Angst ist in diesen Krisentagen weit verbreitet. Sehen wir Angst zunächst als ein Gefühl, das primär unserem Schutz dient. Ausprägung und Stärke der Angst, der Umgang mit der CoronaKrise und ihren Folgen, ist individuell. Bei jedem Menschen fallen Krisen und die damit auftretenden Ängste auf einen biografischen Boden: jede/r hat Unterschiedliches erlebt und auf unterschiedliche Weise bewältigt. Was wir in unserem Leben erfahren haben und unser Umgang damit, bestimmt, wie wir auf neue Situationen zugehen. Unser Umgang mit der aktuellen Corona-Krise ist bestimmt durch vorhergehende Krisenerfahrungen. Menschen mit frühen und dauerhaften belastenden Erfahrungen in ihren Familien sind somit geprägt: sie entwickeln teils große Ängste, wenn Situationen unkontrollierbar erscheinen und sie auf deren Verlauf offensichtlich keinen Einfluss haben. Zugleich haben belastete Kinder auch besondere Stärken und Copings entwickelt, die sie im Jetzt unterstützen können- die Zugänge zu diesen Krisenhelfern sind ihnen teils abhanden gekommen, in Vergessenheit geraten oder unter ängstlicher Erstarrung verschütt gegangen.
Was Krisen, Stress, Gefühle und das Gehirn miteinander zu tun haben
Die schlechte Nachricht, die Ihnen als Betroffene sicher bereits bekannt ist, vorab: Kinder, die dauerhaft Krisen ihrer belasteten Familien ausgesetzt sind, können massive Folgen davontragen; diese Folgen sind teils messbar an ihrem Serum-Cortisolspiegel und in Hirnstrukturen, können sie doch neuronale Strukturen des Hippocampus, der Amygdala sowie des Corpus Callosum zerstören. Verursacht werden zum Teil organisch begründbare Regulationsstörungen, später auch komplexe Störungen von Lernen, Emotionen und Verhalten (Trost 2003). Auch wenn dieser Zusammenhang von neuronaler Schädigung für betroffene Kinder in quantitativen Untersuchungen noch nicht hinreichend untersucht ist, muss vermutet werden, dass Gehirne von Kindern aus belasteten Familien durch das emotionale Klima ihrer Familien stark geprägt sind. Es steht zu befürchten, dass lang andauernde wiederholte Belastungen der familiären Umwelt neuronal entsprechend verankert werden und diese‚ emotionalen Straßen’ auch dann aufgesucht werden, wenn es nicht mehr von Nöten ist. Dies zeigte sich bei denjenigen erwachsenen Personen, die bis ins hohe Alter keine Auflösung des familiären Tabus erfahren hatten, bei denen sich etwa Suchtbelastung durch etliche Jahrzehnte zog und auch im Erwachsenenalter lebensbestimmend blieb. Es scheint in diesem Fall schwer zu sein, eingefahrene Hirnstraßen zu verlassen (etwa die der Angst und Ohnmacht) und neue Straßen (Freude,Hoffnung etc.) zu befahren. Damit kann ein wesentlicher Faktor zur Orientierung in der Welt durch das familiäre Erleben maßgeblich negativ beeinflusst werden.
Vererbt durch die Generationen?
Sogar genetisch scheinen diese Erfahrungen Spuren zu hinterlassen (In jüngerer Zeit wurde an Mäusen nachgewiesen, dass die Gene bei Nachkommen traumatisierter Mütter in Mitleidenschaft gezogen waren; sie zeigten sich als weniger Stressresistent und verzweifelter in eigenen Krisensituationen). „Muss ich das auch noch wissen?“, denken Sie nun vielleicht,“ das ist doch nur traurig. Ich finde, ja, sie sollten das wissen, um sich selbst ein Stück besser zu verstehen und sich in Ihrem „So-Sein“ annehmen und nicht noch zusätzlich abwerten, als „Weichei, Mimose, Versager“. Erst, wenn wir verstehen, warum wir wurden, wie wir sind, können wir besser neue Krisen bewältigen, einen Zugang zu unserer wahren Identität bekommen: im anderen Falle, wenn wir Altes unerkannt abspalten, drohen wir uns selbst fremd zu bleiben und in alten, ungünstigen Krisencopings ( zum Beispiel dem Erstarren) feststecken zu bleiben. Angst ist ein Signalgeber, im besten Fall Wachrüttler.
