Suchtkind-Bungeejump- Der Besuch Daheim

Blog Besuch bei den Eltern

 

Wochenlang schon ist ihr übel. Sie schläft schlecht, wälzt sich im Bett herum, ihr Herz rast. Frau N., 42 Jahre alt, kompetent, gestandene Marketingfrau, versteht sich selbst nicht: das alles, weil in zwei Wochen ein Besuch bei den Eltern ansteht? Das darf doch nicht wahr sein, findet sie.

Und doch ist das, was Frau N. beschreibt, traurige Realität für viele erwachsene Kinder aus sucht-und ähnlich belasteten Familien. Die Begegnung mit den Eltern im Heute, oftmals sogar in der Wohnstätte der Kindheit, wirkt wie ein Trigger: alte Wunden werden wach, Leib und Seele erzählen über den Körper Gespeichertes aus alten Zeiten. Leib und Seele vergessen nicht, erinnern noch heute an das, was im Gestern schon nicht gut tat. Damals nicht, heute  nicht. Frau N.s Ängste und Körperreaktionen sind also mehr als nachvollziehbar. Frau N. versteht nicht, wieso, wenn sie bei den Eltern eintrifft, alles, was sie an Selbstschutz und neuen Bewältigungsmustern in ihren Therapien, Ratgebern und Gesprächen erlernt hat, wie vom Winde verweht scheint. So als gäbe es sie, ihren Willen und ihre Wünsche nicht mehr, sobald sie über die elterliche Schwelle schreitet. Es gibt nicht einmal Streit, erzählt Frau N. , aber ich bin nach diesen Stunden völlig fertig, manchmal tagelang nicht arbeitsfähig.

Sich das Dilemma eingestehen – der 1. Schritt

Frau N. hat wie viele erwachsene Kinder suchtkranker Eltern in Kindheitstagen Schweres erlebt: Bestrafungen, wenn sie gar nichts gemacht hatte, Beschämungen während der Trinkexzesse der Mutter, alleingelassen und ungehört bei eigenen Problemen etc.- all dies hat es im Denken der Eltern, die die Sucht und ihr eigenes Handeln chronisch verleugnen, nicht gegeben. Das alte Tabu , die alte Unberechenbarkeit wirkt weiter, legt sich in die Atmosphäre und über die inzwischen erwachsenen Kinder- nebelgleich sinkt es in sie hinein, ohne, dass sie dafür Worte oder Lösungen hätten. Unbegreiflich, unbeschreiblich, der Selbstverlust setzt ein, wie ein Zwang scheinen sie nun die alten Familienregeln wie Marionetten mitspielen zu müssen – und wieder fühlen sich die derart betroffenen Suchtkinder schuldig, stellen sich selbst in Frage: irgendetwas stimmt mit ihnen selbst nicht, man „muss doch seine Eltern mögen“…

Wer schwer Belastendes in seinem Elternhaus erlebt, und das auch noch ein Leben lang, für den gleicht ein Besuch Daheim einem Bungeejump. Betroffene müssen sich verabschieden von Klischees der „Normalkinder“, für die der Besuch daheim vielleicht „Schön“ oder „Nett“ ist. Der erste Schritt, dem Elternhaus-Dilemma zu begegnen, ist seine Existenz einzugestehen, anzunehmen und zu würdigen. „Ja, so ist es Zuhaus, und leider nicht anders.“, kann Frau N. nun sagen und sich die Belastung durch Besuche erstmalig eingestehen. Die erlittenen Wunden brachten im Vorlauf, in der Bewegung auf das Elternhaus zu, schon alte Symptome an die Oberfläche. Frau N. hilft es, die Länge des Besuchs deutlich zu begrenzen und sich währenddessen immer wieder ihres Atems und ihrer selbst zu vergewissern – so kann sie, so beschreibt sie, den Selbstverlust ein wenig eindämmen. Eine offene Konfrontation der Eltern mit ihrem Erleben wagt Frau N. nicht. Noch nicht, sagt sie nun! Ihre Ängste vor der Cholerik des Vaters und dem unkontrollierten Nochmehrtrinken der Mutter, gefolgt von Beschimpfungen und Aggression, machen ihr regelrecht Panik…

Das hilft: Auch wenn es sich so anfühlt- es ist nicht wie früher!

