadurch getraut, wahrzunehmen, was in mir brodelt. Die Würdigung in der Therapie hat mich geöffnet und mir eine neue Orientierung gegeben.“

(zit. Barnowski-Geiser, 2009. Hören, was niemand sieht)

Sehen Sie nun auch wieder den Himmel? Ein schönes Bild, finde ich…und das wünsche ich IHnen,

herzlich

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Nicht nur zur Weihnachtszeit-Elternbeziehungen auf dem Prüfstand

Neue Beziehungschancen durch Perspektivwechsel?

Herr N., 32 Jahre erzählt: „Ich weiß jetzt, dass ich nie die emotionalen Eltern haben werde, die ich mir gewünscht habe, aber ich bin dennoch dankbar für die Versorgung und das, was sie mir als kleines Kind, bevor ihre psychischen Probleme und Ehestreitigkeiten überhand nahmen,  gegeben haben. Ich werde versuchen, mit diesen sozialen, versorgenden Eltern in Kontakt zu bleiben – seit ich meine emotionalen Erwartungen an meine Eltern aufgegeben haben, empfinde ich nach einer Phase der Trauer nun endlich inneren Frieden.“

Weihnachtstage sind für viele immer noch Familientage: und damit oftmals Krisentage. Gerade in der Vorweihnachtszeit, in der Familienbesuche und soziales Zusammenrücken groß geschrieben werden, geraten Menschen aus belasteten Familien unter besonderen Stress: „Soll ich meine Eltern öfter besuchen, soll ich den Kontakt zu meinen Eltern abbrechen oder diese Beziehung doch aufrecht erhalten?“… „Liebe ich meine Eltern oder hasse ich sie nicht eigentlich, nach allem, was sie mir angetan haben?“ “ Aber bin ich Ihnen das als Ihr Kind nicht schuldig, Sie sind doch meine Eltern?“ So und ähnlich lauten Fragen, die sich erwachsene Kinder aus belasteten Familien oftmals quälend stellen und auf die sie nur schwer im „Entweder oder“ Antworten finden. Harmonisch Weihnachten feiern im Kreise der Lieben, so wird uns nicht nur in der Werbung suggeriert, ist scheinbar das Normalste der Welt…Warum gelingt das so schwer? Beratungsstellen und Therapeutische Ambulanzen haben vor dem Fest der Liebe regelmäßig Hochkonjunktur. Menschen, die etwas durch ihre Eltern erlitten haben, fühlen sich, wenn sie sich distanzieren, allein und ausgegrenzt oder, wenn sie sich mehr in die Herkunftsfamilie begeben, in einer erzwungenen Harmoniefalle. Es scheint kaum einen Ausweg zu geben aus diesem Dilemma. Oft liegt diesem „Ich sitze in der Falle“-Gefühl“ eine „Entweder-Oder“-Sicht zugrunde. Die alte offene Rechnung mit den Eltern schmerzt und doch gibt es diese Sehnsucht nach Zuhaus…Herr N. hat viele Jahre des Trauerns, Zürnens und Verzweifelns mit seinen Eltern hinter sich. Was ist nun anders?

Die schwierige Suche nach dem „Und“

Manchen Betroffenen hilft es, einen Perspektivwechsel vorzunehmen. Sie sehen die Elternbeziehung differenzierter an. Sie betrachten komplexer, etwa nicht mehr ausschließlich den Mangel  oder nicht ausschließlich das Gute: was konnten die Eltern nicht geben und was vielleicht doch, trotz der familiären Belastung?   Viele Eltern-Kind-Beziehungen stecken im Hamsterrad der alten offenen Rechnungen fest: die Eltern geben etwa Materielles und definieren, wie undankbar ihr Kind für ihre zahlreichen Gaben sei. Die Kinder können die elterlichen Gaben kaum würdigen, scheint doch, so empfinden sie schmerzlich, weder ihre emotionale Leistung noch ihre kindliche Belastung anerkannt, noch bekommen sie heute die ersehnte emotionale Zuwendung,  in Form von Resonanz, Wärme und Zuwendung.

Nicht „einfach“- Ambivalenz

Wenn die Eltern-Kind-Beziehung belastet ist, dann fühlen Kinder oft auch noch als Erwachsene ambivalent: sie lieben und sie hassen, sie wollen sich distanzieren und haben doch große Sehnsucht nach elterlicher Zuwendung. Diese Ambivalenz gilt es anzuerkennen und auszuhalten. Einige negieren die Schattenseite, andere die, nennen wir sie hier „Lichtseite“, der Eltern.

Viele erwachsene Kinder  aus belasteten Familien fühlen sich zerrissen zwischen Licht- und Schattenperspektive, von Gefühlen, die sie als widersprüchlich und als ein „Entweder-oder“ empfinden. Manche finden bei genauerem Hinsehen ein „Und“, das in ihrer inneren Bewertung vorher kaum eine Rolle spielte. Oft wirken diese Sichtweisen gegensätzlich: sie wurden jedoch in der Regel beide erlebt. In unterschiedlichen Beziehungsphasen rückt dann jeweils nur die Lichtseite oder nur die Schattenseite in den Blick. In der Und-Perspektive wird manchmal beides möglich:  dass Eltern  materiell  unterstützten und das Kind doch  emotional zu kurz kam. Dass  es eine gute Versorgung  mit Essen und Trinken gab und   Kinder doch emotional unterernährt wurden: Sie waren etwa viel zu früh in der Elternrolle statt, dass ihre kindlichen Bedürfnisse befriedigt wurden (Kinder waren „Eheberater“, „Therapeuten“, „Mediatoren“ ihrer Eltern – unbezahlt, ohne Dank) und die Eltern  haben  eine freie, unkonventionelle Lebensform ermöglicht, geholfen,Träume zu realisieren etc..Herr N. kann sich nun nach jahrelangem Ringen mit den Eltern arrangieren- er beschreibt sich als versöhnt. Dieses „Versöhnen“, und darauf möchte ich ausdrücklich hinweisen, ist nicht „einfach so“, wie teils vollmundig propagiert, als positive Denkleistung „mal eben so“ möglich, sondern sie setzt, oft jahrelange Prozesse voraus, ein Anerkennen des Geschehenen, ein Durcharbeiten, ein Verstandenwerden, gehört-gesehen, getröstet werden.

Die radikale Annahme dessen, was ist, wie sie etwa im Zen propagiert wird (und von verschiedenen therapeutischen Richtungen, wie Gestalt-und Integrativer Therapie auch favorisiert wird, etwa Marsha Linehan), kann ein erster Schritt sein: Akzeptanz von scheinbar widersprüchlichen Gefühlen und Impulsen, die radikale Bestandsaufnahme, was die Beziehung zu den Eltern in ihrer Komplexität und vielleicht als widersprüchlich empfundenen Ganzheit eigentlich ausmacht: Licht und Schatten. Die Entdeckung des „Und“  anstatt des „Entweder oder“ kann  befreiend wirken.  Manche Beziehungen sind so stark belastet, dass der Kontaktabbruch als einziger Ausweg erscheint – das kann eine not-wendige Option sein, Zufriedenheit mit dieser Lösung bleibt oft jedoch aus (mehr dazu im Buch Barnowski-Geiser 2015: Vater, Mutter, Sucht).

Vielleicht ist das Weihnachtsfest für Sie eine Chance, zu beobachten, nach Licht und Schatten zu suchen und auch nach dem eigenen Maß, wieviel Herkunftsfamilie Ihnen gut tut.

Eine gute Vorweihnachtszeit wünscht

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

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Dr. Waltraut Barnowski-Geiser ist Therapeutin, Lehrende und Autorin. Vater, Mutter, Sucht (2015) und Hören, was niemand sieht (2009) sind ihre Bücher zur Thematik. In ihrer Praxis KlangRaum in Erkelenz bietet sie Hilfe für Menschen mit Kindheitsbelastungen auf der Basis ihres AWOKADO-7-Schritte-Programms an.

Meine schwierige Mutter.Das Buch für erwachsene Töchter und Söhne

Auch als Kind einer schwierigen Mutter ist es möglich, im Erwachsenenalter ein gutes Leben zu führen und den Ballast des Elternhauses abzuwerfen. Die Autorinnen zeigen konkrete Wege dorthin mit kreativen Übungen, Selbsttest und Möglichkeiten der Selbstreflexion. Mehr Info Klett-Cotta-Verlag

„Ein intelligenter, differenzierter und elaborierter Ratgeber…der den Leser durch Vielschichtigkeit und Fülle fordert.“

Jens Flassbeck auf socialnet

Erschienen im Klett-Cotta Verlag, 2.Auflage 2019, 175 Seiten, 17€

Ich freue mich, dass dieses Buch in Zusammenarbeit mit meiner Tochter Maren Geiser-Heinrichs entstehen konnte

Sie essen und werden nicht satt?Hunger stillen…einmal anders

„Das kleine Kind, das etwas erlitten hat, wohnt weiter in uns Erwachsenen: Je mehr es erlitten hat. je mehr es vernachlässigt und überhört wurde, umso mehr braucht es unsere Aufmerksamkeit heute“ (Barnowski-Geiser/Geiser-Heinrichs 2017: Meine schwierige Mutter. Das Buch für erwachsene Töchter und Söhne. Klett-Cotta).