Hirne sind nutzungsabhängig: warum Kinder mit familiärer Belastung leicht ängstlich werden
Schauen wir weiter aus neurowissenschaftlicher Perspektive. Versuchte Erklärungen müssen im Angesicht der hochkomplizierten Vorgänge in unseren Hirnen unverschämte Vereinfachungen bleiben…versuchen wir dennoch eine Annäherung: Außenwelt hinterlässt Spuren in der Innenwelt. Neurologisch spricht man hierbei von inneren Repräsentationen der Außenwelt. Auch die Repräsentationen unserer Gefühlswelt (neurowissenschaftlichen Untersuchungen u.a. von Braun, Spitzer) spiegeln erlebte Erfahrungen. Unsere Gefühlswelt ist erlernt, vor allem in sozialer Erfahrung. Befinden, Stimmungen und Gefühle sind bei Kindern aus belasteten Familien stark in Mitleidenschaft gezogen. Kinder lernen etwa: „Wenn Papa trinkt, gibt es Ärger für mich!“ Wird diese Erfahrung wiederholt gemacht, wird diese Erfahrung auch neuronal verschaltet: sie bildet eine Hirnspur. Je öfter diese Erfahrung gemacht werden, umso tiefer gräbt sich diese Spur im Hirn ein, sprich: Kinder entwickeln Ängste ( eine Hirnautobahn „Angst“) und weitere mit diesem Erleben verbundene Gefühle werden nutzungsabhängig verschaltet. Aus dem Kind, das in einer Szene Angst hat, wird bei dauerhafter Wiederholung, leicht ein überängstliches Kind: insbesondere dann, wenn, wie oft in tabuisierenden Familien, das Gefühl des Kindes nicht benannt und besprochen werden darf, das Kind folglich keine angemessene Unterstützung in Form von Trost oder Halt erfährt.
Kindheit prägt unser Erleben als Erwachsene
Das Befinden Betroffener wird durch dieses kindliche Krisenerleben geprägt, das Gehirn entsprechend gebaut – auch als Erwachsene, wenn das Elternhaus längst verlassen wurde, sind diese grundlegenden Verschaltungen angelegt. Es ist also nachvollziehbar, dass ein in der Kindheit entsprechend „verschalteter“ Erwachsener, der die Spur Angst zu einer regelrechten Autobahn im Kopf entwickelt hat (Formulierung in Anlehnung an Hüther), auch als Erwachsener schnell auf eben dieser Autobahn landet. Denkweisen, Selbstbild, Körpererfahrung usw. sind neuronal verschaltet: sie bilden ein Erlebens- Panorama im Jetzt, das im familiären System erlernt wurde.
Denken wir die vorangestellten Forschungen für Erwachsene aus belasteten Familien weiter, so wird deutlich:
- es besteht ein Zusammenhang zwischen emotionalen Belastungen in Kindheitstagen und emotionaler Befindlichkeit im Erwachsenenalter
- es besteht ein Zusammenhang von wiederholten stressenden Kindheitserfahrungen und chronischen/schweren Erkrankungen im Erwachsenenalter.
Eine große Belastung der Lebensqualität von Menschen mit belasteter Kindheit erscheint evident. Somit stellt die aktuelle Corona-Krise neben medizinisch-alltäglichen Überlegungen insbesondere Menschen mit Kindheitsbelastungen vor große psychische Herausforderungen – .
„Help…I need somebody“
Fasst man die vorab geschilderten Forschungsergebnisse zusammen, so sind die Belastungen und Folgen bei Kindheitsbelastungen hoch einzustufen. Und dennoch eine gute Nachricht aus der Forschung: es gibt Stärkendes! Widerstandskräfte, die uns schützen, sogenannte Resilienzen. Resilienzen sind also das, was uns stark macht. Resilienzen sorgen dafür, dass viele Menschen mit Kindheitsbelastungen eben auch nicht erkranken. Eine bedeutsame stabile Beziehung im Umfeld eines aufwachsenden Kindes ist eine solch hochwirksame Resilienz. Sind Erkrankungen vorhanden, zeigten sich etwa Meditation und soziale Anbindung als hochwirksam. Vernetzen und andere Menschen mit ins Boot Holen zeigt in allen Lebensphasen Wirkung. Nervensystem und Immunsystem können einander verständigen, dies können wir für uns nutzen. Decartes Dualismus hat lange Medizin bestimmt. Aber neuere Forschungen überprüfen, wie Gehirn und Immunsystem zusammenhängen und es wird deutlich: sie sind in ständigem Austausch. Ein gestresstes Gehirn beeinflusst das Immunsystem, somit gilt auch die Umkehrung: ein entspanntes Gehirn entlastet den Körper. Körper und Geist sind eine Einheit, was ganzheitliche, integrative, leiborientierte, kreative und komplementär-Medizin für Betroffene auf den Plan ruft. Basis bildet weiterhin die Schulmedizin. Gute Erfolge ließen sich auch durch kognitive Umstrukturierung erzielen, also problematische, dysfunktionale Gedanken, etwa durch einen anderen Gedanken zu ersetzen ( wie es in einigen Religionen und Philosophien auch seit Jahrtausenden gelehrt wird)… Selbstheilung können Sie aktiv unterstützen. Sogar ein EEG kann signifikant verändert werden. Sie können durch Ihre Lebens-und Denkweise Einfluss nehmen.
Ein wichtiger Faktor: eine soziale Umgebung, ein Feld der Hoffnung (gerade dürfen wir auf einen Impfstoff hoffen) und Zuwendung (teils Liebe genannt), im Idealfall im eigenen Zuhause. Der Satz: „Ich kann gesund werden!“, oder: „Ich kann meine Kindheitswunden überwinden!“ gehört zur hochwirksamen Einstellung, die Veränderung und damit Wege aus der erstarrten Angst möglich werden läßt. Hilfe für Betroffene muss individuell erfolgen, spezifisch zugeschnitten sein: sie benötigt mindestens einen wohlwollenden Anderen. Immer sollte sie Anregung zur Selbsttätigkeit beinhalten (hierzu auch das AWOKADO-Selbsthilfe-Programm in Vater, Mutter, Sucht 2015 und Meine schwierige Mutter 2017).
Das hilft
Glauben wir den Erkenntnissen der Psychoneuroimmunologie, so helfen Krisenkindern bei der schwierigen Bewältigung vor allem: Optimismus, stabile Sozialkontakte, ein Alltag mit guten Erfahrungen sowie körperliche Nähe.
Der in der Kapitelüberschrift verwendete Oldie der Beatles bringt auf den Punkt, was wir Kindheitsbelastungen, Stimmungs-und Befindlichkeitstörungen entgegensetzen können: Hilfe suchen und annehmen, die Verbindung und Zuwendung von anderen, nahestehenden Menschen…die entstehende Überlastung im Beruf würdigen und zunehmend mehr Menschen müssen sich eingestehen, dass längst nicht mehr alles schaffbar ist, bestimmt nicht alles wir früher, perfekt laufen kann- nur, so gut es eben geht. Vielleicht schreiben Sie anderen hier, indem Sie die Kommentarfunktion nutzen, wie Sie es gerade schaffen trotz Corona-Krise, vielleicht trotz Ihrer Angst – ich freue mich, von Ihnen zu lesen.
Bleiben Sie gesund und behalten Sie bei aller nötigen Hygiene vor allem auch Ihre Seele im Blick,
bis ganz bald
Ihre
Waltraut Barnowski-Geiser