„Sie brauchen Struktur!“- von Ratschlägen, Tipps, Sinn und Unsinn in Corona-Zeiten

„Sie brauchen Struktur!“ schreibt es gerade von überall. „7 Tipps gegen die Corona-Angst!“ twittert, instagramed und facebooked es. So viele Tipps und Ratschläge zum Umgang mit der Corona-Krise erreichen uns gerade. Ich finde es wunderbar, dass viele Menschen sich Gedanken um andere machen, helfen wollen und Hilfe auch konkret und selbstlos anbieten. Tipps und Ratschläge können nach meinen Erfahrungen durchaus als kurzfristige Krisenhelfer wirken. Langfristig werden wir jedoch  unseren persönlichen Umgang, unsere individuelle Bewältigung der Krise finden müssen- und dies gelingt, so zeigen eindrucksvolle Arbeiten, etwa vom Begründer der Logotherapie Victor Frankl, nur über  etwas sehr zentrales in unser aller Leben: Sinn! 20170713_204157!

Krise als Wendepunkt

Wenn wir neben allen bemühten Verhaltenstipps und Strukturplänen, unter der scheinbaren „Machbarkeit“ nicht unsere persönliche Sinnfindung betreiben, droht dies alles zur bloßen Makkulatur zu degenerieren- Chance vertan!  Sinn finden, sich auf den eigenen Grund zu bewegen, das braucht vor allem Zeit, Muße und Vertrauen auf den Wandel. Der Weg hin zu uns selbst muss ebenso individuell gefunden werden: für manche in der Meditation, im Gehen, in der Gedankenstoppleere, im Entdecken der Natur, neuen Begeisterungen, oft schlichtweg im „einfach Sein“. Und das ist alles andere als „einfach“. Krisen bezeichnen dem Wortsinn nach Wendepunkte- also greift die Frage: Wann wird es endlich wieder so wie früher? m.E. zu kurz. Wie wird es anders besser? , frage ich mich.Krisenbewältigung erfordert ein Einlassen auf das Hier und Jetzt, die Akzeptanz, dass es genaus so gerade ist, und nicht anders. In dieser Fähigkeit mussten sich Kindheitsbelastete oft früh erproben – manche wurden wahre Meister des „Dennoch“ – Meister darin, in schwierigsten Familiensituationen Dennoch Sinn zu ergründen, zu finden, zu stiften –  sie vergessen nur allzuoft ihre Meisterschaft, fühlen sich stattdessen, verständlich oft durch das wiederholt im Außen Erlebte, klein und hilflos…

Wir wissen nicht, wielange diese Krise dauern wird: Ist es wirklich erst einige Wochen her, als ich mein Leben noch nach vorne plante, mit einigen Unwägbarkeiten, aber auch viel verlässlich Erscheinendem im Gepäck?  Werden wir irgendwann auch, wie unsere Eltern früher unsere Erzaehlungen beginnen mit, „Damals vor Corona“, wie wir es als „Damals vor/nach dem Krieg“ aus  Schilderungen der Älteren vertraut kennen?

Ich wünsche Ihnen, dass Sie im Vertrauen auf den Wandel– so schwer das gerade auch erscheint- in dieser Jetzt-Corona-Zeit  Neues, Sinnstiftendes entdecken – Ihre Meisterschaft ausbauen!

Einen guten Sonntag, bleiben Sie gesund, das wünscht von Herzen

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser 

„Du musst vergeben!“- Fragwürdiges rund um elterliche Schuld und Vergebung

In einigen Szenen ist es en vogue: als Lösung zu jedwedem Problem, vor allem auch zu Kindheitsproblemen, wird das Verzeihen angepriesen. So lautet es vollmundig „Du musst verzeihen!“ oder „Vergib und Deine Heilung erfolgt!“, „Verneigen Sie sich vor den Tätern!“ etc.  Gerade Menschen mit schwierigen Kindheitserfahrungen scheinen dabei gefährdet, in den Dunstkreis von Szenen zu geraten, in denen scheinbar einfache Heilsversprechen propagiert werden. In der Praxis zeigt sich jedoch: Heilung und Hilfe bei negativen Kindheitserfahrungen ist in der Regel nicht durch einen einzigen Akt machbar, noch weniger  „einfach“ und schnell“, noch weniger ohne jede Aufarbeitung und Differenzierung – im Gegenteil birgt dies die Gefahr, neuerlich zu verletzen, zu traumatisieren, zu übergehen und gerade diejenigen zu schmälern, denen ohgnehin ( oft über Jahrzehnte) etwas angetan wurde… Wie beispielsweise soll etwas verziehen werden, das es laut der familiären Erzählung gar nicht gegeben haben soll, was also unter den Mantel des Tabus getarnt wurde oder wird. Ein großes Thema…

Einen  differenzierten Weg der eigenen Bewältigung zeigt Svenja Plasspöhler in ihrem Buch Verzeihen. Vom Umgang mit Schuld Auf wunderbare Weise gelingt ihr ein eindrücklicher Brückenschlag zwischen selbst Erlebtem in der Kindheit (die Mutter verlässt die Familie wegen eines neuen Partners, als die Autorin 14 Jahre alt ist) und kollektiv erfahrener Schuld. Auf ihrer Spurensuche geleitet uns die Autorin durch vielschichtige Schuldlandschaften: zwischen Erkundungen im Nachhall eines Amoklaufs etwa und anderen monströsen Abgründen reflektiert sie die Schuldfrage immer wieder neu anhand ihres eigenen Leides, das sie mit ihrer Mutter durchlebte. So konnte ein Kaleidoskop des Verzeihens entstehen, das sich zwischen verstehen, lieben, vergessen (müssen) bewegt, mehrperspektivisch aufbereitet zwischen Philosophie, Ethik und biografischer Familiengeschichte. Ein Buch, das ich Kindheitsbelasteten, die sich mit Schuldfragen und Vergeben ( müssen) plagen, sehr ans Herz lege.

Eine gute Woche, mit Sonnenmomenten im Regen, Wärmendem in der Kälte wünscht

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser