Der hohe Preis fuer ein Gefuehl: Zugehoerigkeit
Manche Seele wurde schon auf dem Altar des Götzen „Zugehörigkeit“ geopfert. Viel von unserer Lebendigkeit kann auf diesem Altar zurückbleiben: sich zugehörig und verbunden fühlen, sich aufgehoben und geborgen fühlen ist ein menschliches Grundbedürfnis, ja mehr noch ist es die Grundlage unserer Identität, für die gerade erwachsene Kinder von schwierigen Eltern oft einen hohen Preis bezahlen müssen. Denn: Erst durch die anderen erfahren wir, dass wir sind. „Anklang zu fühlen macht die eigene Daseinsberechtigung für uns fühlbar und konkret erlebbar.“ ( Gindl 2002, S.15). Da, wo Kinder gesehen, gehört, verstanden und gefühlt werden, dort wo sie eine positive Resonanz erfahren, dort wissen Sie um sich, dort kann sich ihre Identität gedeihlich entwickeln-. In der Kindheit brauchen wir diese selbstverständliche und nicht an Bedingungen gebundene Zugehörigkeit insbesondere.
Wenn Menschen von Beginn ihres Lebens an jedoch erleben müssen, dass sie Bindungssicherheit und Zugehörigkeit nicht selbstverständlich von den Eltern erhalten, dann kann eine tiefe Beziehungswunde entstehen…eine Wunde, die oftmals nur schwer verheilt. Betroffene kämpfen ein Leben lang um dieses existentielle Gut, in ihrer Familie dazuzugehören, ebenso später zu Gruppen, sozialen Systemen oder zu einem Einzelnen. Da oftmals ähnliche Strukturen wie die familiär bekannten gesucht werden, stoßen manche wieder und wieder auf Menschen und Institutionen, die für wenig Zuwendung viel verlangen: Leisten ohne Anerkennung, Unterwerfung, Aufgeben eigener Bedürfnisse, Geheimnisse tragen und verschweigen etc….Verschweigen von Unliebsamem und Falschaussagen, schweigendes Abnicken sind hier an der Tagesordnung und gleichsam Eintrittskarten, um in den Kreis der Dazuhörigen zu gelangen. Erneut drohen derart Betroffene, zu Erfüllungsgehilfen zu werden: von Menschen, die sie für sich (miss)brauchen.
Was hilft? In Studien beschreiben Betroffene Hilfefaktoren ( s.a. AWOKADO-Konzept/Barnowski-Geiser). Ihnen hatte geholfen: die Wunde anzuerkennen, sie zu pflegen und betrauern, neuen Anklang zu finden, das war möglich in neuen „Anderen“, in Therapeuten oder neuen Vertrauten… und auch in Musik, durch die sie ihr seelisches Erleben gespiegelt fühlten. Dann konnte die Musik erzählen, wofür es keine Worte gab.
„Vor der Therapie war ich hinter einer hohen Mauer gefangen, alles war grau. Ich bin im Kreisen um mein Gewicht gefangen, ich hungere, ich werde immer dünner – das Leben macht kaum Sinn.“ Sie holt das Monochord. „Als ich in der ersten Stunde dieses Monochord angespielt habe, war das ganz unbegreiflich. Ich spürte Schwingung, ich spürte Leben – es erschütterte mich wie es mich faszinierte. Ein einziger Ton, so wenig und so viel – die Hoffnung auf eine grüne Wiese, die Hoffnung auf Leben!“ (Barnowski-Geiser 2009)
In diesem Beispiel aus der musiktherapeutischen Praxis eröffnet ein einziger Ton eine zukünftige Dimension: die Hoffnung auf einen Wandel des eigenen Erlebens. „Mit der tönenden Verarbeitung beginnt der zukünftige Umgang mit etwas Ungelöstem.“ (Hegi 1986, S.153) Das ist Lebensqualität. Gesehen und gehört Werden, eine neue Bindungserfahrung machen Im AWOKADO-Konzept steht das zweite A für den hier beschriebenen Hilfe-Faktor Anklang.
„Es war sehr ungewöhnlich für mich, dass ich etwas sage und jemand darauf eingeht. Früher habe ich meistens etwas gesagt und niemand schien hinzuhören, niemand schien etwas von mir hören zu wollen – schon gar nicht die Wahrheit. So habe ich irgendwann geschwiegen und war ein stummes Kind. Dieses Echo hier ( in der Therapie, Anm. d. Verf.) hat mir Mut gemacht, etwas zu äußern.“ (Barnowski-Geiser 2009)
Auch in musiktherapeutischer Improvisation können neue Resonanzerfahrungen möglich werden: Sie spielen etwa einen Ton, der wiedergibt, wie Sie sich fühlen und jemand anderes antwortet mit seinem Ton; es entsteht Zusammenklang. Während Sie sich selber hören, erfahren Sie sich und den anderen und im Spiel entsteht bereits ein neuer gemeinsamer Klang, eine Urerfahrung der Identitätsentwicklung kann nachgeholt werden, neue Beziehungserfahrungen auf spielerischem Wege möglich werden. Alte Wunden erhalten eine Chance auf Heilung.
Eine gute Zeit wünscht
Ihre
Waltraut Barnowski-Geiser