Vor das Vertrauen haben die Götter das Misstrauen gesetzt-Über-Leben zwischen Fakenews und alternativen Fakten

„Du musst Vertrauen haben!“, ist oft als  dogmatische Forderung an Menschen aus belasteten Familien zu vernehmen. Diese würden ja gerne…sie kennen aus ihrer Kindheit oft so verzerrte Wahrheiten, dass sie längst nicht mehr wissen, wem und was sie glauben schenken können. Pauschales Vertrauen erscheint da wenig hilfreich, wie uns Fakenews und andere ungute mediale Entwicklungen zeigen, nicht zuletzt auch in der Politik. Auch Politiker demonstrieren augenblicklich teils, nicht nur in Amerika,  einen sehr speziellen Umgang mit Wahrheit und Wirklichkeit: die Wahrheit, das Eigentliche und Offizielle wird kurzerhand umdefiniert, uminterpretiert oder so gezeigt ( retuschiert), wie es der eigenen Vorstellung entspricht. Dieser Mechanismus ist Kindern aus belasteten Familien oft zutiefst vertraut: Ihre Eltern haben familiäre Geschichte genauso interpretiert, umgeschrieben oder umgedeutet wie es für sie selbst am ehesten „passte“ oder wie es, so glaubten diese Eltern, für alle am ehesten zu verkraften war, so, dass  das Familiengefüge zusammenblieb. Fakenews, alternative Fakten und andere Verzerrungen sind heimatlich vertrauter Kindheitsboden. Es entsteht eine spezifische Narration (Erzählung): die Erzählung anderer Familienmitglieder muss längst nicht mit ihrer eigenen übereinstimmen ( s. Meine schwierige Mutter 2017). Diese Uminterpretation wird in manchen Familien so intensiv betrieben, dass die Betroffenen kaum noch zwischen Realität und Verzerrung unterscheiden können, weder die Erzählenden noch die Hörenden. Verwirrung ist eine Folge, blind abverlangtes Vertrauen eine andere. Alice Miller beschreibt:

„Jedes Leben ist voller Illusionen, wohl weil uns die Wahrheit zu unerträglich erscheint. Und doch ist uns die Wahrheit so unentbehrlich, dass wir ihren Verlust mit schweren Erkrankungen bezahlen.“ (Miller 1997, S.11)

Der Weg in das Vertrauen gelingt nach meinen Erfahrungen nicht über blindes Vertrauen, über ungeprüftes Zustimmen zu teils verdrehter Welt, sondern er führt über das Ernstnehmen des eigenen Misstrauens, durch vorsichtiges Überprüfen: Misstrauen ist ein notwendiger Prozess, der oft in der Kindheit und in belastetenden Situationen, auch mit den eigenen Eltern, rettend war. Nur da, wo Misstrauen und Zweifeln, Hinterfragen und in Frage stellen erlaubt ist, kann wirkliches Vertrauen entstehen. In der Politik und in der Familie.

Einen guten Start in den Frühling wünscht

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Hören, was niemand sieht.Musiktherapie für Erwachsene Kinder alkoholerkrankter Eltern,Teil 1

„Als ich in der Therapie Musik gemacht habe, habe ich zum ersten Mal gespürt, dass es mich gibt.“
Sammy, 14 Jahre
Waltraut Barnowski-Geiser
Hören, was niemand sieht: Musiktherapie mit Kindern und Erwachsenen aus alkoholbelasteten Familien/Teil 1 von 5
Was passiert, wenn Kinder alltäglich von Erwachsenen umgeben sind, die krankhaft trinken und im Letzten nur noch um sich kreisen? Welche Folgen hat das für die kindliche Seele, ihren Körper und Geist, insbesondere dann, wenn über das, was zu Hause passiert, nicht gesprochen werden darf? Kann Musik das Unaussprechliche zur Sprache bringen, sodass wir endlich „Hören, was niemand sieht!“, wie es der Titel der Studie verspricht. Betroffene Kinder frühzeitig entdecken, obwohl ihre Eltern im Tabu gefangen sind und keinen Auftrag zur Therapie erteilen, sie nicht allein zu lassen in ihrer Not und ihre gesunden Potenziale zu stärken, sind gesellschaftliche und therapeutische Herausforderungen, die neue Wege der Hilfe erfordern. Und ebenso für Erwachsene, die meist noch Jahrzehnte an den lang zurückliegenden Kindheitsbelastungen tragen, exakt zugeschnittene Hilfen anzubieten: dieser abenteuerliche Pionierweg  soll mit Musik und Musiktherapie beschritten werden. Wie Musik, Tanz und Phantasie das beinahe unmöglich Erscheinende möglich macht, darum geht es in der vorliegenden Forschungsstudie. Und: obwohl Musik so besonders geeignet erscheint, ohne Worte zu helfen, ist die vorliegende Studie die erste (auch international), die diesen kreativen Weg untersucht und verfolgt. Die gute Nachricht vorab: sanfte Entlastung und Hilfe durch Musik für betroffene Kinder ist möglich! Und wie, das erzählen uns vom Alkoholismus ihrer Eltern betroffene Kinder am Ende sogar selbst mit Worten und auf Instrumenten.

Wie es in einer alkoholbelasteten Familie klingt
Wenn Kinder mit Musik über den Alltag in ihren Familien erzählen, dann klingt das oftmals sehr abenteuerlich. Ich möchte sie einladen, vor ihrem inneren Ohr diese Musik mit mir anzuhören. Manche wählen zur Beschreibung das Stück „Dialogue du vent et de la mer des französischen Komponisten Claude Debussy, das ich hier mit meinen Eindrücken und Stimmungsbildern füllen mag: grollend, fast unheimlich schon zu Beginn. Es tönen die tiefen Blechbläser und Streicher, lassen die Unberechenbarkeit des Meeres erahnen, Wellen beginnen sich zu türmen. Ungeheure Anspannung, Anschwellen, starke Crescendi und Decrescendi, drängende Erregung, kaum aushaltbar! Aufsteigende Bilder, immer neu und anders das Meer, wohin zuerst schauen? Unberechenbarkeit der Naturgewalten, klingend in Szene gesetzt, auch nach mehrfachem Hören neu und nicht in allen Facetten er-hört. Suche nach friedvollem Miteinander, Geborgenheit nun. Nach den abrupten stürmischen Szenen fast seltsam anmutende Sanftheit, sehnsüchtig wirkende Klänge der Oboe. Rührung, Elegie, Verspieltheit, Anmut, fragile Zartheit tönt.“
Wie ging es Ihnen beim Hören dieser Musik? Haben Sie sich vielleicht ausgeliefert und bedroht, unsicher gefühlt? Hatten sie den Eindruck, dass sie nicht berechnen können, was als nächstes passieren wird, während doch schon wieder Frieden einkehrt, der zu verkünden scheint: es ist gar nichts, hier war nichts. Sie fragen sich, ob sie eben wirklich richtig gehört haben, wo es doch nun so friedlich um sie herum erscheint, während die Musik neuerlich losschlägt – diese Musik, wie sie oft von Betroffenen für die Situation in ihren Familien gewählt und gespielt wird, ermöglicht Anklänge an das Unberechenbare, an das Tobende und Verschlingende, an die von Hocherregung bestimmten Krisensituationen, an die abrupten Stimmungswechseln, denen betroffene Kinder und Erwachsene aus alkoholbelasteten Familien ausgesetzt sind. Sie drohen neben den im Kampf um die Sucht gefangenen Elternpaar förmlich unterzugehen. Die Atmosphäre in diesen Familien ist extrem belastet, geht es doch vor allem um eines: den Alkohol und den Elternteil, der diesen trinkt. Schuld wird weitergegeben, willkürlich und unangemessen und alles oftmals unter einem Mantel des Geheimen. In Schulen weiß niemand so recht, was mit diesen Kindern eigentlich los ist, sie sitzen dort meist unerkannt und leiden stumm – allenfalls abweichendes Verhalten erzählt verdeckt von ihrem häuslichen Leiden.
Erinnern Sie sich an das Hören der Musik! Lassen Sie uns gemeinsam darauf achten, wie Sie sich gegen die Musik geschützt haben: haben sie sich die Ohren zugehalten? Haben sie versucht, innerlich abzuschalten, aus der Situation zu fliehen oder sich wegzuträumen? Dann haben sie all das getan, was auch Kinder in alkoholbelasteten Familien tun, um sich zu retten. Und allzu oft wird dann dieser Schutz, wenn er alltäglich nötig wird, förmlich zur zweiten Haut und Natur der Kinder. Sie spielen, dass „nichts ist“, vielleicht in leisen, friedlich wirkenden Harfenglissandi, während innerlich das Chaos tobt: das Meer stürmt und die Kinder sitzen äußerlich scheinbar unberührt da. Ein anstrengender Kampf, der Folgen hat für die Seele, für das Denken, aber auch für den Körper der Kinder. Die Folgen können massiv sein, wenn keine Hilfe im Kindesalter erfolgt.

Zum Beispiel Frau R.

Frau R., 37 Jahre alt, kommt zum ersten Mal zur ambulanten Musiktherapie. Sie hat zwei mehrjährige Gesprächstherapien hinter sich. „Diese Therapien waren in Ordnung!“, meint sie, „aber ich fühle mich nicht gut. Mir geht es einfach oft schlecht und ich habe gar keinen Grund dazu.“ Die Frage, ob sie dieses Gefühl auf einem Instrument ausdrücken möchte, verneint sie vehement. „Es fehlt noch, dass das auch noch zu hören ist!“, runzelt sie entsetzt die Stirn. Sie schaudert förmlich, „Musik ist furchtbar, da muss ich ja nur heulen!“ Sie springt in ein anderes Thema… „Ich habe oft schlimme Kopfschmerzen und panische Wellen beim Auto fahren. Manchmal denke ich, dass ich spinne, weil ja eigentlich gar nichts ist. Ja, in meiner Beziehung läuft es nicht so toll, aber…!“ Sie seufzt. „Ah, da fällt mir ein, träumen“, meint sie, „meine Träume sind ganz schrecklich. Können Träume in der Therapie auch ein Thema sein?“, fragt sie. Ich bejahe. „Ich habe ganz oft einen Traum, nach dem es mir dann immer sehr schlecht geht. So ein ganz bescheuerter. Ich sehe ein Kind, das auf einer heißen Herdplatte sitzt und dann sehe ich sein verbranntes Gesicht. Das Kind hat ein verbranntes Gesicht… Puh, danach ist mir immer furchtbar beim Aufwachen! Ich möchte endlich wissen, was das bedeutet.“ In der Identifikation mit dem Traum stellt Frau R. fest, dass sie das Geträumte tatsächlich erlebt hat. „Ich hatte tatsächlich Verbrennungen als Kind. Das hatte ich völlig vergessen. So mit drei oder vier Jahren war das, diese Szene haben mir meine älteren Geschwister erzählt!“, erinnert sie sich nun. „Meine Mutter hat gekocht und mich dabei auf der heißen Herdplatte vergessen.“ Frau R. lacht, sie wirkt ungerührt. Ich äußere meine Betroffenheit. „Meine Mutter hatte halt viel mit dem Haushalt zu tun und vergessen, dass ich dort sitze. Das kann ja mal passieren!“, meint Frau R. Ich äußere mein Entsetzen über das Vorgefallene. Frau R. findet nun viele entschuldigende Worte für ihre Mutter, und dass diese ihr ja nicht wirklich Böses gewollt habe. Dann stellt sie in Frage, ob es wirklich so gewesen sei, verwirft diesen Gedanken jedoch, da dieser Vorfall so durch ihre älteren Geschwister erzählt und bestätigt wurde. „Ach, wissen Sie, ich war so ein nerviges Kind, dass ich meine Mutter damit an ihren nervlichen Rand gebracht habe.“ Erst nach beständigem Nachfragen äußert Frau R., dass ihre Mutter Alkoholikerin war und meist nicht zurechnungsfähig durch ihre Betrunkenheit. Solange Frau R. denken kann. Immer.„Aber darüber haben wir nie gesprochen, meine Mutter hatte einen angesehen Beruf, also, das hätte niemand erfahren dürfen. Nur mein Vater wusste das, klar, aber der ist dann gegangen, als ich elf war. Ich glaube aber nicht wegen meiner Mutter. Dem war ich zu viel, wir Kinder überhaupt.“ Ihre Mutter sei inzwischen gestorben, Frau R. hat nun ein schlechtes Gewissen, ihre Mutter so negativ dargestellt zu haben. Thema in den vorherigen Therapien sei das nicht gewesen, weil Frau R. daran gar nicht mehr gedacht habe…( Barnowski-Geiser 2009)
So wie Frau R. erleben sich viele Kinder und erwachsene Kinder trinkender Eltern: sie erleiden oftmals Schlimmes, sie wissen aber nicht um sich und ihr Leiden, ihre Symptome und Krankheiten setzen sie nicht in Zusammenhang mit dem häuslich Erlebten, sie finden Entschuldigungen für ihre Eltern, auch wenn diese ihnen großes Leid zugefügt haben und geben sich sogar selbst die Schuld daran, wenn sie sich schlecht fühlen. Sie wissen nicht mehr, was sie wirklich fühlen und was sie fühlen sollten, sie verlieren oftmals ein Gespür dafür, was sie wirklich wollen, wer sie wirklich sind. Oftmals sind ihnen ihre Probleme im Zusammenhang mit dem elterlichen Trinkverhalten wenig bewusst. Ihre Probleme und Leiden gibt es nicht wie es auch die elterliche Sucht nicht gibt. Ein paar Zahlen: in Deutschland leben 1,6 Millionen Alkoholabhängige, mehr als 10 Millionen Erwachsene gelten als riskant Konsumierende, 2-3 Millionen Kinder leben diesen Zahlen zufolge mit alkoholerkrankten Eltern. Nur 14,5% aller Alkoholabhängigen jedoch nimmt überhaupt je therapeutische Hilfe in Anspruch, wenn wir aktuelle Erhebungen (etwa im Suchtbericht) ernst nehmen. Nur eine verschwindend geringe Zahl betroffener Kinder erfährt infolge dessen tatsächlich eine ihnen wirklich angemessene Behandlung. Es ist von einer wenig erforschten und stark gefährdeten Hochrisikogruppe für Eigenerkrankung auszugehen sowie von einer weitaus größeren Zahl mit betroffener Angehöriger.Immer mehr Kinder werden selbst frühzeitig zu Komatrinkern. Da die Kinder über ihre Leiden nicht sprechen dürfen, gilt es neue Wege zu finden, Betroffenen zu helfen. Hier bietet sich das Medium Musik als Sprache an, die Ausdruck über das gesprochene Wort hinaus ermöglicht. Ein neuerliches Erstaunen: national und international gibt es bislang keine Forschung zu Musiktherapie bei Kindern aus alkoholbelasteten Familien. Wie Musik und kreative Medien eine Hilfe sein können, zeigt sich im AWOKADO-Konzept. Zu den Ergebnissen der Studie und mehr in Teil 2-5 in Kürze.