Was hilft? Betroffene müssen bewusst werden, dass sie Schweres stemmen, aber nicht mehr so klein und hilflos sind wie in der Kindheit- auch wenn es sich in der Begegnung mit den Eltern paradoxerweise exakt so anfühlt. Oftmals sind die Eltern nicht mehr „mächtig“, sondern schon alt und schwach-werden aber übermächtig wie früher, zu Kindheitszeiten erlebt- die Betroffenen fühlen sich auch als Erwachsene den eigenen Eltern gegenüber ohnmächtig. Um diese Ohnmacht zu überwinden, ist meist Unterstützung durch andere erforderlich – und das Üben der Überzeugung, dass das eigene Leben heute als Erwachsene selbst gestaltet und bestimmt werden kann- und muss…

Bleiben Sie dran! Herzliche Grüße

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

 

Dr. Waltraut Barnowski-Geiser ist Autorin mehrerer Fachratgeber zur Thematik, Lehrtherapeutin und Musiktherapeutin in eigener Praxis in Erkelenz. Forschungsschwerpunkt: Familiäre Suchtbelastung.

Wider den Weihnachtswahn: Notfallgedanken für Festtage mit schwierigen Angehörigen

Gerade, wenn der Frieden in der Welt bedroht scheint, wird die Sehnsucht nach einem friedvollen Ort unendlich groß: ihre Familie, so wünschen die meisten Menschen, sollte ein solcher Ort sein. Ein Ort, an dem sie geliebt werden, so wie sie sind, ein Ort, an dem sie sich wohlfühlen können, wo Resonanzen aufrichtig schwingen, ein Ort, an dem Frieden wohnt. Waren und sind jedoch die Beziehungen zu den Eltern schwierig und stark 20160117_132431belastet, sogar mit Leiden angefüllt, dann wird der Besuch dieses Ortes oft als Gegenteil  erlebt: als Kriegsschauplatz etwa oder als ungeselliger rauer Ort,  an dem, so beschreiben es Betroffene, man keine Luft bekomme, die Atmosphäre  wie zum Zerreißen gespannt sei etc. Gerade Festtage, wie das bevorstehende Weihnachtsfest, die gemeinhin für Gemeinsamkeit in Harmonie stehen, können dann zu einer großen Belastung werden. Insbesondere, wenn bereits schwere Wunden entstanden sind, werden die anstehenden Begegnungen nicht als Freude, sondern als schwere Lasten empfunden. Betroffene fühlen sich gefangen in einem Hamsterrad der offenen Rechnungen Mehr lesen

Was Betroffene  bei Feiertagsbegegnungen mit ihrer belasteten Herkunftsfamilie in Therapien als hilfreich beschreiben, habe ich für Sie in 5 Punkten zusammengefasst: (diese Hilfen sind allerdings nur dann erfolgreich, wenn die Situation nicht völlig verfahren ist)

1 Klar sehen und Akzeptieren

Schon zum 1. Schritt gehört viel Mut: Akzeptieren Sie und sehen Sie klar, dass Ihre Herkunfts-Familie genau so ist wie sie ist. Ihre Einflussmöglichkeiten sind begrenzt. Reden Sie sich die Situation nicht besser oder schöner als Sie ist (und dramatisieren auch nicht unnötig, indem Sie in die Hilflosigkeit Ihrer Kindheit zurückfallen), um dann wieder und wieder Ungutes zu erleben, etwa wieder von einem Elternteil „angefallen“ zu werden: eigentlich wissen Sie, worauf Sie sich einlassen und können heute vorbauen. Einen besseren Experten für Ihre Familie gibt es nicht: nutzen Sie Ihre Expertise, werten Sie Ihre Erfahrungen aktiv aus! Durchblick kann Sie schützen.

2 Dosieren

Fragen Sie sich vorher: Wieviel Zeit kann ich in meiner Herkunftsfamilie zubringen, ohne  im Anschluss „völlig auf dem Zahnfleisch zu gehen“?…Dann ist es gut möglich, dass Sie bei ehrlicher Antwort nur zwei Stunden statt zwei Tage verkraften. Sorgen Sie für eine angemessene Dosierung oder mindestens für Auszeiten, in denen Sie „raus“ sind, etwa allein spazieren gehen,o.ä.