„Ich esse und esse und werde nicht satt!“, erzählt eine 33jährige junge Frau, inzwischen Mutter zweier Kleinkinder. „Und für dieses Schlingen und essen schäme ich mich dann so sehr…ich mag auch nicht darüber reden. Ich habe schon viele Diäten probiert, das nützt nichts. Ich versage immer wieder!“

Bei manchen Menschen hilft der Blick auf ihre emotionale Lage und oftmals auf die emotionale Biografie, also die Geschichte der Gefühle und Stimmungen. Manchmal haben derartige Essprobleme ihre Wurzeln in der Kindheit. Frau R. ist erwachsene Tochter eines Alkoholikers. Diese Frauen tragen, so zeigen Forschungen, ein erhöhtes Risiko, Ess-Störungen zu entwickeln. Frau R. versucht ihr Problem über eine vertraute Strategie zu lösen: durch erhöhte Kontrolle. Sie gerät in einen unguten Kreislauf zwischen Maßlosigkeit,Kontrolle, Scham. Obwohl sie relativ normalgewichtig ist, schämt sie sich inzwischen für ihren Körper und hat immer weniger Selbstbewusstsein. Ihr neuer Weg setzt auf einer tieferen Ebene an. Dieser neue Weg führt über Zu-und Hinwendung. Frau R. mag das täglich als Programm üben, indem sie jeweils mittags und vor größeren Mahlzeiten folgende Übung durchführt:

1.Atem beruhigen und wahrnehmen: wie fühle ich mich gerade? (Frau R. malt das in ein Kreatives Begleitbuch als Farbe)

2. Was brauche ich jetzt? ( Frau R. gestaltet auch dies farbig)

3.Was kann ich für mich tun, was tut mir gut? Frage beantworten und aktiv Tun

Diese und andere Übungen klingen einfach: für Kindheitsbelastete sind Sie oft gefühlt der Mount Everest. Diese Übungen können Sie, regelmäßig angewendet, effektiv unterstützen ( weitere Kreative Selbsterfahrungsübungen auf dieser Seite und in meinen Büchern.

Übrigens ist das ebenso ein Männerthema: Söhne trinkender Väter haben ein deutlich erhöhtes Risiko, selbst zu Alkoholikern zu werden.  Der Kern des Problems ist in diesen Fällen derselbe: statt Essen wird hier Trinken eingesetzt. Die vorab beschriebene Übung ist hier ebenso sinnvoll. Und: emotionaler Hunger ( hier aus Kindheitstagen) betrifft nicht nur Menschen aus Suchtfamilien.

Ich wünsche Ihnen an den Ostertagen Zeit, in sich hineinzuspüren, Ihren Bedürfnissen zu folgen und den Mut, Neues zu probieren: es lohnt sich!

Herzliche Grüße

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Meine schwierige Mutter- News für erwachsene Töchter und Söhne

Frau R., 27jährige Bankkauffrau, fühlt sich gequält: sie und ihr Partner denken seit kurzer Zeit über Nachwuchs nach. Seitdem sie diesen Entschluss fassen wollten, gerät Frau R. in große Ängste. Sie erkennt sich nicht mehr wieder: sie fühle sich zutiefst verunsichert, habe Zukunftsängste, Angst vor Erkrankungen und glaube, keine gute Mutter sein zu können. Nun wird, wie so oft, die eigene problematische Beziehung zu ihrer Mutter Thema. Eine ganz andere Mutter als ihre eigene möchte sie sein, doch fehle es ihr, wie sie nun wie viele Töchter schwierig erlebter Mütter  überrascht feststellt,  ein geeignetes Rollenmodell (in Anlehnung an Barnowski-Geiser/Geiser-Heinrichs, Buch hier)

Meinen Sie manchmal am Gestern zu verzweifeln? Holen Sie oft alte Bilder ein,  Szenen die doch Jahre oder Jahrzehnte hinter ihnen liegen? Und dann reagieren Sie auf Menschen, die ihnen im Heute doch wichtig sind, nicht so wie Sie möchten, so wie Sie es eigentlich angemessen fänden, und das, obwohl Sie sie doch lieben? Womöglich spüren sie täglich neu das alte Zurückweisungsgefühl,  Bedeutungslosigkeit, empfinden schmerzhaft Lieblosigkeit…  Dann kann es sein, dass ihre Beziehung zu ihren Eltern sich schwierig gestaltete und bis heute nachwirkt. Der erste Bindunsgtanz, in der Regel zwischen Mutter und Kind, ist womöglich nicht gelungen. Wenn das so war, dann ist eine alte Rechnungen offen geblieben. Viele Kinder, die spüren, dass ihre Mütter keine guten Bindungstänzerinnen sind (etwa überfordert oder wenig feinfühlig sind), geben schlichtweg alles, damit der Tanz doch gelingen möge. Denn sie spüren , so klein wie sie auch sein mögen, dass sie auf ihre Mütter und deren Tanz angewiesen sind.Und oft sind sie in diesem Tanz dann die Erwachsenen und die Mütter leben kindliche Anteile, die in ihrer Geschichte unbefriedigt blieben. Die Rollen verschwimmen, das Kind wird, statt selbst mütterliche Zuwendung zu erfahren, allzu früh und ungefragt zur Mutter der MUtter. Es muss dem kindlichen Anteil der Mutter mit mütterlichen Anteilen zur Verfügung stehen: es wird oft besonders kompetent im Erspüren, im Feinfühligen Eingehen auf die Mutter, aber seine eigenen kindlichen Bedürfnisse bleiben auf der Strecke. Nur seine sehnsüchtige Suche nach all diesem in KIndhitstagen zu kurz Gekommenen erzählt  dann vom Mangel im  Gestern: diese Sehnsucht erscheint so unermesslich und zugleich dem Kind selbst so unangemessen, dass es sie verdrängt und abwehrt, sich dieser Sehnsucht schämt. Scham ist verschwistert mit Schuld, oftmals wurde so sich schuldig fühlen zum ständigen Belgeiter. Ob das Schwierigsein der Mutter nun einen Namen trug ( z. B- „Borderline-Störung“ oder „Suchtkrank“ etc.), öffentliche Stellen auf den Plan rief ( vielleicht als Vernachlässigung wahrgenommen) oder hinter perfekter Fassade wohnte: diese Spuren können lange nachwirken und eine Art Strippenzieher des Unterbewusten werden. Zutiefst selbstverunsichert fühlen sich diese Kinder sonderbar selbst-entfremdet, verloren und ihren Gefühlen ausgeliefert, bis dahin , dass sie nicht mehr fühlen. Die neuen Beziehungen im Erwachsenenalter scheinen das zu kurz Gekommensein, das Stehengelassen-Werden auf sonderbare Weise zu wiederholen. Zu laut tönen die verinnerlichten mütterlichten Stimmen, der gnadenlosen Richterin etwa, der Abhängigmachenden etc., um nur einige zu nennen. Werden diese Stimmen nicht gehört und erkannt, fühlen sich Betroffene oft wie Statisten im eigenen Leben. Es scheint an der Zeit, das Drehbuch des eigenen Lebens neu zu schreiben: selbstbewusst  Werden durch Bewusstheit (zit. nach Meine schwierige Mutter/ 2017.

Auch gerade jetzt, in diesem Augenblick, kann der passende Zeitpunkt gekommen sein, Ihre Fäden des Gestern in die Hand zu nehmen. Nicht länger Marionette sein, nicht länger Opfer der Geschehnisse gestern, sondern  die Chance ergreifen, das eigene Leben in die Hand zu nehmen. Hier setzt unser Selbsthilfeprogramm an. Denn unsere Erfahrungen zeigen: Ein Blick auf unsere Eltern lohnt, auch im Erwachsenenalter und oft gerade dann; denn oftmals ist, wenn die Kindheit belastend war, der Blick erst aus dem Abstand des Erwachsenenalters, auf dem Boden eines neuen Lebens, in dem die Eltern nicht mehr die Tage bestimmen, möglich. Das, was Sie stark gemacht hat, besonders und einzígartig auf dem Boden ihrer speziellen Muttergeschichte, gilt entdeckt zu werden: es ist der Boden für ein jetzt.besser.leben. Auch für Ihre Kinder und Kindeskinder.

Eine gute Woche wünscht

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Kreativ neue Wege gehen… mit dem Beziehungs-Entlastungs-Diagramm

Manchmal wirkt es so, als wäre alles schlecht: mutterseelen-allein ständen sie da, so empfinden Betroffene: von der schwierigen Beziehung ( etwa zu einem erkrankten Elternteil) ist dann alles andere überschattet, katapultiert sie immer wieder in die von Kind an so oft erfahrene Hilflosigkeit: „Ich bin alleine und nichts und niemand kann mir helfen!“ , lautet dann das wieder und wieder wiederholte Mantra. Es wird für diese Betroffenen leicht zum unguten Glaubenssatz.

Lust, einen kreativen Weg zu probieren?… arbeiten Sie mit dem Beziehungs-Entlastungs-Diagramm, einer Methode, die in meinen Arbeiten nach dem AWOKADO-Konzept entstehen konnte und vielfach erprobt istd.Aufzumalen, welche Verbindungen aktuell wichtig sind, welche Beziehungen belasten-und welche entlasten, ermöglicht ein oft überraschend erlebtes Update: Betroffene können eine neue Sicht auf ihre aktuelle Vernetzung erhalten. Meist sind sie dann überrascht, wie gut sich Ihre Netzwerke heute gestalten, und doch von ihnen übersehen wurden. Einmal aufgemalt, kann das Diagramm immer wieder hervorgeholt werden und die neu gewonnene Perspektive der sozialen Anbindung verschwindet so künftig nicht mehr unter dem Nebel des Gestern.

Führen Sie die Kreativen Selbsterfahrungen nur durch, wenn Sie sich ausreichend stabilisiert fühlen; sprechen Sie im Zweifel vorher mit einem Arzt oder Ihrem Therapeuten-.

Kreative Selbsterfahrung: Beziehungs-Entlastungs-Diagramm (60 Minuten mind)

Anleitung:

Schreiben Sie zunächst eine Liste von Menschen (20 ist dabei erprobte Obergrenze), die aktuell in ihrem Leben eine Bedeutung haben- falls Sie jemanden nicht oft sehen, aber oft in Gedanken mit ihm oder ihr beschäftigt sind, so darf dieser Mensch hier auf jeden Fall Platz finden- ebenso Vorbilder oder Öeitbilder, durch die Sie sich getragen oder inspiriert fühlen. Nehmen Sie dann ein großes Blatt und malen Sie sich selbst in Form eines Kreises in das Zentrum des Blattes: schauen Sie nun auf Ihre Liste und ordnen die Menschen anschließend mit Kreisen auf dem Blatt um Sie herum an, so nah und so fern Sie sie jeweils empfinden ( auch Tiere können hier übrigens einen Platz finden). Im nächsten Schritt malen Sie Beziehungen, die Sie als unterstützend erleben mit grünen Verbindungslinien, belastend erlebte mit roten Verbindungslinien…. Betrachten Sie: was überrascht Sie, was muss noch eingetragen werden, was möchten Sie noch zusätzlich gestalten

Nehmen Sie nun ein zweites Blatt zur Hand und malen Ihr Netzwerk so, wie Sie es gern hätten, so wie es Sie entlastet.

Vergleichen Sie  beide Gestaltungen: was können Sie aktiv tun, um Ihr Netzwerk zu stärken, was, um Belastung zu reduzieren? Gibt es Beziehungen, die Sie künftig mehr leben wollen?

Wen wollen Sie weniger treffen, an wen weniger denken?

Von wem gehen Kontakte und Treffen aus? Werden Sie ausgesucht, eingeladen, gar genötigt?

Heute sind Sie den Kinderschuhen entwachsen, Sie können Ihr Netzwerk aktiv gestalten- oftmals haben Menschen aus belastenden Familien in Ihrer Kindheit die Erfahrung gemacht, ohnmächtig in ein Netz gewebt zu sein… nicht entkommen zu können… ohnmächtig ausgeliefert zu sein…diese Erfahrung können Sie allmählich zugunsten der aktiven Beziehungsgestaltung hinter sich lassen. Das Beziehungs-Belastungs-Diagramm kann ein erster Schritt in diese Richtung sein.

Eine gute Woche wünscht

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

 

„Sei, was wir brauchen!“ -Wie Ihre familiären Beziehungen prägen, wer Sie heute sind

„Gewöhnlich haben wir die Familie als den Ort betrachtet, an dem wir Liebe, Verständnis und Unterstützung finden können, selbst wenn alles andere versagte. Sie ist der Platz, an dem wir uns erfrischen können und an dem wir auftanken, um mit der Welt draußen besser fertig zu werden. Aber für Millionen belasteter Familien ist das ein Mythos.“ (Satir 1993, S.27)

Kinder belasteter Eltern sehen es als ihre Aufgabe an, ihre unglücklichen Eltern glücklich zu machen: Diese Tatsache hat vielschichtige Folgen, die Betroffene bis ins Erwachsenenalter prägen können: das, was die anderen brauchen, ist so wichtig, dass betroffene Kinder sogar für sie existenzielle Bedürfnisse bei sich selbst übergehen, um den belasteten Elternteil glücklich und zufrieden zu machen… und dieses Beziehungsmuster im nicht seltenen Fall mit in ihre weiteren nahen Beziehungen im Erwachsenenalter nehmen. Sie scheinen sich selbst verloren gegangen zu sein.

Wie kommt es dazu? Die Antworten sind vielschichtig, ein Blick auf die Situation der Familie lohnt sich. Belastete Familien befinden sich oftmals in Dauerkrisen, in denen sie zusammenrücken müssen; oft entsteht eine besondere Abhängigkeit, ein besonderes Angewiesensein aufeinander, manchmal ohne emotionale Nähe und Liebe, die die Kinder benötigen. Diese enge Anbindung, die Minuchin Ende der 70er Jahre als familiäre „Verstrickung“ beschrieb, wurde als sehr problematisch für die Entwicklung des Individuums angesehen.IN diesem Feld hat die systemische Forschung viel Pionierarbeit geleistet.

„Aber in der verstrickten Familie geht das Individuum gewissermaßen im System verloren. Seine individuelle Autonomie ist so schwach definiert, dass ihm ein Funktionieren auf individuelle und eigene Weise so gut wie unmöglich gemacht ist.“ (Minuchin/Rosman/Baker 1978, S.43f).

Es entwickelt sich eine belastete Famlienstruktur mit einer eigenen Dynamik, sie nimmt Einfluss auf die gesamte innerfamiliäre Kommunikationsstruktur. Die verstorbene Familientherapeutin Virginia Satir beschreibt vier Formen der gestörten Kommunikation: Beschwichtigung, Anklage, Rationalisieren und Ablenken. Diese Formen begegneten mir besonders in der Arbeit mit Familien, die sich in der Phase der tabuisierten schleichenden oder/und chronischen Belastung befinden (Phasen nach Barnowski-Geiser 2009).

Beschwichtigung zeigt sich insbesondere in der Form, Empfindsamkeit zu entwerten. Sie gipfelt in Äußerungen wie „Ach, die x ist einfach so ein überempfindliches Kind!“

Rationalisieren zeigt sich oft, indem Eltern in therapeutischen Gesprächen dem Erleben des Kindes wenig angemessen erscheinende Vorträge halten. Äußern die Kinder Gefühle und weinen, zeigen sich diese Eltern in der Interaktion zu ihren Kindern seltsam erstarrt und unerreichbar, wenig tröstlich: sie rufen das KInd zurück zur Vernunft.

Anklagen Besonders bitter für Kinder werden Strukturen, die sie zum „Angeklagten“ machen; oftmals um von familiären Problemen abzulenken. Dies passiert etwa dann, wenn Eltern einen Konsens finden, etwa die Suchtbelastung und familiären Probleme weiterzuleben, ohne sie öffentlich werden zu lassen. Kinder übernehmen hier teilweise sehr selbstverständlich die Rolle des „Sündenbockes“, in die sie gedrängt werden. „Wenn Anna nicht so viele Probleme in der Schule häte, müsste ich nicht trinken“, lautet die elterliche Logik, teils vom Partner mitgetragen.

Ablenken: Während Dramatisches und Schlimmes passiert, das eigentlich die gesamte Aufmerksamkeit aller erfordert, wird der Fokus auf eigentlich Nebensächliches gerichtet, etwa“Die Kinder haben ihre Pflichten nicht erfüllt, den Essenstisch nicht abgeräumt“ etc.

Und zugleich gehen die Auswirkungen in den belasteten Familien weit über die Kommunikationsstruktur hinaus: die beschriebene Dynamik des Familiengeheimnisses bringt Resonanzmuster hervor, in denen das Eigene teilweise zugunsten der Systemschwingung aufgegeben werden muss. Betroffene spüren von Klein auf, dass sie vor allem im System einen guten Platz finden, wenn sie sind, was das System braucht. Sie leben in erzwungenen Resonanzräumen, in denen sie irgendwann vergessen haben, dass sie eigene Bedürfnisse haben und erfüllen müssen, vergessen, wer sie eigentlich sind… weil sie es schlichtweg vergessen mussten.

Die Frage: Was brauche ich? muss in diesen Fällen als neue Orientierung von Tag zu Tag gestellt werden, die Erfüllung der Bedürfnise kleinschrittig geübt werden. Probieren Sie es vielleicht in der nächsten Woche aus, nehmen Sie diese wichtige Frage als Begleiter mit in Ihre Woche, auch wenn Ihre Eltern oder Partner erkrankt und bedürftig sind…und das ist, wenn Sie zu den Betroffenen erwachsenen Kindern gehören, wirklich eine schwierige Übung!