Auch vielleicht schon lange anstehende Großkampf-Auseinandersetzungen sind selten ein passendes Feiertagsprogramm…

3 Verbinden

Verbündete suchen, mit denen sie sich austauschen können, vorher und nachher oder auch am Telefon während des Besuches. Schauen Sie, mit wem Sie angenehmen Kontakt erleben, vielleicht mit den Kindern Ihrer Geschwister…Sie können heute bestimmen, wem Sie sich verstärkt zuwenden möchten. Wählen Sie nach Möglichkeit Menschen aus, die im Rahmen des Möglichen gut tun. Sind Sie allein mit einem schwierigen Elternteil, so kann es sinnvoll sein, Telefonverbündete vorher zu informieren und Kontakt im Dazwischen sicherzustellen…

4 Distanzieren

Aktivieren Sie Ihren inneren Beobachter, so wie Sie es in Meditationen und Kontemplationen auf diesen Seiten schon geübt haben.Eine wichtige Brücke dabei ist die Konzentration auf den eigenen Atem. Wenn Sie merken, dass  Sie sich unwohl fühlen, gehen Sie mit Ihrer Achtsamkeit zu sich selbst und verankern sich in Ihrem Atem. Kreative Menschen nutzen solche Situationen teils, um sie später als Geschichten zu schildern…manche Satire konnte so entstehen…auch Humor und ein humorvoller Blick kann eine  Distanzierungshilfe sein.

5 Umgestalten

Aktiv neu gestalten: Neue Feierformen ( etwa mit Freunden und Familie gemeinsam feiern oder an einem anderen Ort, an ungewöhnlicher Location), die ihnen mehr entsprechen.. Dies zeigte sich als ebenso hilfreich wie das Verändern von alten unguten Verhaltensweisen. Wenn Sie sich in ihrer alten Rolle und einem Familien-Muster gefangen fühlen ( „Du hast doch immer gute Laune!“ und dabei immerzu „schlucken, um harmonisch sein“..) kann es ein erster Schritt sein, ein bisschen anders zu agieren, auch mal zu zeigen, wenn Ihnen etwas nicht passt. Hier kann auch helfen, ein inneres Team zu aktivieren. Kleine Dinge können verändernd wirken: legen Sie Musik auf, die sie gern mögen, unterhalten Sie sich mit einem Familienmitglied, mit dem es sonst kaum möglich scheint

Natürlich kann in bestimmten Fällen ( insbesondere wenn die Eltern kooperations-und bindungsfähig sind) Ihre Einstellung, mit der Sie an den Besuch herangehen, einen wichtigen Beitrag leisten, etwa indem Sie Erwartungen von vorneherein reduzieren und Enttäuschungen vermeiden. Herr N., 32 Jahre, erzählt:

Ich weiß jetzt, dass ich nie die emotionalen Eltern haben werde, die ich mir gewünscht habe, aber ich bin dennoch dankbar für die Versorgung und das, was sie mir als kleines Kind, bevor ihre psychischen Probleme und Ehestreitigkeiten überhand nahmen,  gegeben haben. Ich werde versuchen, mit diesen sozialen, versorgenden Eltern in Kontakt zu bleiben – seit ich meine emotionalen Erwartungen an meine Eltern aufgegeben haben, empfinde ich nach einer Phase der Trauer nun endlich inneren Frieden.“

Ein Hinweis zum Schluss für traumatisierte Erwachsene: Wurden Sie durch Ihre Familie  traumatisiert, so muss ein Besuch äußerst gut überlegt, vorbereitet und dosiert sein: körperliche Symptome und psychische Gereiztheit sind dann oftmals Belastungssymptome, die sich unter Kontakt mit den Menschen, die ihnen Schlimmes angetan haben, verständlicher Weise verstärken. Dann gilt es, Ihre Symptome zu verstehen und übersetzen, sich ihrer anzunehmen anstatt sich zu bezichtigen, „unnormal“ zu sein.

Ich wünsche Ihnen gute, sinnerfüllte und friedliche Weihnachtstage.

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

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