Eine gute Woche

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Leere-ueber einen heimlichen Beziehungskiller und wie Sie ihm auf die Spur kommen

Verzweifelte Paare, die in die Therapie kommen, haben manchmal Schwierigkeiten zu beschreiben, was ihr eigentliches Problem ist: der Kern der Probleme ist dann oftmals wenig mit Worten auszumachen. Irgendwie ungreifbar erscheinen ihre Beziehungsprobleme: Man streite sich wenig, es gäbe aber auch wenig Höhen, wenig Tiefen… aber irgendwie sei die Luft raus, heißt es dann. Stumm und verzweifelt, meist resigniert, wirken die derart Betroffenen. Arbeitet man als Therapeutin mit der eigenen Resonanz zum Geschehen, so wird ein ungeliebtes Gefühl spürbar, von dem die Paarthematik dominiert wird: Leere. Leere kann ein Beziehungskiller sein, der unerkannt, im Verborgenen sein Unwesen treibt.

Gar nicht schlimm?

Leere – wenn dieses Gefühl vorherrschend ist, klingt das für Menschen, die mit diesem Gefühl wenig anfangen können (da sie noch kaum Berührung damit hatten oder auch wenig darum wissen und es somit auch nicht wahrnehmen), wenig schlimm. „Leer“, das ist für sie nah an „Es ist doch nichts“, oder auch nah an einem Zustand, den es doch laut Meditations-und Kontemplationsformen gerade zu erreichen gilt. Der erstrebte Geisteszustand der Versenkung ist hier jedoch nicht am Werk, sondern etwas quälend Anderes, das offenbar schwer zu beschreiben ist -. Leere als „Nichts-Ist“. Wenn „nichts ist“, wie kann man dann darunter leiden? Leere kann, wie wir noch sehen werden, tatsächlich sehr unterschiedliche Qualitäten haben. Leere ist alles andere als „nichts“: wie wird quälend erlebt, versetzt in Starre, stumm machend, verbunden mit tiefen Einsamkeitsgefühlen, gepaart mit Antriebs- und Hoffnungslosigkeit, nah an dem, was man landläufig mit „depressiv“ verbindet. So und ähnlich beschrieben Betroffene nach allmählicher Annäherung ihr Tal der Leere. Oft überdeckt Leere andere starke Gefühle, betäubt, anästhetisiert, wie es in der Fachsprache heißt.

Das Drama der Leere im Dopelpack: Beziehungsleere

Die hier beschriebene Form der Leere möchte ich als biografisch verwurzelte Beziehungsleere bezeichen. Betroffene kennen Beziehungsleere dann seit Kindheitstagen: sie sind als Kinder bei ihren Eltern  ständig ins Leere gelaufen, wurden in der Leere stehen gelassen (zum Beispiel nach Trennungen der Eltern oder mit schweren Erkrankungen, hier oftmals nur für Stunden des Tages, aber auch hier mit nachhaltigen Verlust- und Ohnmachtserfahrungen gekoppelt), oder/und erfuhren kaum Resonanz auf ihnen wichtige Gefühle und Ereignisse. Diese Grunderfahrung der Leere, insbesondere in ersten wichtigen Beziehungen, kann dazu führen, dass diese Kinder als Erwachsene weiter suchen, um endlich einen Menschen zu finden, bei dem es eine Auflösung gibt für die in der Kindheit so schmerzlich erfahrene Leereerfahrung. Besonders schwierig wird es, wenn beide Partner als Kinder Leereerfahrungen gemacht haben – und zugleich keine angemessenen Auflösungen gefunden haben. Im ungünstigen Falle verstummen und erstarren dann beide Partner, beide „Kinder der Leere“. Trotz bester Absichten, trotz eigentlich vorhandener Liebe, steckt dann die Liebe im Leere – Drama fest. Oft endet dies mit Trennung und wiederholt sich tragischer Weise, wird der Prozess nicht erkannt, mit neuen Partnern, nur in anderer Besetzung.

Gefangen in der Leere- wenn ungute Beziehungen kein Ende finden

Menschen mit existenziellen Beziehungsleereerfahrungen treffen aud wundersam anmutende Weise immer wieder  auf andere Menschen, die ähnliche Kindheitserfahrungen gemacht haben und bei näherem Betrachten in Bindungsmustern starke Ähnlichkeit mit ihren Eltern zeigen. Die neuronalen Prägungen ziehen in Resonanz magnetisch Vertrautes an: nur unter jeweils anderen Gewändern. Wenn die Partner-Wahl auf jemanden gefallen ist, an dem ungute Erfahrungen wiederholt werden (etwa mit Suchtkranken oder bindungsunfähhigen Partnern), dann ist der Beziehungsalltag meist massiv belastet,  dann mutet es für Außenstehende wundersam an, dass Betroffene ihre Partner, trotz fortwährend beschriebener negativer Erfahrungen, nicht verlassen oder wie sie es selber erleben, nicht verlassen können. Für die Betroffenen selbst ergibt ihr Verhalten auf einer tieferen Ebene durchaus Sinn: sie hoffen, dass die Geschichte diesmal doch endlich einmal gut ausgehen möge. Es ist in ihnen etwas offen geblieben, in der Gestalttherapie spricht man von der offenen Gestalt, die geschlossen werden muss. Bei Trennungshemmung trotz unzumutbarem Beziehungsgeschehen sind oft kindliche Leereerfahrungen wirkmächtig: da auch die mit Trennungen einhergehende befürchtete Leere  unaushaltbar erscheint, wirkt Trennen letztlich schlimmer als Bleiben, ebenso wie die Hoffnung, dass es doch noch gut ausgeht und die offene Gestalt sich schließen kann, ebenso. Oftmals kehren diese Betroffenen auch nach ersten Trennungsschritten wieder um, da die sich ihnen auftuende Leere als unüberwindbarer Abgrund erscheint: Allein-Sein löst  beängstigende Leeregefühle aus, fällt auf traumatisch besetzten Boden. Betroffene haben noch keinen Weg gefunden, wie ihr Leben, abseits einer Beziehungsfixierung, erfüllt sein könnte: eine Wüste der Leere muss durchschritten werden, mit vielen Tälern von Einsamkeits- und Sinnlosigkeitsgefühlen, die neben anderen massiven Gefühlen unter der Leere verborgen sind. Kann dieses Leere – Erleben verwandelt werden, ist manchmal auch eine Partnerschaft wieder möglich – und erfüllt. Damit dies möglich wird, müssen beide Partner aktiv werden.

Kreativ-Coaching: Wege aus der Leere

Selten ist es Betroffenen bewusst, unter „Leere“ zu leiden…Betroffene beschreiben mehrheitlich Diffuses und nicht Greifbares, Leere tritt erst allmählich zutage. Wenn Sie sich mit Ihren Leeregefühlen stärker auseinandersetzen möchten, können das kreative Tun im Kreativ-Coaching der Woche ein erster Anstoß für Ihren Prozess sein. Wenn Ihr Partner dazu bereit ist, kann es bereichernd sein, zusammen zu gestalten und anschließend darüber zu sprechen. Auf kreativem Weg können Sie auf ungewöhnliche Weise etwas über sich erfahren, indem Sie vertraute Wege verlassen und neue Gehen…die Veränderung passiert unmerklich, spielerisch, je mehr Sie sich einfach von Ihrer Aufgabe mitreißen lassen.

Für die heutige Übung brauchen Sie mindestens 30 Minuten Zeit, ein großes Blatt und ein paar alte Zeitschriften, die Sie nicht mehr benötigen, mit Bildern, die sie ausschneiden können sowie ein paar Stifte.

Beginnen Sie nun mit dem Gestalten einer Collage: Knicken Sie zunächst ein größeres Blatt in drei gleich große Teile, sodass drei senkrechte Spalten entstehen. Gestalten Sie auf die linke Seite ein Bild, das die Überschrift „Leere“ trägt…

….auf die äußerst rechte Seite nun ein Bild, das für Sie das Gegenteil darstellt.

Betrachten Sie beides und gestalten nun in die Mitte Verbindungen zwischen beiden Seiten. Finden Sie auch für diese beiden Seiten eine Überschrift.

Wenn Sie gern weiterarbeiten möchten, gehen Sie nun noch einen Schritt weiter: stellen Sie sich vor, dass Ihre Collage Schauplatz eines Märchens ist. Lassen Sie diese Geschichte auf der linken Seite beginnen. Starten Sie mit dem Satz „Das hatte sie nicht erwartet“… Was ist davor passiert? Schreiben Sie einfach los und lassen Sie die Geschichte sich weiterentwickeln bis sie gedanklich auf der rechten Seite Ihrer Collage angekommen sind.

Welche hilfreichen Aspekte können  Sie aus Ihrer Collage gewinnen,  und  welche aus Ihrer Geschichte?

Sprechen Sie mit Ihrem Partner, wenn möglich…

Wenn Ihnen die kreative Arbeit Freude macht, liefert das Buch von Nick Bantock weitere Anregungen. Wenn Sie sich näher mit abhängigen Beziehungen beschäftigen möchten, ist sicher  Ich will mein Leben zurück von Jens Flassbeck interessant.

Du bist ein Künstler - Nick BantockBuchdeckel „978-3-608-86045-0

Gute Ostertage und Raum für Neues wünscht

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser