Neue Rezension „Vererbtes Schicksal“

Die Wunden und Traumata unserer Vorfahren spielen in unser Leben? Ja, das ist inzwischen durch Forschung hinlänglich bekannt. Wie wir uns von den Wunden unserer Vorfahren im Heute selbst befreien können, damit beschäftigt sich im besonderen Psychotherapeutin Sabine Lück in ihrem Fachbuch, mit vielen Anleitungen zur Selbsthilfe. Für die Stiftung Zu-Wendung für KInder habe ich das Buch rezensiert. Lesen Sie hier

Einen guten Sommer wünscht Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

„Ich möchte dazugehören“- die Sehnsucht der Kindheitsbelasteten

Menschen aus belasteten Familien fühlen sich oftmals einsam und nicht zughörig. Zugehörigkeit zu finden wird dann eine bestimmende Lebensaufgabe. Oftmals haben diese Gefühle ihre Wurzeln in Kindheitstagen. Familien, die im Tabu gefangen sind, entwickeln eine eigene Dynamik. Die familiäre Wahrnehmung wird so ausgerichtet, dass das Tabu und die Täuschung in jedem Fall  aufrecht erhalten werden kann. Daran arbeiten alle Familienmitglieder mit, dieser Prozess läuft meist unbewusst ab. Besonders tragisch gestaltet er sich für all diejenigen, die sich in ihrer Familie um das Aussprechen der Wahrheit bemühen. Da sich das tabuisierende System bedroht fühlt, geraten diejenigen Familienmitglieder, die um Wahrhaftigkeit ringen, an den Rand des Systems: sie gelten als Sündenböcke, als Verräter, paradoxer Weise sogar als „nicht richtig“, „nicht glaubwürdig“. Wenn dieser Prozess über wichtige Jahre in der Kindheit anhält, wird die familiäre Fremdzuschreibung den betroffenen Familienmitgliedern zur eigenen Sicht, sozusagen zur zweiten Haut. MIt dieser Selbstzuschreibung gehen sie künftig in andere Systeme Gruppen, in Klassengemeinschaften, in eigene Familienbeziehungen usw.: ein zu schwerer kindlicher Rucksack, der kaum alleine zu tragen ist!

An diesem Punkt brauchen derart belastete Menschen andere Menschen: Menschen, die wohlwollend mit ihnen auf ihre Wahrnehmung schauen, die stärkend in ihrem Rücken sind, die aufmerksam zu-und  hinhören. Manchmal ist es dann auch an der Zeit, therapeutische Hilfe zu suchen.

Ich wünsche Ihnen eine gute Sommerzeit mit lieben Menschen an Ihrer Seite und vielen schönen Momenten,

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Trauma, Krankheit, Scham: ein ungutes Trio

Erwachsene aus belasteten Familien kennen es nur zu gut: die Vergangenheit wirkt bis ins Heute nach, ohne, dass Betroffene oft genau wissen, warum: was ist eigentlich passiert? Warum reagieren sie in manchen Situationen sonderbar, verstört, rückzüglich, ängstlich…oftmals haben sie Traumatisches erlebt. Trauma, das massive Spuren hinterlassen hat, sodass Betroffene es verdrängen mussten. Ähnliches wird eindrücklich nachgezeichnet im Film „Auf dem Grund“. Die familiären Beziehungen sind nachhaltig durch das Trauma geprägt, Krankheitsscham verhindert, um Hilfe zu ersuchen, alle in der Familie leiden: bis Protagonistin Anne ein lang zurückliegendes Familiengeheimnis aufdeckt. HIer habe ich den Film für die Stiftung „Zu-Wendung für Kinder“ unter diesen Aspekten ein wenig näher beleuchtet.

Wenn gestern nicht einfach vorbei ist… Wie wir schwierige Kindheitserfahrungen überwinden

Wenn Menschen als Kinder in ihren Familien Ungutes erlebt haben, und das oftmals über Jahre hinweg, manchmal von Geburt an, dann trifft der Ausspruch „Vorbei ist vorbei!“ bei ihnen oftmals einen sehr empfindlichen Nerv. So wahr diese Aussage, (oftmals von Angehörigen oder Freunden sogar durchaus gut gemeint) auch an den aktuellen Fakten gemessen sein mag, so wenig hilft sie Betroffenen: denn ihr tägliches Erleben ist ein anderes. Sie fühlen sich oftmals innerlich, scheinbar grundlos, ängstlich, überfordert und hilflos, und das, obwohl sie im Außen oftmals Ungeheures leisten. Treten im Außen Krisen auf, wie etwa die Corona-Pandemie oder der Krieg in der Ukraine, wirken diese Ereignisse verstärkend, wie Trigger in alte Krisenzeiten.

Was passiert genau bei diesen Menschen? Lassen Sie uns, um das genauer zu verstehen, neurowissenschaftliche Erkenntnisse zu Rate ziehen. Wir wissen heute (und natürlich sind Beschreibungen für diese hochkomplexen Vorgänge zwangsläufig sehr vereinfachend), dass unser Gehirn sich so aufbaut, wie es genutzt wird. Die Verschaltung der Synapsen ist also nutzungsabhängig,  bestimmt von anschwellenden und abschwellenden Erregungspotenzialen. Das gilt auch, so beschreibt es etwa Gerald Hüther in seinem Buch „Biologie der Angst“, für emotionale Verschaltungen. Wenn also ein Kind in eine Familie hineingeboren wird, in der die Eltern große eigene Probleme haben, dann wird es schon als Säugling viel davon mitbekommen, dazu in Resonanz gehen. Wir wissen heute aus entwicklungspsychologischen Forschungen, dass schon Säuglinge viel mehr wahrnehmen als wir je angenommen haben: auch Atmosphären, Stimmungen, Emotionen. Stellen wir uns eine Familie vor: vielleicht  lebt hier ein suchtkranker Vater, der, wenn er trinkt laut wird und Streit anfängt, täglich über sich die Kontrolle verliert und eine Mutter, die sich liebevoll um ihr Baby kümmert, aber durch die Probleme mit dem Ehemann gereizt und an ihren Grenzen der Belastbarkeit angekommen ist: all dies wird ihr Baby mitbekommen, Angst und Schrecken gleichsam mit der Muttermilch aufsaugen. Auf das Wahrgenommene kann das Baby unterschiedlich reagieren: eine Möglichkeit zu reagieren kann sein, Angst zu entwickeln. Aus dieser befeuerten Hirnspur der ersten Lebensmonate, der verschalteten Synapsenspur der Angst, wird leicht ein breiterer Hirnweg, wenn er künftig täglich genutzt wird. Wird, um im Bild zu bleiben, die Angstspur lange Zeit und wiederholt gefahren (etwa weil die Sucht und die damit vorhandenen familiären Probleme stärker werden), kann sie zu einem breiten Trampelpfad, einer regelrechten Hirnautobahn werden. Wird diese Autobahn über Jahre, gar Jahrzehnte so weiter genutzt, dann kann es passieren, dass unser Säugling, nennen wir ihn hier Suchtkind, auch als erwachsene Frau mit 40 oder gar 60 Jahren alltäglich auf dieser Angstautobahn fährt. Sie hat den Eindruck, gar nicht anders fahren zu können. Scheinbar hat sie grundlos Angst, gibt es doch aktuell gar keinen Anlass zu Ängsten und Sorgen. Frau Suchtkind fühlt sich nun ihren Gefühlen hilflos aufgeliefert. Doch das heutige Gefühl ist nicht sinnlos, auch wenn Frau Suchtkind es berechtigter Weise als unangenehm empfindet: dieses Gefühl macht unsere Frau Suchtkind darauf aufmerksam, dass das früh als Kind Erlebte heute Hinwendung und Zuwendung verlangt.

Nicht mehr Fühlen – auch ein (Paar)-Problem
So wie sich Frau Suchtkind ständig sorgt und ängstigt, gibt es andere Menschen mit unguten Kindheitserfahrungen, die andere Bewältigungsstrategien gefunden haben: sie fühlen nicht mehr. Gefühle, das haben sie bemerkt, sind ungeheuer schmerzhaft. Damit soll Schluss sein! Sie wollen sich nicht mehr erschüttern lassen. Dieser Vorgang läuft nicht bewusst ab, sondern ist oftmals ein Schutzmechanismus der Seele, den Betroffene selbst nicht einmal bemerken. Oftmals bemerken sie erst erst durch die Rückmeldungen von anderen, dass etwas problematisch und nicht ganz in Ordnung ist. Die Partnerin etwa drängt: „Mach mal Therapie, ich komme nicht an dich heran!“ Eine neuerliche Verzweiflung. Sich mit diesen schlimmen Erfahrungen auf einen fremden Menschen einlassen, gar einen Therapeuten, wo sich Betroffene selbst schon manchmal fragen, ob mit ihnen noch alles stimmt? Dann besser nichts machen! Und nun stecken sie fest. Derart Betroffene und ihre Partner stecken oft in Krisen fest, die von großer Sprach-und Hilflosigkeit gezeichnet sind. Neben Angst und Gefühllosigkeit, Scham und Schuld, leidet dann mit der Zeit vor allem eines: das eigene Selbstwertgefühl. Die Lebensqualität leidet, Betroffene bleiben unter ihren eigenen Möglichkeiten zurück- sie sind unzufrieden, fühlen sich diffus unzulänglich – ihr Umfeld, vor allem ihre Beziehung, leidet oft mit. Und wieder droht eine Familie unglücklich zu werden, so wie es die Betroffenen aus ihrer Herkunftsfamilie kennen- und gerade das wollten sie in ihrem Leben doch unbedingt vermeiden. Ein Teufelskreis.

Der erste Schritt aus dem Dilemma
Was kann aus diesem Dilemma heraushelfen? Der erste Schritt ist der schwierigste: er bedeutet, wahrzunehmen, was wirklich los ist. Dazu gehört viel Mut. Vielleicht brauchen Sie dabei Unterstützung. Einen Menschen, der die Belastungen, die sie getragen haben, würdigen kann, aber der auch mit ihnen einen Blick auf Ihre Stärken und das, was sie bis heute geschafft haben, werfen kann.  Die Würdigung der Belastungserfahrung und die Würdigung der eigenen Stärken, die sie aus und in diesen Krisen entwickelt haben, beschrieben Menschen in meinen Befragungen als einen der wichtigsten Hilfefaktoren, sich besser und entlasteter zu fühlen (Barnowski-Geiser (2015): Vater, Mutter, Sucht). Kreative Wege eröffnen Möglichkeiten, sich diesen Stärken anzunähern. Sie ermöglichen uns, neue Hirnspuren zu ebnen und Abfahrten von der alten Autobahn. Da folgt der zweite Schritt, der im Angesicht von schwierigen Kindheitserfahrungen zugegeben sehr schwer ist: Sie müssen an die Möglichkeit der eigenen Veränderung glauben!

Alles Beste in diesen schwierigen Zeiten wünscht

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Wort und Tabu in Eltern-Kind-Beziehungen

Viele erwachsene Kinder aus belasteten Familien haben nie mit jemandem über ihre schwierige Lage Daheim gesprochen. Sie hätten eigentlich wenig darüber nachgedacht als Kind, heißt es oft, es sei eben einfach so gewesen , wie es nun mal war… und manch Betroffener bemerkt beim genaueren Hinschauen, wenn die Familie längst verlassen wurde, dass es ein Sprechverbot gab, über das Belastende zu sprechen, ja, teils sogar überhaupt darüber nachzudenken. Nehmen wir ein Beispiel: Die Familie hat die Sucht des erkrankten Elternteils tabuisiert, darüber wird nicht gesprochen, es wird bagatellisiert und verharmlost. Oft ist es für die betroffenen Kinder ein großes Ereignis, wenn sie ihre damit einhergehende Belastung erstmalig mit Worten belegen, sie vor sich selbst und in der Folge vor anderen benennen. Manche fühlen sich dann schlecht, fühlen sich als Verräter oder Denunzianten der Eltern. Philosoph Peter Bieri beschreibt dies im Zusammenhang der verlorengehenden Würde  treffend: „Wenn das Wort ausgesprochen ist, gibt es keinen Spielraum mehr für Verleugnung oder Beschönigung – keine Möglichkeit mehr zu tun, als sei das Unglück nicht der Fall.“ (Bieri, Eine Art zu leben, S.232). Das ausgesprochene Wort verändere die Beziehungen, sogar, wenn es nur gedacht sei.

Es scheint entscheidend, mit welchen Worten sie ihr  Elternteil belegen. Nehmen Sie sich ein paar Atemzüge Zeit: Denken Sie doch kurz einmal darüber nach, welche drei Worte Sie Ihrem „schwierigen“ Elternteil zuschreiben…was wurde für Sie persönlich zur Belastung?

Vielleicht sind Sie nun bei Diagnosen und Krankheitszuschreibungen gelandet, vielleicht steht dort: Sucht, Alkoholismus, Depression o.ä. Dann sind vielleicht gängige Diagnosen zu ihren eigenen Worten der Beschreibung geworden und sie könnten noch einmal überprüfen, ob Ihnen diese Kategorien, die aus medizinischen Klassifikationen abgeleitet wurden, heute noch ausreichen.

Unsere Worte können  Welt gestalten: sie können  etwas endlich klar scheinen lassen, sie können ebenso abstempeln und so jede Hoffnung aufgeben, sie können ebenso beschönigen wie verfremden. Auch die noch nicht gefundenen Worte gestalten unsere Beziehungen.

Eine wichtige Rolle kommt dabei den Tabus zu: Tabus können Beziehungen zersetzen, da sie ihnen die Echtheit entziehen. Authentizität geht verloren, sogar dann,wenn einer nur weiß, dass der andere sein Tabu kennt: da hat die Mutter ihren massiven Selbstverletzungsversuch in die Tabuecke gedrängt, er darf nicht mehr erwähnt werden, aber Mutter und Tochter wissen beide darum. Bleiben solche Tabus unbesprochen, werden keine Worte gefunden, sind die Eltern-Kind-Beziehungen schwer belastet – insbesondere die Kinder tragen dann ein schweres stummes Paket, an dem sie oft lebenslang leiden und oft selbst nicht mehr wissen, warum: auch aus ihrem Bewusstsein musste das Schreckliche dann verdrängt werden..

Weit verbreitet ist es auch, wenn endlich ein Wort gefunden wurde, dieses als alleiniges Beschreibungsmerkmal für das belastete Elternteil zu verwenden…Meine Mutter ist Alkoholikerin!…ein großer wichtiger Schritt, wenn das Kind erstmals dies aussprechen kann und es gilt mit der Zeit zugleich, mehr Worte zur Beschreibung zu finden. Manchmal hilft es Erwachsenen neben dem großen Schatten auch das Licht, die positive Seite, noch einmal in den Blick zu nehmen und so das elterliche Bild authentischer zu komplettieren.Die Mutter war Alkoholikerin,aber eben auch viel mehr.Sehen Sie mehr Schatten und wenig Licht,nur entweder oder,kaum und?

  Die gewählten Worte zur Beschreibung der eigenen Eltern genauer anzuschauen, förmlich mit der Lupe zu sezieren, kann ein lohnenswerter Akt sein: tut sich doch unsere Seele als Spiegel vor uns auf. Manchmal wehren sich Kinder gegen  Zuschreibungen an die Eltern, sie befürchten Etikettierungen…: „Alkoholiker- das klingt wie eine Gattungsbezeichnung und damit wie etwas, was einer unwiderruflich ist. Das nimmt ihm die offene Zukunft. Einer, der nur zuviel trinkt, kann aufhören. Ein Alkoholiker hat keine Chance mehr, es nicht zu sein.“ (Bieri ebenda)

In ihren Worten über ihre Eltern spiegeln sich Wünsche, Verzweiflungen und Hoffnungen der belasteten Kinder: diese Worte wollen gesprochen, gelebt oder auch geschrieben sein. Zur Sprache zurückzufinden über das Belastende, in der passenden, stimmigen Weise, kann ein bedeutender Schritt auf dem Weg zur Heilung sein, insbesondere, wenn es Betroffenen in der Kindheit die Sprache verschlagen hat(te). Denn: in einem belasteten System wird die Wahrheit oftmals zum Feind: man stempelt sie zur Lüge. Mitlügen wird zum Preis für Zugehörigkeit, nicht Sehen, Nicht Hören, nicht Sprechen die Eintrittskarte in den „Club“. Allein ist einem solchen System meist schwer beizukommen: es braucht Helfer, Beistand, aufrechten Widerstand und Allianzen, die meist erst auf einem längeren Lebensweg gefunden werden. Worte können solche Begleiter sein und werden, Worte Finden für Unausgesprochenes kann so ein Akt des Begreifens und Verstehens werden, der leibliche Spuren nachhaltig verändern kann.

So mag es manch einem Betroffene so ergehen, wie es Roger Willemsen in „Wer wir waren“  als Zeitphänomen des 3.Jahrtausends klug beschrieben hat: „Nicht wissen im Wissen zu behaupten; nicht gewusst zu haben werden, während man doch wusste“.

Herzliche Gruesse

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Wer hat eigentlich das Problem? Verantwortung abgeben und Probleme bei den Eltern lassen

Herrn R.s Vater ist depressiv…solange Herr R. denken kann. Behandlungen vermeidet der Vater, Ärzte und Therapeuten, so denkt der Vater,  machten sein Leiden nur noch schlimmer. Für Herrn R. bedeutet das, „von Kindesbeinen an mit dem Leiden meines Vaters ziemlich alleine dazustehen“ – seine Mutter tat zeitlebens so, als habe der Vater nichts, erzählt er. Sein Vater interessiere sich wenig für ihn, sei vor allem  mit sich selbst beschäftigt und schwermütig. Er wirft seinem Sohn Herrn R. vor, wie gut es ihm doch gehe… während er „vor die Hunde gehe“. Herr R. kann kaum noch abschalten, befürchtet, ähnlich depressiv zu werden wie sein Vater, hat nun Eheprobleme wegen derer er Hilfe sucht. Von seiner Frau fühlt Herr R. sich nicht wirklich geliebt (er hat Angst, dass sie ihn verlasse), seine Kinder beklagen seine Verschlossenheit.

In Gesprächen wird deutlich, das Herr R. bis heute annimmt, das Verhalten seines Vaters ginge auf ihn zurück. Er sei nicht der Sohn, den der Vater sich gewünscht habe. Er sei kein guter Gesprächspartner und hätte sich noch viel stärker engagieren sollen, dem Vater zu helfen. Er hätte wahrscheinlich nie aus dem Elternhaus ausziehen dürfen, vermutet Herr R.

Herr R. bezieht die Krankheit seines  Vaters auf sich. Er glaubt, die Depression des Vaters hätte grundlegend etwas mit ihm zu tun, sei letztlich durch ihn verursacht. Der Vater sei so, weil er, Herr R. nicht interessant, nicht kooperativ , nicht klug genug sei usw. Dies ist nicht ein „schrulliger Zug“ des Herrn R., wie vielleicht manch einer annehmen könnte, sondern eine schwere Belastung aus KIndheitstagen: da er seit Kindestagen mit der Erkrankung des Vaters belastet wird und mit dieser Belastung alleine gelassen wird, aktivieren sich seine kindlichen Erklärungen wiederholt (Geiser-Heinrichs 2017)

Eltern haben ihre Probleme in 99% aller Fälle unabhängig von ihren Kindern – dies ist wichtig zu erkennen. Der Vater ist depressiv, die Mutter trinkt. Punkt! Die Eltern haben alle damit verbundenen Probleme –  Kinder sind mitbetroffen und fühlen sich verständlicherweise diesen Krankheiten gegenüber ohnmächtig. Sie haben die Erkrankung aber nicht verursacht – ihre übernommene Verantwortung liegt meist im Verborgenen und ist den erwachsenen Kindern oftmals zunächst ebensowenig  bewusst wie die übernommene Schuld.

Wie kommt es, dass viele Kinder sich für die Krankheit der Eltern verantwortlich fühlen? Versuchen wir zu verstehen, wie es zu diesem Mechanismus kommen kann, indem wir Entwicklungspsychologie und Neurowissenschaften zu Rate ziehen: Kinder machen unterschiedliche Entwicklungsstadien durch. Im Kindesalter durchlaufen sie eine Phase, die Psychologen auch als Phase des Egozentrismus bezeichnen (Piaget). Kinder glauben in diesem Alter, alles erschaffen zu können und für alles, was um sie herum passiert, verantwortlich zu sein. Bei Streitigkeiten der Eltern etwa fragen sich Kinder, welchen Grund es dafür  wohl gibt. Da das Kind noch nicht in der Lage ist, Beziehungskonflikte und Probleme der Eltern tiefergehend zu durchschauen, gibt es sich selbst daran die Schuld. Unangemessenes Handeln der Eltern, das mit bestimmten Krankheiten wie Sucht oder Beziehungsproblemen zusammenhängt,  beziehen die Kinder auf sich (Geiser-Heinrichs/Barnowski-Geiser 2017). Halten diese Probleme über viele Jahre an, so wird diese dauernd genutzte Hirnspur „Ich bin verantwortlich für unsere familiären Probleme“, bis hin zum „Ich bin schuld am So-Sein, an der Krankheit meiner Eltern“ zu einer breiten vielbefahrenen Hirn-Autobahn, wie es die Neurowissenschaftler vereinfachend erklären (Hüther). Da die entstandenen Probleme von Kindern nicht befriedigend bewältigt werden können, resultiert daraus in der Folge meist ein herabgesetzter Selbstwert: ein grundlegendes Gefühl der Unzulänglichkeit sowie das Gefühl, überhaupt nicht liebenswert zu sein. Im ungünstigen Falle entsteht ein Lebensproblem, das mit in die nächste Beziehung genommen wird und sogar die neu gegründete Familie, wie im Falle von Herrn R., nachhaltig negativ beeinflussen kann. „Ich bezieh  nicht mehr alles auf mich“, kann ein wichtiger Schritt sein zu mehr Lebens-und Beziehungsqualität sein. Damit aus dieser Aussage eine gelebte Haltung wird, muss sie täglich, wie beim Sport, eingeübt werden: damit einen neue Hirnspur langsam aufgebaut wird, um im Bild zu bleiben, zu einer neuen Hirnautobahn werden kann. Oft hilft es, einen mantraartigen Satz zu formulieren und diesen zu wiederholen.

Eine schwere elterliche Erkrankung ist schwer auszuhalten. Viele Kinder fühlen sich ohnmächtig ausgeliefert, bis ins hohe Erwachsenenalter. Erst das Eingestehen der Ohnmacht, gerade wenn die unmittelbare Belastung vorbei ist (die erwachsenen Kinder Kontakt zu den Eltern und Dosierung des Kontaktes selbst bestimmen können), erlaubt es jedoch, aus dem Anstrengungs-Hamsterrad auszusteigen. Da Ohnmacht so schwer zu ertragen ist, erscheint der „Verursacherglaube“ der erwachsen gewordenen Kinder in manchen scheinbar als leichtere Wahl (diese Wahl wird jedoch unbewusst getroffen), gibt es doch hier einen aktiven Anteil, eine scheinbare Gestaltungsmöglichkeit. Ein Trugschluss: das Abarbeiten an der Krankheit, der Wunsch, die Krankheit zu besiegen und elterliche Liebe, „gesehen werden wie man wirklich ist“, endlich zu bekommen, werden leicht zum Sysiphos-Projekt. Ein Reset, ein zurück auf Null, tut hier oft gut: die elterlichen Probleme nicht mehr auf sich beziehen. Dabei unterstützt, den Kopf zu Hilfe zu nehmen und innerlich deutlich Stop zu sagen, wenn das Kreisen um Schuld einsetzt.

Eine gutes Wochende wünscht

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Familienatmosphäre und Lebensqualität

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Coronakrise erzeugt Atmosphaeren.Kinder aus belasteten Familien sind besonders anfaellig und sensibel fuer Atmosphaeren um sie herum.Augenblicklich beschreiben viele Bedrohungsatmosphaere unter sonnigem Nichts-Ist… Musik kann Helfen.

Fühlen Sie sich manchmal, gleichsam aus dem Nichts, scheinbar grundlos, schlechter Stimmung? Fühlen Sie sich aus heiterem Himmel überfallen von Leere oder Traurigkeit? Dann teilen sie dieses Schicksal mit vielen erwachsenen Kindern aus belasteten Familien: alte Atmosphären prägen aktuelles Erleben. Verdrängte Altlasten beeinträchtigen ihr Lebensgefühl, bestimmen oft unbemerkt Lebensqualität (Orth, Ilse 2012).
Wenn Menschen in einer belasteten Familie aufwachsen, dann erzählen Diagnosen (etwa „Suchtkrank“ oder „Borderline“) wenig über das, was dies alltäglich für die mitbetroffenen Angehörigen, insbesondere für Kinder, bedeutet. Familienbeziehungen sind zwischenleibliche Beziehungen (Ilse Orth). Der Alltag der Familien ist geprägt durch Atmosphären, die sich aus den Gefühlen und Stimmungen der beteiligten Familienmitglieder ergeben. „Zum Zerreißen gespannt“, „Unberechenbar und ungeheuerlich bedrohlich“, „Wie ein Monster lauerte die Gewalt aus den Ecken“…, so oder ähnlich beschreiben es Betroffene. Für Kinder aus belasteten Familien ist der Vorgang, tagtäglich Krisen anzusehen, diese hautnah zu erleben, per se eine Belastung. Wenn diese Krisen zugleich tabusisiert werden, als nicht vorhanden, mit „Es ist doch nichts!“ familiär belegt werden, drohen diese Krisen zu einer Quelle großen Leidens zu werden. Als dramatisch an diesem Leiden zeigte sich insbesondere, dass die erlebten Szenen und Atmosphären Betroffenen wenig greifbar erschienen. Wenn diese nicht greifbaren Atmosphären die Kindheit bestimmen, sie „nur so in der Luft liegen“, so werden diese von den betroffenen Kindern verinnerlicht: sie wirken weiter in ihrem Denken, in ihrem Fühlen, wohnen in ihren Körpern, in einem, wie wir es in der leiborientierten Therapie nennen, Leibgedächtnis – es wird sie in ihrem Erwachsen Werden und Sein begleiten.Es entscheidet mit darüber, wie sie auf die Welt zugehen. So werden leicht aus den im Tabu gefangenen Einsamen und Stummen aus Kindheitstagen Erwachsene Burgbewohner mit Haut und Haar (Barnowski-Geiser 2015). Bleiben die alten familiären Szenen unaufgearbeitet, so weben sie ein unsichtbares Netz von Stimmungen im Heute: unbegreifliche Traurigkeit, überbordernde Ängste etc. Sie drohen eine Quelle fortgesetzten Leidens, weitergegeben von Generation zu Generation, zu werden.

Der erste Schritt heraus aus diesem Dilemma ist Achtsamkeit für die eigene Stimmung und Befindlichkeit. Dazu finden Sie auf diesen Seiten einige Übungen. Im zweiten Schritt besteht die Möglichkeit, genauer zu schauen: differenzieren Sie: welche Stimmung gehört gerade jetzt zu ihnen und welche Stimmung gehört in Ihre Vergangenheit. Gehört etwa die Ängstlichkeit eher ihren Eltern als Ihnen selbst? Überprüfen Sie…

Ihre eigenen Stimmungen und Gefühle kommen Ihnen ganz fremd vor.? Sie wissen wenig darüber, sie sind Ihnen kaum zugänglich? Es lohnt ein Ausflug in die Musiktherapie: sie enthält,vielleicht auf den ersten Blick, ungewöhnlich erscheinende Zugänge…

Was hören Sie gerne? Welche Stimmungslage ist in dieser Musik angesprochen?

Musik kann einerseits ein guter Spiegel sein, was Ihre Seele gerade stimmungsmäßig beschäftigt, andererseits können Sie mit Musik aktiv etwas in schwierigen Stimmungslagen tun.

Kreativ-Coaching Sei dein eigener DJ

Suchen Sie in dieser Woche jeden Tag ein Musikstück, das genau Ihrer Stimmungslage entspricht. Tanzen Sie zu dieser Musik- auch wenn Ihnen das vielleicht unpassend erscheint. Nach diesem Tanz suchen Sie eine Musik, die Ihnen jetzt gut tut…vielleicht ist diese Musik völlig gegensätzlich…tanzen Sie auch diese Musik. Spüren Sie nach….wie geht es Ihnen jetzt? Notieren Sie in einem Heft, welche Musik Ihnen besonders bei schlechter Stimmung hilft.

Wenn die Belastung durch ihre Stimmungen für sie quälend wird, kann es ratsam sein, Hilfe und Unterstützung professioneller Art in Anspruch zu nehmen.

Quellen
Barnowski-Geiser (2015): Vater, Mutter, Sucht. Wie erwachsene Kinder suchtkranker Eltern trotzdem ihr Glück finden.
Orth, Ilse (2012): Unbewusstes in der therapeutischen Arbeit mit künstlerischen Methoden, kreativen Medien – Überlegungen aus der Sicht „Integrativer Therapie“ (in Polyloge/Internetzeitschrift)

Mehr aus wissenschaftlicher Perspektive zu Familienatmosphäre, Stimmungen und Lebensqualität… hier weiterlesen

Eine schwierige Kunst: wie der Beziehungs-Tanz zwischen Mutter und Kind scheitern oder gelingen kann

„Erst als ich die Beziehung zu meiner Mutter bearbeitet habe, hat sich meine Beziehung zu meiner Tochter entscheidend verbessert!“ (Frau I. , 40-Jährige Pädagogin und Mutter einer 12jährigen Tochter)

Häufig ist in der Fachliteratur von schwierigen Kindern die Rede. Aber was ist mit schwierigen Eltern?  Dieses Thema wird eher stiefkindlich behandelt… und wenn es um erwachsene Kinder mit schwierigen Kindheiten geht, erst Recht: wenig und nur vereinzelt kliententelspezifische Hilfe (wie etwa dankenswerterweise in den Beiträgen der KollegInnen Jens Flassbeck, Dami Charf); auch in der therapeutischen Szene muss man das Thema als Ordchideendisziplin bezeichnen. Die Not der betroffenen Menschen erscheint groß, die Ratlosigkeit der therapeutisch Tätigen ebenso: deshalb haben wir, meine Tochter Maren Geiser-Heinrichs ( Psychologin in einer Beratungsstelle) und ich, beschlossen, unsere Erfahrungen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen. Begonnen haben wir diese gemeinsamen Schritte mit einem Selbsthilfebuch für erwachsene Betroffene und begrenzen aufgrund der großen Komplexität der Themen: Wir haben uns als erstes der Mütterthematik  bei erwachsenen Kindern gewidmet, die Väterthematik soll folgen. So viel vorab: wir halten beide Eltern (0der auch andere nahe Bezugspersonen) für bedeutsam in der Lebensentwicklung.

Gern möchten wir mehr Menschen für die Bedeutung kindlicher Erfahrungen sensibilisieren und für Veränderungswege öffnen. Erkennen ist der 1. Schritt auf dem Weg zur Veränderung. Die Qualität der Interaktion (wir beschreiben es in unserem Buch als lebenslangen Tanz) zwischen nahen Betreuungspersonen, meist zwischen der leiblichen Mutter und dem Kind, ist gerade in den ersten Lebensjahren des Kindes entscheidend und wird (nicht nur zu Beginn) entscheidend geprägt durch die Kompetenz der Mutter; sie sollte als die weisere  (Begriff nach Grossmann&Grossmann) agieren ( und kann es nicht zwangsläufig wie gewünscht oder angenommen).  Vor allem Feinfühligkeit und Bindungssicherheit sind als mütterliche Kompetenzen gefragt. Erlebt das Kind hier wenig Einfühlsames und wenig Sicheres, so kann dies weitreichenden Einfluss nehmen: u.a. auf seine Art und Weise in die Welt zu gehen, auf seinen Lebenserfolg, aber auch vor allem auf sein Selbsterleben. Ich empfehle zum tifergehenden Verständnis  an dieser Stelle gern einen Vortrag von Karin Grossmann, in dem sie ihre eindrucksvollen Langzeit- Forschungsarbeiten zur Bindung zwischen Eltern ( auch unter väterlich-feinfühligen Aspekten) und Kind prägnant und gut verständlich erklärt (gut investierte 40 Minuten, finde ich). Wer mehr erfahren mag, dem sei das allerdings hochpreisige Buch des Forscherpaares ans Herz gelegt.

Ein Kind einer, nennen wir sie wie im Buch  „schwierige“ Mutter, kann  an den Folgen eines nicht gelungenen Bindungstanzes zeitlebens mit Leib und Seele leiden -und doch sind die Folgen  nicht zwangsläufig, und auch nicht irreversibel oder irreparabel. Wie genau dieser Tanz zwischen Mutter und Kind vonstatten geht, wie der kindlich erlernte Tanz unser Erwachsenenleben bestimmt und vor allem, wie Betroffene sich im Erwachsenenalter selbst helfen können, möchten wir in unserem neuen Buch beschreiben: Meine schwierge Mutter. Das Buch für erwachsene Töchter und Söhne. Ein kreatives Selbsthilfeprogramm mit Selbsttest kann Sie in Ihrem persönlichen Veränderungs-Prozess unterstützen.

Unser Anliegen: Die Weitergabe durch die Generationen abmildern

In der therapeutischen Praxis zeigt sich: viele Probleme, die Mütter an ihren Kindern beschreiben, kennen diese selbst auch aus Kindheitsttagen… ohne dass ihnen dieser Teil ihrer Biografie wirklich bewusst wäre. Erst auf Nachfragen, etwa „Wie ging es Ihnen im Alter Ihrer Tochter?„, werden plötzlich Paralellen, Wiederholungen durch die Generationen überdeutlich. Die Mutter will nicht gewalttätig sein wie ihre Mutter…und findet doch in Augenblicken der Überforderung mit der eigenen Tochter keinen anderen Weg- Verzweiflung, Selbstvorwürfe, Schuld: ein ungutes Gebräu. Heute wollen diese Frauen und Männer es bei ihren Kindern anders machen: aber weit und breit kein geeignetes Modell in Sicht, ebenso kein verinnerlichtes Arbeitsmodell, das fähig schien, das Alte zu ersetzen. Wer keine feinfühligen Eltern erleben durfte, hat es schwerer, diese Fähigkeit in sich selbst auszubilden. Es wird zur Herausforderung, den eigenen Kindern das nötige Feingefühl, die erforderliche Bindungssicherheit zu geben. Dann lieber gar nicht erst Mutter oder Vater werden? Kinderlosigkeit wird oftmals die Not- Lösung, die zugleich selten gut erträglich scheint.Beim Thema schwierige Mütter bewegen wir uns in vielerlei Hinsicht auf einem engen Grat, Frauen vor allem  zwischen den Polen eine schwierige Mutter Haben und schwierige Mutter- Sein.

Muttermythos und Tabu

Ihre eigene Mutter schwierig zu empfinden, können sich manche Menschen gut eingestehen und locker darüber plaudern (in manchen Kreisen gilt das sogar als cool und chick), für andere ist das ein so verbotenes Thema, das es kaum denkbar, geschweige denn aussprechbar wäre. Wenn das Schwierigsein ein geringeres Ausmaß zeigt, ist es leichter, wahrzunehmen und mitzuteilen, wenn das Ausmaß große ist, Traumatisierung, Beschämung und wiederholte tiefe Kränkungen beinhaltet, wird der Umgang schwieriger. Erschwert wird dieser Umgang, so zeigt sich in unseren Arbeiten, durch ethisch-moralische Maßstäbe. Man darf doch nicht die eigene Mutter in Frage stellen, denken Betroffene, das wollte man als Mutter doch auch nicht! Getreu dem ethischen Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren!“, können sich dann Betroffene, die in ihrer Kindheit viel Ungutes erlebten, oft nur noch ins Verdrängen retten- in der Folge ins Verstummen- und beschreiten so unbemerkt einen unguten Pfad der Weitergabe von Schwierigkeiten an die nächste Generation… Tabuisieren und Verschweigen waren der Preis, den die Kinder für ihre Zugehörigkeit zur Familie zu zahlen hatten. Die Gefahr ist dann groß, dass aus dem betroffenen Kind einer schwierigen Mutter neuerlich selbst eine schwierige Mutter wird: wer nicht um seine Biografie weiß, wer schwere Bindungsdefizite und Leerstellen im Erleben in sich trägt, droht unbewusst Ungutes an die nächste Generation weitergzugeben. Zugleich kann das Erkennen und Auseinandersetzen ebenso wie gute neue Erfahrungen einen Weg in ein jetzt.besser.leben.  ebnen, auch im gute Mutter- oder Vater-Sein.

Im nächsten Beitrag mehr rund um diese Thematik. Für heute Danke fürs Lesen, fürs Weiterempfehlen, Diskutieren… wir freuen uns, wenn unsere Arbeit Ihnen weiterhilft.

Herzliche Grüße

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Heimweh, Sehnsucht und Co: Coronazeiten als Brutstätten der Sehnsucht

Corona stellt uns, wie wir hier schon einige Male beleuchtet haben, vor besondere Herausforderungen. Die Folgen der sozialen Distanzierung werden gerade erst präziser in den Blick genommen. In meiner Arbeit fällt mir auf, dass die Themen „Leere“ und „Verlorenheit“ verstärkt eine Rolle spielen im Leben der Menschen mit Kindheitsbelastungen. Manch einem kommt die staatlich erzwungene Diustanzierung zu schwierigen Eltern nicht ungelegen: und dennoch lässt sie in manch Kindheitsbelastetem ein ungutes Gefühl zurück: etwas fehlt, seit Kindheitstagen. Betroffene empfinden Leere, „Nichts“, bei genuaerem Nachforschen werden alte Wunden, Verlorenheit, mangelnde Geborgenheit, spürbar. Dieses Gefühl gleicht dem kindlichen Heimweh der Menschen, die die elterliche Nähe ein Leben lang suchten und nie fanden.

Die offene Rechnung: Kindheitsbelastungs-Heimweh

Fühlen auch Sie sich manchmal scheinbar grundlos traurig und niedergeschlagen, haben an kaum etwas Interesse, fühlen sich appetitlos im Wechsel mit Heißhungerattacken?…Sie haben das Gefühl, nicht richtig dazuzugehören, verspüren wenig Motivation zur Arbeit und auch nicht, tatkräftig etwas Neues zu beginnen? Dann kann es sein, dass sie unter chronischem Belastungs-Heimweh leiden…

Wenn kindliche Bedürfnisse nach elterlicher Liebe und Zuwendung nicht befriedigt wurden, dann scheint oft lebenslang etwas offen zu bleiben. Etwas Unbestimmtes scheint verloren. Etwas, das am ehesten mit dem Begriff Heimweh zu beschreiben ist. In der Folge richten erwachsene Kinder ihr Bemühen darauf, dieses Heimweh wegzubekommen, es von den Eltern doch noch gestillt zu bekommen oder auch, es einfach nicht mehr zu fühlen.

Viele Kinder aus belasteten Familien leiden im hohen Erwachsenenalter  an chronischem Heimweh, ohne darum zu wissen: belastete Familien sind wahre Brutstätten der Sehnsucht (zit. Vater, Mutter, Sucht, s.u.). Der Begriff Heimweh wird allgemein als Beschreibung gewählt, wenn in früher Kindheit eine Gemeinschaft verloren gegangen ist. Bei belasteten Kinder bekommt Heimweh eine andere Dimension.  Heimweh, das ich als Belastungsheimweh bezeichnen möchte, ist vielmehr bei all denjenigen vorhanden, die eine familiäre Gemeinschaft nie befriedigend erlebt haben und bei denjenigen, die sich selbst in der Suche nach elterlicher Liebe verloren gegangen sind. Belastungsheimweh ist immer auch ein Suche nach uns selbst, nach der eigenen Identität – oft einhergehend mit großer Verzweiflung.

Die junge Frau ist außer sich. Ihr Freund betrüge sie permanent, schlage sie, wenn sie ihn darauf anspreche und sie nehme diese Behandlung wieder und wieder in Kauf. Sie verstehe sich selbst nicht, Biografisches kommt ihr in den Sinn. Sie ist Tochter eines Alkoholikers und einer depressiven, tablettenabhängigen Mutter. In der Arbeit zu diesem Thema äußert sie, süchtig nach Ihrem Freund zu sein. „In meiner Familie hat das angefangen: ich bin der Liebe, die ich nicht bekam, hinterhergelaufen. Wie ein Stier hinter dem roten Tuch, so laufe  ich seitdem der Liebe hinterher!“

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Darf es ein bisschen mehr „Ich“ sein?- wie wir in belasteten Familien miteinander umgehen

familie Abgrund (2)

 

Wie gestaltet man den Kontakt zu den alten Eltern in der Corona-Krise, wenn die Beziehung schwierig war? Diese Frage treibt im Moment manch einen Kindheitsbelasteten um. Es wird kaum die Antwort auf diese Frage geben und in jedem Fall erfordert diese Ihre ganz persönliche Antwort, fußend auf Ihrem Standpunkt, Ihrer augenblicklichen familiären Situation und Ihren persönlichen Werten.

Wer benennt, fliegt!

Um den eigenen Standpunkt im familiären Miteinander augenblicklich zu finden, braucht es oft zunächst die Erlaubnis, einen eigenen Blick auf die Herkunftsfamilie zuzulassen. Das klingt banal, einfach, ist aber in belasteten Familien eine schwere Herausforderung: eigene Ansichten, etwa über die Sucht der Mutter, waren in der Kindheit meist nicht gewünscht, oft gar nicht erlaubt. Betroffene Kinder lernen, sich einen eigenen Standpunkt, eine eigene Sichtweise zu verbieten, da sie sich mit der unausgesprochenen Konsequenz des Ausschlusses aus der Gemeinschaft konfrontiert sahen. Willst du dazu gehören, musst du denken wie wir!, lautete die oft nicht einmal in Worte gefasste Ansage, die unausgesprochen den Beteiligten klar war. Wenn Sie also bis heute in einer chronifizierten Tabuisierung der Geschehnisse mit Ihren alten Eltern leben, wird es für Sie schwer sein, eine Position zu finden, in der sie nicht nur berücksichtigen, was Ihren Eltern gut tut, sondern vor allem auch Ihnen selbst. Diese eigene Haltung muss dann mühsam erkämpft werden.

Hinschauen bedeutet(e) für viele betroffene Kinder „Abgrund“. Wenn wir aber unsere Fragen beantworten wollen, wie wir heute unseren Umgang mit den Eltern günstig gestalten, dann wird dies kaum ohne diesen Blick auf unser altes Familien-System und wie es funktioniert,gelingen

Zum Beispiel: Suchtfamilie

 Nehmen wir zum Beispiel eine Suchtfamilie: Kinder süchtiger Eltern beschreiben diesen Abgrund genauer. Atmosphäre und Familiendynamik lassen diese Familien offenbar zu Orten mit besonderen Merkmalen werden. Jede Familie ist anders und individuell, und doch zeigt der Ort Suchtfamilie typische Ortskennzeichen, die vielen Familien gemeinsam sind (nach Barnowski-Geiser 2015: Vater, Mutter, Sucht 2015):

  • Nicht-Ort: es wird so stark tabuisiert, das es angeblich keine Probleme gibt

  • Extrem-Ort: alle bewegen sich an kaum zu bewältigenden Grenzen und Extremen. Typisch sind Gefühlsachterbahnen, von denen alle so tun als gäbe es sie nicht

  • Arena: die Familienmitglieder kämpfen um die Sucht und deren Aufgabe, sie kämpfen um ihre eigenen Identität und um den Erhalt der Familie

  • Brutstätte der Sehnsucht: der chronische Mangel im „Nest“ wird Motor für eine beinahe rauschhaft anmutende Suche nach Liebe und Zuwendung, nach gesehen, gehört und erkannt werden

  • Festung oder Burg: nichts darf von Innen nach Außen dringen und manchmal darf niemand hinein, niemand hinter die Burgmauern schauen.

Indianischer Weisheit zufolge werden Menschen immer auch ein Stück von der Landschaft und Welt, die sie umgibt. Folgen wir dieser indianischen Weisheit, so werden auch Menschen aus belasteten Familien etwas von dem familiären Ort annehmen, der sie umgab:

  • Burgbewohner werden demnach ein wenig (oder mehr) versteinern, unzugänglich und verschlossen sein. Oft werden sie als Erwachsene neuerlich Geheimnisträger
  • Arenabewohner wachsen heran zu unermüdlichen, vielleicht sehr tapferen Kämpfern,
  • am Nicht-Ort-Lebende neigen im Angesicht von Schwierigem zum Verleugnen, werden „auffällig unauffällig“ in einer „Hier ist doch gar nichts!-Mentalität“
  • Bewohner der Brutstätte der Sehnsucht werden ewig Suchende nach Liebe – eine Suche, die sie oftmals auch in eigene Süchte katapultiert.
  • Extrem-Ort Erwachsene wirken oft wie Grenzgänger: Wanderer zwischen extremen Beziehungen, extremen Stimmungen, Emotionen und Lebensformen

Neurowissenschaftliche Untersuchungen unterstützen diese alte indianische Weisheit: unsere kindlichen emotionalen Erfahrungen werden neuronal abgespeichert, sie können zu prägenden Bahnungen im Gehirn führen. Wenn wir also ein Verständnis für uns und unser So-Sein entwickeln wollen,wenn wir begreifen wollen, warum wir genau so, in unserer Art und Weise in der Welt sind, kommen wir, so anstrengend es scheint, kaum am Abgrund Herkunftsfamilie vorbei. Wenn wir um diesen Abgrund wissen, kann es  weitergehen: wir können den Abgrund besteigen, erkunden, umgehen, ihn nutzen, überspringen, umtanzen, vielleicht sogar überfliegen. Und auch sehen, mit welchen uns hier ebenso zu eigen gewordenen Stärken wir ihn überstanden haben. Die alte Dynamik wird weiter prägen und wir und die Eltern haben einen Wandel vollzogen: zumindest wir haben die Chance, heute anders zu agieren, unser Rollenkorsett ein wenig zu lösen.

So, nun habe ich aber lange ausgeholt: ja, und genauso schwierig und langwierig gestaltet sich das Antwortenfinden auf den Umgang miteinander  in belasteten Familien heute. Der Klarblick auf die Situation eröffnet die Chance, die eigene Belastung früher und heute anzuerkennen und im zweiten Schritt, die eigene Belastungsgrenze zu finden. Selbstschutz, und dazu gehört auch psychische Belastung, ist nach meinen Erfahrungen das erste Krisengebot. Für die meisten Betroffenen bedeutet Herkunftsfamilie lange Selbstaufgabe. Das kann krank machen, erschöpfen. Die Suchenden nach Liebe werden erhoffen, dass Mama und Papa heute doch nich endlich sehen werden, wie sie sich einsetzen…auch diese Hoffnung erfordert eine angemessene Überprüfung.

Wieviel Sie in die Beziehung zu den Eltern heute einbringen wollen, etwa als Einkaufshilfe, Telefonkontakt etc. muss zwischen Mitmenschlichkeit und Selbstschutz  gefunden werden und liegt bei Ihnen – es ist Ihre ganz persönlich schwierige Entscheidung: In Ambivalenz, bei vielen Betroffenen in den Extremen zwischen Hass und Liebe. Dieses „Und“ will ernst genommen sein. Kränkungen erscheinen auf diesem Boden nahezu unvermeidlich ( dazu habe ich auch einen Beitrag zur „Macht der Kränkung“  auf der Seite der Stiftung fuerkinder geschrieben). Ich bin gespannt, wie Sie die Frage für sich beantworten…

Und:Wenn der klare Blick auf den Abgrund sie  ängstigt, Sie zu verschlingen droht, ist mehr Sicherheitsabstand gefordert: noch! Der ideale Zeitpunkt wird sich Ihnen eröffnen, wenn Ihre Seele zum Klarblick bereit ist! Vertrauen Sie auf die Weisheit Ihrer Seele.

Eine gute Woche wünscht

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Dr. Waltraut Barnowski-Geiser ist Therapeutin, Lehrende und Autorin. Vater, Mutter, Sucht (201519)  ,Hören, was niemand sieht (2009) und zusammen mit ihrer Tochter Maren Geiser-Heinrichs (2017/19) „Meine schwierige Mutter“ sind ihre Bücher zur Thematik. In der Praxis KlangRaum in Erkelenz bietet sie Hilfe für Menschen mit Kindheitsbelastungen auf der Basis des von ihr entwickelten AWOKADO-7-Schritte-Programms.

Suchtkind-Bungeejump- Der Besuch Daheim

Blog Besuch bei den Eltern

 

Wochenlang schon ist ihr übel. Sie schläft schlecht, wälzt sich im Bett herum, ihr Herz rast. Frau N., 42 Jahre alt, kompetent, gestandene Marketingfrau, versteht sich selbst nicht: das alles, weil in zwei Wochen ein Besuch bei den Eltern ansteht? Das darf doch nicht wahr sein, findet sie.

Und doch ist das, was Frau N. beschreibt, traurige Realität für viele erwachsene Kinder aus sucht-und ähnlich belasteten Familien. Die Begegnung mit den Eltern im Heute, oftmals sogar in der Wohnstätte der Kindheit, wirkt wie ein Trigger: alte Wunden werden wach, Leib und Seele erzählen über den Körper Gespeichertes aus alten Zeiten. Leib und Seele vergessen nicht, erinnern noch heute an das, was im Gestern schon nicht gut tat. Damals nicht, heute  nicht. Frau N.s Ängste und Körperreaktionen sind also mehr als nachvollziehbar. Frau N. versteht nicht, wieso, wenn sie bei den Eltern eintrifft, alles, was sie an Selbstschutz und neuen Bewältigungsmustern in ihren Therapien, Ratgebern und Gesprächen erlernt hat, wie vom Winde verweht scheint. So als gäbe es sie, ihren Willen und ihre Wünsche nicht mehr, sobald sie über die elterliche Schwelle schreitet. Es gibt nicht einmal Streit, erzählt Frau N. , aber ich bin nach diesen Stunden völlig fertig, manchmal tagelang nicht arbeitsfähig.

Sich das Dilemma eingestehen – der 1. Schritt

Frau N. hat wie viele erwachsene Kinder suchtkranker Eltern in Kindheitstagen Schweres erlebt: Bestrafungen, wenn sie gar nichts gemacht hatte, Beschämungen während der Trinkexzesse der Mutter, alleingelassen und ungehört bei eigenen Problemen etc.- all dies hat es im Denken der Eltern, die die Sucht und ihr eigenes Handeln chronisch verleugnen, nicht gegeben. Das alte Tabu , die alte Unberechenbarkeit wirkt weiter, legt sich in die Atmosphäre und über die inzwischen erwachsenen Kinder- nebelgleich sinkt es in sie hinein, ohne, dass sie dafür Worte oder Lösungen hätten. Unbegreiflich, unbeschreiblich, der Selbstverlust setzt ein, wie ein Zwang scheinen sie nun die alten Familienregeln wie Marionetten mitspielen zu müssen – und wieder fühlen sich die derart betroffenen Suchtkinder schuldig, stellen sich selbst in Frage: irgendetwas stimmt mit ihnen selbst nicht, man „muss doch seine Eltern mögen“…

Wer schwer Belastendes in seinem Elternhaus erlebt, und das auch noch ein Leben lang, für den gleicht ein Besuch Daheim einem Bungeejump. Betroffene müssen sich verabschieden von Klischees der „Normalkinder“, für die der Besuch daheim vielleicht „Schön“ oder „Nett“ ist. Der erste Schritt, dem Elternhaus-Dilemma zu begegnen, ist seine Existenz einzugestehen, anzunehmen und zu würdigen. „Ja, so ist es Zuhaus, und leider nicht anders.“, kann Frau N. nun sagen und sich die Belastung durch Besuche erstmalig eingestehen. Die erlittenen Wunden brachten im Vorlauf, in der Bewegung auf das Elternhaus zu, schon alte Symptome an die Oberfläche. Frau N. hilft es, die Länge des Besuchs deutlich zu begrenzen und sich währenddessen immer wieder ihres Atems und ihrer selbst zu vergewissern – so kann sie, so beschreibt sie, den Selbstverlust ein wenig eindämmen. Eine offene Konfrontation der Eltern mit ihrem Erleben wagt Frau N. nicht. Noch nicht, sagt sie nun! Ihre Ängste vor der Cholerik des Vaters und dem unkontrollierten Nochmehrtrinken der Mutter, gefolgt von Beschimpfungen und Aggression, machen ihr regelrecht Panik…

Das hilft: Auch wenn es sich so anfühlt- es ist nicht wie früher!

Was hilft? Betroffene müssen bewusst werden, dass sie Schweres stemmen, aber nicht mehr so klein und hilflos sind wie in der Kindheit- auch wenn es sich in der Begegnung mit den Eltern paradoxerweise exakt so anfühlt. Oftmals sind die Eltern nicht mehr „mächtig“, sondern schon alt und schwach-werden aber übermächtig wie früher, zu Kindheitszeiten erlebt- die Betroffenen fühlen sich auch als Erwachsene den eigenen Eltern gegenüber ohnmächtig. Um diese Ohnmacht zu überwinden, ist meist Unterstützung durch andere erforderlich – und das Üben der Überzeugung, dass das eigene Leben heute als Erwachsene selbst gestaltet und bestimmt werden kann- und muss…

Bleiben Sie dran! Herzliche Grüße

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

 

Dr. Waltraut Barnowski-Geiser ist Autorin mehrerer Fachratgeber zur Thematik, Lehrtherapeutin und Musiktherapeutin in eigener Praxis in Erkelenz. Forschungsschwerpunkt: Familiäre Suchtbelastung.

Querlage-wie Wertschätzung heilt. Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte über einen kleinen Jungen aus einer belasteten Familie

Liebe LeserInnen,

nun sind Sie mit vielen tausend anderen Menschen offenbar regelmäßig lesend auf dieser Webseite unterwegs. Das freut mich natürlich und es stellt sich eine Verbundenheit mit Ihnen ein: der Online – Familie der Kinder und Erwachsenen aus belasteten Familien.

Weihnachten steht vor der Tür. Ich mag Ihnen nochmal eine etwas andere Weihnachtsgeschichte zukommen lassen, die ich vor etwa 15 Jahren verfasst habe (und später dann auch gelesen habe auf der CD „Gefühlskinder“ mit dem Duo EigenARTs und Beate Theißen am Klavier): eine Geschichte, die ich damals unter dem Eindruck einer wahren Begebenheit verfasste. Ein kleiner Klient, Sohn einer trinkenden Mutter, erzählte sie mir. Diese Geschichte hat etwas Schweres und Tragisches und eine doch so, wie ich finde, gute Auflösung. Mir hat der Kleine gezeigt, wie überlebens-wichtig Wertschätzung für kleine und große Menschen ist. Deshalb möchte ich diese kleine Geschichte nochmal auf den Weg bringen, sie euch und Ihnen, als mein persönliches Weihnachtsgeschenk  zur Verfügung stellen-.

Ein gutes Weihnachtsfest für Sie und alle, die Ihnen lieb und wichtig sind wünscht Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Quer – Lage

Eine Kurzgeschichte von Waltraut Barnowski-Geiser

Endlich lag er richtig. Wie immer war es ihm schwer gefallen, eine Position einzunehmen, die ihm entsprach und doch korrekt war. Meistens lag er daneben oder war schiefgewickelt, wie Mama sagte. Jetzt ruhte er gerade, der Länge nach, quer. Zunächst hatte er in der Mitte gelegen, lang ausgestreckt, gegen die sengende Sonne blinzelnd. Er war überrascht, wie gut er dazwischen passte, aber dazwischen passen konnte er. Er passte auch zwischen Mama und Ingo, seinem 10 Jahre älteren Bruder und seit Ingo ausgezogen war, passte er auch zwischen Mama und Ken, ihrem neuen 15 Jahre jüngeren Freund, eigentlich 14 Jahre, 264 Tage und 9 Stunden! Aber so genau solle das wirklich niemand wissen, hatte Mama gestöhnt und wieder mit diesem flehenden Blick zum Himmel, “Oh dieser Junge!“ geseufzt. Das machte sie schon, seit er denken konnte, als er also noch ganz klein gewesen war.Dann wäre er am liebsten wie die Mäuse in ein Loch gekrochen. Obwohl er sich, wie er selber fand, oft ganz klein machte, war er Ken zu groß. Zu groß und zu viel! Hier draußen war sogar noch Platz um ihn herum , Bewegungsspielraum, den er nicht brauchte, nicht mehr. Die Arme eng an den Körper gepresst, fast wie die Soldaten im Counterstrikespiel, hatte er sich eingefügt. Benötigte den Adlerflügelspielraum für die Arme kaum. Im Rücken zwickte es ein wenig, eigentlich ein bisschen viel. Eigentlich bevorzugte er die Bauchlage, war in Erinnerung seiner vorgeburtlichen Eskapaden fast ein wenig stolz. Davon erzählte Mama oft, dass er schon da mit seiner Lage Schwierigkeiten gemacht hatte, er ein Kaiserschnitt wurde. Das klang so toll adelig, wenn Mama das sagte. Sie hatte sich Stunden mit ihm abgequält, weil er sich anders als andere Babies hingelegt hatte, eben quer, schon da ein Dickkopf, was er heute nicht mehr fand, fühlte er doch oft den Umfang seines Kopfes ab, Mamas Aussage, wie so oft, wörtlich nehmend. Er fand seinen Kopf eher klein, wie er ja überhaupt zu den Kleinen in seiner Klasse gehörte. Und dann hatten sie ihn erwartungsvoll aus Mamas Bauch herausgeschnitten, das Personal bestimmt enttäuscht über so einen kleinen blutigen schreienden unadeligen „Querschläger“. Das war der Beginn seines Lebens gewesen und er hatte gelesen, dass Menschen am Ende immer zurückblickten im Zeitraffertempo. „Zeitraffertempo“ war auch wieder so ein Wort, das Kinder eigentlich nicht benutzen, das tat man nicht. Immer musste er auffallen:  weil er  Worte so neu und lustig und fremd und spannend fand. Seine Deutschlehrerin gab sich begeistert, entzückt rief sie eins ums andere Mal: „Still, Kinder. Na, wie formuliert das unser kleines Sprachgenie?“ Das war ihm so peinlich, dass er sich bei ihr nicht mehr zu Wort meldete. „Sprachgenie, Sprachgenie!“, hatten die anderen gerufen, „spielt nicht mit dem, der ist doch so ein Genie, mit uns will der doch gar nichts zu tun haben.“ Er war halt so verdammt anders, hochbegabt sagten die Ärzte. „ Zu wenig Normalo, dein kleiner Typ!“ maulte Ken.

Mama fand es schlimm, dass er immer auffallen musste. Erschreckt bemerkte er nun, dass sein jetziges Vorhaben so zum Scheitern verurteilt war. Er lag tatsächlich schon wieder falsch. Natürlich, so konnte das nicht gehen, quer musste er hier liegen, quer und mit dem Kopf nach unten. Als er noch kleiner war, hatte er immer geglaubt, wenn man die Augen zu mache, würde man nicht mehr gesehen. Darauf hoffte er auch nun. Im übrigen konnte er nicht gesehen werden, er war recht sicher, hatte er sich doch bestimmt zwei Kilometer von der Bahnhofseinfahrt weggeschlichen.

Robotergleich greift sein Arm in die Eisen, zieht den Restkörper nach, die Füße reichen knapp bis zur gegenüberliegenden Seite. Er stützt seinen heute tatsächlich groß schweren Kopf auf den Armen ab , senkt ihn und drückt seine schweißnasse Stirn auf die Handoberflächen. Er findet es schön, dass die Hände sauber duften, nicht den Duft tragen all dessen, was er angefasst hatte. All das, was er nicht hätte anfassen dürfen, das Verbotene. Egal, was er anfasste, am Ende war die Mama traurig und weinte und musste wieder trinken oder diese blöden Tabletten nehmen, von denen sie dann so weg war. Dann weinte sie nicht mehr, aber dann war sie ganz weit weg, wie in Afrika. Und dabei wollte er doch eigentlich ein Glücksbringer für Mama und alle Menschen sein. Er schaffte gar nichts. Manchmal hatte er schon überlegt, sich die Hände anzuhacken, aber er war so ein verdammt ängstlicher Scheißer. Ein beschissener Hosenscheißer. Ja, nicht einmal das hatte er gekonnt, er war nicht sauber zu kriegen gewesen. Und darüber hatte Mama auch geweint, Krokodilstränen. So ein großer Junge, neun Jahre alt, wie er. In seiner Verzweiflung hatte er dann manchmal alles an die Wände geschmiert, braune Farbe, Eigenproduktion, kostenlos und reichhaltig vorhanden. Es hatte nicht geklappt , es wieder wegzukriegen, und das Malen an den Wänden hatte Spaß gemacht. Das hatte die Mama aus Afrika zurückgeholt und dann half nur noch der Stock. Er hoffte sehr, dass der Stock ein Zauberstab wäre, dass er helfen würde, und verdient hatte er es ja, aber bis jetzt hatte der Stock nicht viel ausgerichtet. Manchmal passierte das einfach, es schoss aus ihm heraus, genau so sturzbachartig wie die Gedanken, kreuz und quer und hoch und runter, wie die Figuren auf seinem Game – Boy. Falls Mama ihn nachher finden würde, konnte sie sich freuen: er hatte nicht einmal Spuren unter den Nägeln, seit neustem entfernte er die braun – kotigen Reste dort mit seiner knallgelben Zahnbürste. Nicht auszudenken allerdings, wenn Mama bemerkte, dass er sich seit Tagen die Zähne nicht mehr putzte, igitt, sich vorzustellen, dass das Zeug da in seinen Mund käme. Eklig!

Das war auch echt doof gewesen, dass er Kens beste coole Lederjacke zum Verkleiden aus dessen Schrank in sein Zimmer geholt hatte. Natürlich wie immer nicht weggeräumt und dass dann auch noch das Schlimme passiert war. Manchmal hatte er einfach pech. Eigentlich immer! Fasziniert hatte er zugesehen, wie sich sein cremiges Dunkel in das wildgrüne Wildleder gegraben hatte, interessante Formen zutage traten. Ein Zwergnase über Kens Jackentasche entstand, so weich und warm, kuschelig fast und er hatte gelacht, Fratzen geschnitten, Zwergnase hatte immer andere Formen angenommen. Im Spiel konnte er sich vergessen. Eigentlich hatte er immer jemanden zum Spielen, also nicht wirklich, jetzt flunkerte er, aber er tat so. Zum Beispiel die Figuren auf seinem T-Shirt, die waren immer dabei. Er fand es sogar peinlich, wenn sie ihm beim Pinkeln zusahen, dann hielt er das T – Shirt so hoch, dass nichts Intimes sichtbar wurde.
Er war ein echter Pingel, sagte auch Mama. Und ein kleiner Spinner, meinte Ken. Oh je, wenn Ken seine Jacke finden würde! In der Mülltonne würde er nicht suchen und mit der alten Tischdecke darüber waren nur Umrisse zu sehen gewesen. Aber auf Mülltonne würde der nicht kommen. Und heute war es heiß, warum sollte er gerade heute seine Jacke suchen. Oder? Ken tat manchmal unberechenbare komische Dinge und irgendwie wusste der immer alles. Panik stieg in ihm auf. Wenn Ken jetzt käme, sein Herz pochte wild. Aber noch konnte er das nicht bemerkt haben und so schnell konnte er nicht hier sein. Diese scheiß Gedanken sollten endlich aufhören, Scheiß, Scheiß Angst, scheiß Kopf, sein Kopf sollte absein und die schlimmen Hände auch. Einfach ratsch. Er krallte sich noch tiefer in die Eisen, spürte ein Wummern unter sich, das ihn ganzkörperlich erfasste. Endlich.

„Der Wupperexpress von Hagen nach Aachen über Rheydt, Erkelenz, Lindern trifft wenige Minuten später ein.“

Entfernt hörte er die nüchterne Lautsprecherstimme. Immer kamen alle zu spät, schon wieder, jetzt sogar der Zug, auf den er so dringlich wartete. Papa war das eine mal auch zu spät gekommen, und dann hatte es Mama gereicht, einmal zuviel meinte sie. Und sie hatte gesagt, dass sie mit so einem Unzuverlässigen nichts mehr zu tun haben wolle. Da hatte der Papa geschrieen und getobt, aber genützt hatte es ihm nichts, die Mama hatte ihn und Ingo genommen, war zu ihrer Mutter gegangen, weggezogen und seitdem hatte er keinen Papa mehr. Also, jedenfalls nicht einen, den er sah. Mama sagte, dass Papa kleine Hosenscheißer wie ihn eh hasste. Deshalb hätte der Papa ihn früher verprügelt. Klar, wie sollte der Papa ihn auch mögen. Er könne froh sein, dass er ihm nicht mehr begegnete, denn wenn der ihn zwischen die Finger kriegte, meinte die Mama…

Wie er jetzt wohl aussah? Ein zarter Kinderkörper , Kopf und Hände abschnittbereit auf den scharfkantigen Schienen präsentiert. Unsinnig sah das aus, sinnlos wahrscheinlich. Ohne Sinn, wie so vieles. Darüber dachte er oft nach, über den Sinn des Lebens. Mama mochte das nicht. “Das sind doch keine Gedanken für ein Kind!“, schimpfte sie. Die Schwester im Krankenhaus hatte ihm lange zugehört und nachdenklich gefragt: „ Wie willst du einen Sinn finden, wenn du deine Sinne nicht nutzt und schätzt.“ Das klang spannend, die Sinne nutzen, sich selbst schätzen. Und komisch! An ihm war vieles komisch, er konnte sich die verrücktesten Geschichten ausmalen, mit Menschen, die Kreide mit Ketchup aßen und für die die Sonne ein Schatz war, nicht Geld, sondern einfach Sonnenwärme. Mama wollte diese Geschichten nicht hören. „Fängst du wieder an, müssen wir dich wieder wegbringen?“ sagte sie dann und dann war er ganz schnell still. Er wollte nicht wieder in dieses Krankenhaus. Obwohl die da ganz schön nett zu ihm gewesen waren. Und die Schwester hatte sogar seine Hände geküsst und gemeint: „Du hast wunderbare Hände, Junge, du bist so ein wunderbares Kind.“ Das hatte so doll gekribbelt in seinem Bauch, fast so wie bei dem Kuss von Isa, er war ganz wild durch die Krankenstation gehüpft. Unmerklich lockerte er seinen Griff, die Beine suchten nach Boden. Kaum hörbar formten seine Lippen immer wieder dieselben Worte: „Ich bin ein wunderbares Kind.“

Nicht nur zur Weihnachtszeit-Elternbeziehungen auf dem Prüfstand

Neue Beziehungschancen durch Perspektivwechsel?

Herr N., 32 Jahre erzählt: „Ich weiß jetzt, dass ich nie die emotionalen Eltern haben werde, die ich mir gewünscht habe, aber ich bin dennoch dankbar für die Versorgung und das, was sie mir als kleines Kind, bevor ihre psychischen Probleme und Ehestreitigkeiten überhand nahmen,  gegeben haben. Ich werde versuchen, mit diesen sozialen, versorgenden Eltern in Kontakt zu bleiben – seit ich meine emotionalen Erwartungen an meine Eltern aufgegeben haben, empfinde ich nach einer Phase der Trauer nun endlich inneren Frieden.“

Weihnachtstage sind für viele immer noch Familientage: und damit oftmals Krisentage. Gerade in der Vorweihnachtszeit, in der Familienbesuche und soziales Zusammenrücken groß geschrieben werden, geraten Menschen aus belasteten Familien unter besonderen Stress: „Soll ich meine Eltern öfter besuchen, soll ich den Kontakt zu meinen Eltern abbrechen oder diese Beziehung doch aufrecht erhalten?“… „Liebe ich meine Eltern oder hasse ich sie nicht eigentlich, nach allem, was sie mir angetan haben?“ “ Aber bin ich Ihnen das als Ihr Kind nicht schuldig, Sie sind doch meine Eltern?“ So und ähnlich lauten Fragen, die sich erwachsene Kinder aus belasteten Familien oftmals quälend stellen und auf die sie nur schwer im „Entweder oder“ Antworten finden. Harmonisch Weihnachten feiern im Kreise der Lieben, so wird uns nicht nur in der Werbung suggeriert, ist scheinbar das Normalste der Welt…Warum gelingt das so schwer? Beratungsstellen und Therapeutische Ambulanzen haben vor dem Fest der Liebe regelmäßig Hochkonjunktur. Menschen, die etwas durch ihre Eltern erlitten haben, fühlen sich, wenn sie sich distanzieren, allein und ausgegrenzt oder, wenn sie sich mehr in die Herkunftsfamilie begeben, in einer erzwungenen Harmoniefalle. Es scheint kaum einen Ausweg zu geben aus diesem Dilemma. Oft liegt diesem „Ich sitze in der Falle“-Gefühl“ eine „Entweder-Oder“-Sicht zugrunde. Die alte offene Rechnung mit den Eltern schmerzt und doch gibt es diese Sehnsucht nach Zuhaus…Herr N. hat viele Jahre des Trauerns, Zürnens und Verzweifelns mit seinen Eltern hinter sich. Was ist nun anders?

Die schwierige Suche nach dem „Und“

Manchen Betroffenen hilft es, einen Perspektivwechsel vorzunehmen. Sie sehen die Elternbeziehung differenzierter an. Sie betrachten komplexer, etwa nicht mehr ausschließlich den Mangel  oder nicht ausschließlich das Gute: was konnten die Eltern nicht geben und was vielleicht doch, trotz der familiären Belastung?   Viele Eltern-Kind-Beziehungen stecken im Hamsterrad der alten offenen Rechnungen fest: die Eltern geben etwa Materielles und definieren, wie undankbar ihr Kind für ihre zahlreichen Gaben sei. Die Kinder können die elterlichen Gaben kaum würdigen, scheint doch, so empfinden sie schmerzlich, weder ihre emotionale Leistung noch ihre kindliche Belastung anerkannt, noch bekommen sie heute die ersehnte emotionale Zuwendung,  in Form von Resonanz, Wärme und Zuwendung.

Nicht „einfach“- Ambivalenz

Wenn die Eltern-Kind-Beziehung belastet ist, dann fühlen Kinder oft auch noch als Erwachsene ambivalent: sie lieben und sie hassen, sie wollen sich distanzieren und haben doch große Sehnsucht nach elterlicher Zuwendung. Diese Ambivalenz gilt es anzuerkennen und auszuhalten. Einige negieren die Schattenseite, andere die, nennen wir sie hier „Lichtseite“, der Eltern.

Viele erwachsene Kinder  aus belasteten Familien fühlen sich zerrissen zwischen Licht- und Schattenperspektive, von Gefühlen, die sie als widersprüchlich und als ein „Entweder-oder“ empfinden. Manche finden bei genauerem Hinsehen ein „Und“, das in ihrer inneren Bewertung vorher kaum eine Rolle spielte. Oft wirken diese Sichtweisen gegensätzlich: sie wurden jedoch in der Regel beide erlebt. In unterschiedlichen Beziehungsphasen rückt dann jeweils nur die Lichtseite oder nur die Schattenseite in den Blick. In der Und-Perspektive wird manchmal beides möglich:  dass Eltern  materiell  unterstützten und das Kind doch  emotional zu kurz kam. Dass  es eine gute Versorgung  mit Essen und Trinken gab und   Kinder doch emotional unterernährt wurden: Sie waren etwa viel zu früh in der Elternrolle statt, dass ihre kindlichen Bedürfnisse befriedigt wurden (Kinder waren „Eheberater“, „Therapeuten“, „Mediatoren“ ihrer Eltern – unbezahlt, ohne Dank) und die Eltern  haben  eine freie, unkonventionelle Lebensform ermöglicht, geholfen,Träume zu realisieren etc..Herr N. kann sich nun nach jahrelangem Ringen mit den Eltern arrangieren- er beschreibt sich als versöhnt. Dieses „Versöhnen“, und darauf möchte ich ausdrücklich hinweisen, ist nicht „einfach so“, wie teils vollmundig propagiert, als positive Denkleistung „mal eben so“ möglich, sondern sie setzt, oft jahrelange Prozesse voraus, ein Anerkennen des Geschehenen, ein Durcharbeiten, ein Verstandenwerden, gehört-gesehen, getröstet werden.

Die radikale Annahme dessen, was ist, wie sie etwa im Zen propagiert wird (und von verschiedenen therapeutischen Richtungen, wie Gestalt-und Integrativer Therapie auch favorisiert wird, etwa Marsha Linehan), kann ein erster Schritt sein: Akzeptanz von scheinbar widersprüchlichen Gefühlen und Impulsen, die radikale Bestandsaufnahme, was die Beziehung zu den Eltern in ihrer Komplexität und vielleicht als widersprüchlich empfundenen Ganzheit eigentlich ausmacht: Licht und Schatten. Die Entdeckung des „Und“  anstatt des „Entweder oder“ kann  befreiend wirken.  Manche Beziehungen sind so stark belastet, dass der Kontaktabbruch als einziger Ausweg erscheint – das kann eine not-wendige Option sein, Zufriedenheit mit dieser Lösung bleibt oft jedoch aus (mehr dazu im Buch Barnowski-Geiser 2015: Vater, Mutter, Sucht).

Vielleicht ist das Weihnachtsfest für Sie eine Chance, zu beobachten, nach Licht und Schatten zu suchen und auch nach dem eigenen Maß, wieviel Herkunftsfamilie Ihnen gut tut.

Eine gute Vorweihnachtszeit wünscht

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

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Dr. Waltraut Barnowski-Geiser ist Therapeutin, Lehrende und Autorin. Vater, Mutter, Sucht (2015) und Hören, was niemand sieht (2009) sind ihre Bücher zur Thematik. In ihrer Praxis KlangRaum in Erkelenz bietet sie Hilfe für Menschen mit Kindheitsbelastungen auf der Basis ihres AWOKADO-7-Schritte-Programms an.

„Die eigene Würde retten!“ – von der Suche zwischen Wahrheit, Tabu und Lüge

Würde (so wie auch Würdigung und Wertschätzung), scheint, schauen wir auf manch eine belastete Familie, die über Jahre und Jahrzehnte eben ihren schweren Belastungen ausgesetzt war, oft leise und still, gleichsam klamm-heimlich verloren gegangen zu sein. Würde gleicht hier in diesen Familien einem Fremdwort, mit dem man nicht mehr viel anfangen kann, dass man sich, so scheint es, kaum leisten kann; beinahe scheint es Kindern nach vielen Jahren so, als würde sie den Menschen hier in ihrer Familie nicht einmal zustehen: die Ent-Würdigung ist zur Selbstverständlichkeit geworden. Was süchtige Menschen beispielsweise teils ihren Familien antun, überschreitet oft jede Grenze, oft auch jedes Vorstellungsmaß… und dabei denke ich nicht nur an körperliche Gewalt, sondern auch an verbale Dauerattacken, Kämpfe rund um das Aufrechterhalten des Tabus, das Ringen um Normalität, die beständige Suche in Sucht etwa, die die Angehörigen zu Statisten eines schleichenden Selbstmords degradiert… und das oftmals jahrzehntelange vergebliche Ringen auf Seiten mitbetroffener Kinder und Partner, doch noch gesehen und geliebt zu werden. Um diese Liebe zu bekommen, glauben diese erwachsenen Kinder, dass sie sich verbiegen müssten: Preis ist ihre eigene Würde, die sie zu verlieren drohen oder zumindest Teilaspekte derselben…die Selbstachtung nimmt schleichend Schaden.

Herrn M.s Mutter, so findet Herr M heraus, übersteht den Narzissmus und die Sucht des Vaters über Jahrzehnte, indem sie ihn einfach anders sieht als er ist. Nicht süchtig eben, sondern einfach großartig. Alles, was zu dieser, ihrer Wahrheit nicht passt, schneidet sie aus ihrer Wahrnehmung; sogar so weit, dass sie Menschen, die ihre Wahrheit als Lüge zu entlarven drohen, aus ihrem Leben verbannt. Anstatt ihre Sicht auf ihren Ehemann als Lüge zu sehen und in Frage stellen zu müssen, stellt sie diese Menschen, die Überbringer der „Wahrheit“ oder Realität, als Lügner hin. Herr M. erwartet, das seine Mutter dies endlich eingestehe, denn ihr Verhalten sei unter aller Würde: die Aufdeckung der familiären Wahrheit brauche er, so findet er heraus, um sich seinen letzten Funken von Würde zu bewahren. Er wolle nicht weiter, wie Jahrzehnte zuvor, mitspielen und heile Welt vorgaukeln. Gespräche mit seiner Mutter laufen erfolglos: immer deutlicher wird Herrn M., dass seine Mutter so stark in ihrer eigenen Identität verunsichert ist, so bindungsschwach und abhängig, dass eine realistischere Sicht auf den Vater ihr gesamtes Lebenskonzept erschüttern würde. Wenn der Sohn ihr diese weiter abverlange, werde sie eher den Kontakt zu ihm abbrechen, vermutet er…diesen Kontaktabbruch erwägt Herr M., wie er sagt selbst schon länger, um seine Würde nicht weiter zu beschädigen, er will endlich „die eigene Würde retten!“.

Viele chronisch belastete Familien stecken in einer Abhängigkeitsfalle, in der Wahrheit und Würde geopfert werden. Ein Ausweg scheint nicht in Sicht, solange die einzelnen Familienmitglieder nicht in der Lage sind, Hilfe zu suchen und mit Klarblick eigen-ständig schauen zu können. Es braucht Kraft, die Verblendung wirklich anzuschauen. Den Würdeverlust wahrzunehmen, ihn anzuschauen ist für Kinder aus belasteten Familien oft der 1. Schritt auf dem Weg zur Veränderung des eigenen Lebens. Dies erfordert Stärke, die oftmals nach jahrzehntelangem Kampf nicht mehr vorhanden zu sein scheint. Oftmals sind Lebenslügen und Verblendung Teil der Identität geworden, die Verstrickung bestimmt mehr und mehr über die einzelnen Familienmitglieder, ihre Sicht auf sich selbst, auf die Familie und die Welt.

„Die Würde scheint uns weniger bedroht, wenn die Lüge wegen der Größe der inneren Gefahr verzeihlich ist, wie bei einer verleugneten tödlichen Krankheit oder beim Eingeständnis einer Unfähigkeit, die für das Selbstbild vernichtend wäre. Dann denken wir: das kann man von niemandem verlangen. Lebenslügen… sollten nur dann als würdelos beurteilt werden, wenn dem Betreffenden die Stärke zugeschrieben wird, ihrer Auflösung standzuhalten.“ Bieri, Eine Art zu leben, S.226

Eigen-ständig Denken wird in belasteten Familien oft als Bedrohung wahrgenommen, die mit Ausschluss belegt wird: oft ohne Worte liegt die Ausgrenzung doch drohend in der Luft, ist Teil einer unguten Atmosphäre, Teil des familiären Klimas geworden.Wir kommen in der Arbeit mit familiendynamischen Aspekten immer an ethische Fragestellungen, mit denen viele erwachsene Kinder, oftmals Tag und Nacht, und doch wenig bewusst, befasst sind.

Vielleicht halten Sie kurz inne und schreiben etwas zu den nachfolgenden Fragen:

  • Welche Werte sind in Ihrer Familie bestimmend?
  • Und für welche Werte möchten Sie eintreten?
  • Was bedeutet für Sie Würde und was braucht Ihre Würde?
  • Für wen stellen diese Ihre eigenen Vorstellungen eine Bedrohung dar?

Der Philosoph Peter Bieri hat ein  Buch über die Vielfalt der Würde verfasst, das ich all denjenigen unter Ihnen empfehlen mag, die über schnelle Lösungen hinaus interessiert sind,  gern tiefer schauen…auch wenn sich das Buch nicht speziell auf belastete Familien bezieht und somit einen Transfer auf die eigene Situation erfordert, halte ich es für diese unsere Zielgruppe lohnenswert.

Eine Art zu leben

 

Eine gute Zeit

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

 

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Oh Gott, schon wieder Weihnachten!…wenn es „alle Jahre wieder“ Familienprobleme auf den Plan ruft

Gerade in Zeiten, wenn der Frieden in der Welt bedroht scheint, wird die Sehnsucht nach einem friedvollen Ort unendlich groß: ihre Familie, so wünschen die meisten Menschen, sollte ein solcher Ort sein. Ein Ort, an dem sie geliebt werden, so wie sie sind, ein Ort, an dem sie sich wohlfühlen können, ein Ort, an dem Resonanzen aufrichtig schwingen, ein Ort, an dem schlicht Frieden wohnt. Waren und sind jedoch die Beziehungen zu den Eltern schwierig und belastet, sogar mit Leiden angefüllt, dann wird der Besuch dieses Ortes oft als Gegenteil  erlebt: als Kriegsschauplatz etwa oder als ungeselliger rauer Ort,  an dem, so beschreiben es Betroffene, man keine Luft bekomme, die Atmosphäre  wie zum Zerreißen gespannt sei etc. Gerade Festtage, wie das bevorstehende Weihnachtsfest, die gemeinhin für Gemeinsamkeit in Harmonie stehen, können dann zu einer großen Belastung werden. Insbesondere, wenn schwere Wunden entstanden sind, werden die anstehenden Begegnungen nicht als Freude, sondern als schwere Lasten empfunden. Betroffene fühlen sich gefangen in einem Hamsterrad der offenen Rechnungen Mehr lesen

Was Betroffene  bei Feiertagsbegegnungen mit ihrer belasteten Herkunftsfamilie in Therapien als hilfreich beschreiben, habe ich für Sie in 5 Punkten zusammengefasst: (diese Hilfen sind allerdings nur dann erfolgreich, wenn die Situation nicht völlig verfahren ist)

1 Klar sehen und Akzeptieren

Akzeptieren und klar sehen, dass Ihre Herkunfts-Familie genau so ist wie sie ist. Ihre Einflussmöglichkeiten sind begrenzt. Reden Sie sich die Situation nicht besser oder schöner als Sie ist (und dramatisieren auch nicht unnötig, indem Sie in die Hilflosigkeit Ihrer Kindheit zurückfallen), um dann wieder und wieder Ungutes zu erleben, etwa wieder von einem Elternteil „angefallen“ zu werden: eigentlich wissen Sie, worauf Sie sich einlassen und können heute vorbauen. Einen besseren Experten für Ihre Familie gibt es nicht: nutzen Sie Ihre Expertise, werten Sie Ihre Erfahrungen aktiv aus, um sich ab sofort besser zu schützen.

2 Dosieren

Fragen Sie sich vorher: Wieviel Zeit kann ich in meiner Herkunftsfamilie zubringen, ohne  im Anschluss „völlig auf dem Zahnfleisch zu gehen“?…Dann ist es gut möglich, dass Sie bei ehrlicher Antwort nur zwei Stunden statt zwei Tage verkraften. Sorgen Sie für eine angemessene Dosierung oder mindestens für Auszeiten, ion denen Sie „raus“ sind, etwa allein spazieren gehen,o.ä.

Auch sind anstehende Großkampf- Auseinandersetzungen selten ein gutes Feiertagsprogramm…

3 Verbinden

Verbündete suchen, mit denen sie sich austauschen können, vorher und nachher oder auch am Telefon während des Besuches. Schauen Sie, mit wem Sie angenehmen Kontakt erleben, vielleicht mit den Kindern Ihrer Geschwister…Sie können heute bestimmen, wem Sie sich verstärkt zuwenden möchten. Wählen Sie nach Möglichkeit Menschen aus, die im Rahmen des Möglichen gut tun. Sind Sie allein mit einem schwierigen Elternteil, so kann es sinnvoll sein, Telefonverbündete vorher zu informieren und KOntakt im Dazwischen sicherzustellen…

4 Distanzieren

Aktivieren Sie Ihren inneren Beobachter, so wie Sie es in Meditationen und Kontemplationen auf diesen Seiten schon geübt haben.Eine wichtige Brücke dabei ist die Konzentration auf den eigenen Atem. Wenn Sie merken, dass  Sie sich unwohl fühlen, gehen Sie mit Ihrer Achtsamkeit zu sich selbst und verankern sich in Ihrem Atem. Kreative Menschen nutzen solche Situationen, um sie später als Geschichten zu schildern…manche Satire konnte so entstehen…auch Humor und ein humorvoller Blick können eine  Distanzierungshilfe sein

5 Umgestalten

Aktiv neu gestalten: Neue Feierformen ( etwa mit Freunden und Familie gemeinsam feiern oder an einem anderen Ort, an ungewöhnlicher Location), die ihnen mehr entsprechen.. Dies zeigte sich als ebenso hilfreich wie das Verändern von alten unguten Verhaltensweisen. Wenn Sie sich in ihrer alten Rolle und einem Familien-Muster gefangen fühlen ( „Du hast doch immer gute Laune!“ und dabei immerzu „schlucken, um harmonisch sein“..) kann es ein erster Schritt sein, ein bisschen anders zu agieren, auch mal zu zeigen, wenn Ihnen etwas nicht passt. Hier kann auch helfen, ein inneres Team zu aktivieren.

Natürlich kann in bestimmten Fällen ( insbesondere wenn die Eltern kooperations-und bindungsfähig sind) auch Ihre Einstellung, mit der Sie an den Besuch herangehen, einen wichtigen Beitrag leisten, etwa indem Sie Erwartungen von vorneherein reduzieren und Enttäuschungen vermeiden. Herr N., 32 Jahre, erzählt:

Ich weiß jetzt, dass ich nie die emotionalen Eltern haben werde, die ich mir gewünscht habe, aber ich bin dennoch dankbar für die Versorgung und das, was sie mir als kleines Kind, bevor ihre psychischen Probleme und Ehestreitigkeiten überhand nahmen,  gegeben haben. Ich werde versuchen, mit diesen sozialen, versorgenden Eltern in Kontakt zu bleiben – seit ich meine emotionalen Erwartungen an meine Eltern aufgegeben haben, empfinde ich nach einer Phase der Trauer nun endlich inneren Frieden.“

Ein Hinweis zum Schluss für traumatisierte Erwachsene: Wurden Sie durch Ihre Familie  traumatisiert, so muss ein Besuch äußerst gut überlegt, vorbereitet und dosiert sein: körperliche Symptome und psychische Gereiztheit sind dann oftmals Belastungssymptome, die sich unter Kontakt mit den Menschen, die ihnen Schlimmes angetan haben, verständlicher Weise verstärken. Dann gilt es, Ihre Symptome zu verstehen und übersetzen, sich ihrer anzunehmen anstatt sich zu bezichtigen, „unnormal“ zu sein.

Ich wünsche Ihnen eine gute, sinnerfüllte und friedliche Adventszeit.

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Wenn „immer Karneval ist“ und aus „falsch“ „richtig“ wird: wie Erfahrungen mit (sucht-)belasteten Eltern Ihre Bewertungen beeinflussen

„Bei uns zu Hause ist immer Karneval!“, lacht der Kleine (von seinen Lehrern in die Beratung geschickt wegen fehlender Impulskontrolle und unangemessenem Verhalten gegenüber seinen Mitschülern) und beschreibt damit treffend, wie seine Sucht-Familie lebt: mit ständig wechselnden Regeln, die, wenn Papa trinkt, komplett außer Kraft gesetzt sind, alles ist erlaubt… um diese Regeln allerdings dann, wenn der Vater mit dem Trinken aufgehört hat, unter Strafandrohungen wieder einzufordern. Wertungen und ethische Prinzipien werden hier immer wieder in Frage gestellt. In seiner Familie, so erzählt Herr S., Sohn eines Alkoholikers, seien alle Werte vom Alkohol bestimmt gewesen: Menschen wurden als „gut“ eingestuft, wenn sie viel Alkohol anboten und tranken, Nichttrinker galten als zu vermeidende schlechte Menschen- sie provozierten den Vater und wurden folglich gemieden. Solche Erzählungen von Betroffenen muten teils absurd an: und genau diese Absurdität stellt die Lebenswelt der Kinder und erwachsenen Kinder aus belasteten Familien dar.

Die dritte Säule der Identität, die die Normen und Werte betrifft, ist somit, wenn derartige Belastungen sich durch die gesamte Kindheit oder mehrere Jahre ziehen,  stark beeinträchtigt. Betroffene wissen in der Folge nicht mehr, was richtig und falsch, was gut oder schlecht ist: ihre eigenen Bewertungen schwappen ähnlich unsicher hin und her, wie sie es vormals bei ihren Eltern erlebt haben. Vielleicht ist falsch ja richtig, fragen sie sich, und irren kernverunsichert durch ihr Leben, jede noch so kleine kleine anstehende Entscheidung erleben sie dann als große Herausforderung.

 Nina, 17 Jahre, erzählt wie sich ihre Kernverunsicherung in den Alltag webt, hier bei ihrem Zahnarztbesuch: wegen einer  Kieferfehlstellung wurde ihr eine Zahnklammer angepasst. Sie sollte fühlen, ob diese Klammer sich nach dem Einsetzen richtig anfühle. Sie habe weinen mögen, erzählt sie, denn darauf hätte sie keine Antwort gehabt…Wie sollte Nina das auch beantworten können: ihr Kiefer hatte noch nie in der richtigen Position gestanden….Falsch ist für Nina zu richtig geworden. So verhalte es sich auch mit ihrer Gefühlswelt, beschreibt sie aufgeregt….

Wie Nina ergeht es vielen Kindern aus belasteten Familien: wenn tatgtäglich zu Hause Dinge passieren, die eigentlich unmöglich, übergriffig und unwürdig sind, diese aber keinerlei Beachtung oder Sanktion erfahren, kein Entsetzen und kein Aufschreien, keinen Trost und keinen Zuspruch, dann wird  das Übergriffige und eigentlich Unmögliche zur Normalität. Erst im Kontakt mit anderen, etwa nichtsüchtigen Familiensystemen, bemerken die Betroffenen, dass es andere Wertungen und ethische Prinzipien gibt: eine Kernverunsicherung mit großer Lebensunsicherheit ist dann oftmals die Folge. Es gibt einen Weg aus diesem Dilemma, wie sich in der Arbeit mit erwachsenen Betroffenen zeigte: sich mit  Wertvorstellungen und Sinnfragen aktiv zu beschäftigen,  eigene Werte zu definieren, zu ändern oder auch zu stärken, die eigene innere Stimme zu aktivieren, stellt dann eine Kernaufgabe für Betroffene dar. Wenn diese angegangen wird, zeigt sich das Leben oft aus neuer, eigener Perspektive, es wird sinnig-er und stimmig-er.

Ich wünsche Ihnen eine gute Karnevalszeit, wie auch immer Sie diese gestalten. Vielleicht mögen Sie die Tage nutzen als einen Freiraum, sich mit ihren Werten zu beschäftigen…oder mit der Frage Ihrer Identität, indem Sie Papierpilgern, wenn Sie diese kreative Selbsterfahrung aus der Vorweihnachtszeit noch nicht probiert haben

In der nächsten Woche erzähle ich Ihnen zur dritten Säule der Identität gern mehr und auch zu meinem neuen Buch, das ich gemeinsam mit meiner Tochter geschrieben habe. Ich freue mich auf Sie!

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

 

Ein Schritt zurück: Ihr persönlicher Fortschritt

In unendlichen Diskussionen gefangen, nichts geht mehr, immer gleiche Gedankenstränge und keine Lösung in Sicht? Insbesondere, wenn Menschen auf andere mit vertrauten Kindheitsmustern treffen, etwa auf die eigenen Eltern, scheinen alle wie in einem dichten diffusen Knäuel gefangen.Manchmal hilft es dann, einen Schritt zurückzutreten. Abstand gewinnen und aus der verschlingenden Nähe herausgehen. Probieren Sie es bei nächster Gelegenheit aus, indem Sie den Schritt zurück konkret im Raum tun: manchmal kann  ein Schritt zurück einen entscheidenden Perspektivwechsel herbeiführen. Einen Abstand herstellen, aus der Distanz schauen, Atmen. Zum Beobachter der Situation und der eigenen Gefühle werden, Achtsamkeit zwischen Reiz und Reaktion legen. Agieren Sie gerade so, wie es Ihnen wirklich entspricht? Was brauchen Sie, um ihnen gemäß zu handeln? Lassen Sie sich Zeit, geben Sie Raum: Der so gestaltete „Schritt zurück“ kann wichtige Veränderungen zwischen ihnen und anderen einleiten, ihren persönlichen Fortschritt in Beziehungen einleiten.

Und auch bei anstehenden Entscheidungen kann dieses Innehalten, nicht gleich entscheiden und tun Müssen, zentral sein: Raum und Zeit für die eigenen Beweggründe, mit Abstand anschauen und bewerten statt sich im Meer der vielen Stimmen fortschwemmen  zu lassen.  Achtsamkeit, der erste Hilfefaktor aus dem AWOKADO-7-Schritte-Programm,  wurde von vielen Menschen aus belasteten Familien als stützender Faktor zum „Jetzt besser leben“ beschrieben. Weitere Übungen und Artikel auf dieser Seite (s.a.Kreativ-Coaching) und im Buch „Vater, Mutter Sucht“.

Vater, Mutter, Sucht.Wie erwachsene Kinder suchtkranker Eltern trotzdem ihr Glück finden

Kinder suchtkranker Eltern finden wenig Beachtung.Die Sucht von Vater oder Mutter ist tabu, das Leiden der Kinder ist tabu.Das bleibt oft auch so, wenn die Kinder erwachsen werden.Mit diesem Buch wird das Schweigen durchbrochen: Betroffene kommen selbst zu Wort. Differenzierte Einblicke in die Dynamik der Suchtfamilie. Zahlreiche Anregungen und Übungen bieten Hilfestellung und kreatives Selbstcoaching nach dem von der Autorin entwickelten AWOKADO-7-Schritte-Programm. Rollenmodelle mit Selbsttest.

2.Aufl. 2019 Klett-Cotta.141 Seiten, 17€,

„Ihr Programm (AWOKADO) hält Lösungen bereit…Vielen Dank für dieses tolle Buch, das der vielschichtigen Problematik „Sucht“ und allen Beteiligten mit Respekt und Würde begegnet.

Beate Dapper musik-redaktion.Gesamte Rezension hier

Ins Ungarische übersetzt, Budapest 2018. Zur ungarischen Ausgabe Apa,Anya, Pia

Von Tabu und Täuschung

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Menschen aus belasteten Familien fühlen sich oftmals einsam und nicht zughörig. Zugehörigkeit zu finden wird dann eine bestimmende Lebensaufgabe.Oftmals haben diese Gefühle ihre Wurzeln in Kindheitstagen.Familien, die im Tabu gefangen sind, entwickeln eine eigene Dynamik.Die familiäre Wahrnehmung wird so ausgerichtet, dass das Tabu und die Täuschung in jedem Fall  aufrecht erhalten werden kann.Daran arbeiten alle Familienmitglieder mit, dieser Prozess läuft meist unbewusst ab. Besonders tragisch gestaltet er sich für all diejenigen, die sich in ihrer Familie um das Aussprechen der Wahrheit bemühen. Da sich das tabuisierende System bedroht fühlt, geraten diejenigen Familienmitglieder, die um Wahrhaftigkeit ringen, an den Rand des Systems: sie gelten als Sündenböcke, als Verräter, paradoxer Weise sogar als „nicht richtig“, „nicht glaubwürdig“. Wenn dieser Prozess über wichtige Jahre in der Kindheit anhält, wird die familiäre Fremdzuschreibung den betroffenen Familienmitgliedern zur eigenen Sicht, sozusagen zur zweiten Haut. MIt dieser Selbstzuschreibung gehen sie künftig in andere Systeme Gruppen, in Klassengemeinschaften, in eigene Familienbeziehungen usw.: ein zu schwerer kindlicher Rucksack, der kaum alleine zu tragen ist!

Wenn gestern nicht einfach vorbei ist… Schwierige Kindheitstage trotzdem überwinden!

Wenn Menschen als Kinder in ihren Familien Ungutes erlebt haben, und das oftmals über Jahre hinweg, manchmal von Geburt an, dann trifft der Ausspruch „Vorbei ist vorbei!“ bei ihnen oftmals einen sehr empfindlichen Nerv. So wahr diese Aussage, (oftmals von Angehörigen oder Freunden sogar durchaus gut gemeint) auch an den aktuellen Fakten gemessen sein mag, so wenig hilft sie Betroffenen: denn ihr tägliches Erleben ist ein anderes. Sie fühlen sich oftmals innerlich, scheinbar grundlos, ängstlich, überfordert und hilflos, und das, obwohl sie im Außen oftmals Ungeheures leisten.

Was passiert genau bei diesen Menschen? Lassen Sie uns, um das genauer zu verstehen, neurowissenschaftliche Erkenntnisse zu Rate ziehen. Wir wissen heute (und natürlich sind Beschreibungen für diese hochkomplexen Vorgänge zwangsläufig sehr vereinfachend), dass unser Gehirn sich so aufbaut, wie es genutzt wird. Die Verschaltung der Synapsen ist also nutzungsabhängig,  bestimmt von anschwellenden und abschwellenden Erregungspotenzialen. Das gilt auch, so beschreibt es etwa Gerald Hüther in seinem Buch „Biologie der Angst“, für emotionale Verschaltungen. Wenn also ein Kind in eine Familie hineingeboren wird, in der die Eltern große eigene Probleme haben, dann wird es schon als Säugling viel davon mitbekommen, dazu in Resonanz gehen. Wir wissen heute aus entwicklungspsychologischen Forschungen, dass schon Säuglinge viel mehr wahrnehmen als wir je angenommen haben: auch Atmosphären, Stimmungen, Emotionen. Stellen wir uns eine Familie vor: vielleicht  lebt hier ein suchtkranker Vater, der, wenn er trinkt laut wird und Streit anfängt, täglich über sich die Kontrolle verliert und eine Mutter, die sich liebevoll um ihr Baby kümmert, aber durch die Probleme mit dem Ehemann gereizt und an ihren Grenzen der Belastbarkeit angekommen ist: all dies wird ihr Baby mitbekommen, Angst und Schrecken gleichsam mit der Muttermilch aufsaugen. Auf das Wahrgenommene kann das Baby unterschiedlich reagieren: eine Möglichkeit zu reagieren kann sein, Angst zu entwickeln. Aus dieser befeuerten Hirnspur der ersten Lebensmonate, der verschalteten Synapsenspur der Angst, wird leicht ein breiterer Hirnweg, wenn er künftig täglich genutzt wird. Wird, um im Bild zu bleiben, die Angstspur lange Zeit und wiederholt gefahren (etwa weil die Sucht und die damit vorhandenen familiären Probleme stärker werden),kann sie zu einem breiten Trampelpfad, einer regelrechten Hirnautobahn werden. Wird diese Autobahn über Jahre, gar Jahrzehnte so weiter genutzt, dann kann es passieren, dass unser Säugling, nennen wir ihn hier Suchtkind, auch als erwachsene Frau mit 40 oder gar 60 Jahren alltäglich auf dieser Angstautobahn fährt. Sie hat den Eindruck, gar nicht anders fahren zu können. Scheinbar hat sie grundlos Angst, gibt es doch aktuell gar keinen Anlass zu Ängsten und Sorgen. Frau Suchtkind fühlt sich nun ihren Gefühlen hilflos aufgeliefert.Doch das heutige Gefühl ist nicht sinnlos, auch wenn Frau Suchtkind es berechtigter Weise als unangenehm empfindet: dieses Gefühl macht unsere Frau Suchtkind darauf aufmerksam, dass das früh als Kind Erlebte heute Hinwendung und Zuwendung verlangt.

Nicht mehr Fühlen – auch ein (Paar)-Problem
So wie sich Frau Suchtkind ständig sorgt und ängstigt, gibt es andere Menschen mit unguten Kindheitserfahrungen, die andere Bewältigungsstrategien gefunden haben: sie fühlen nicht mehr. Gefühle, das haben sie bemerkt, sind ungeheuer schmerzhaft. Damit soll Schluss sein! Sie wollen sich nicht mehr erschüttern lassen. Dieser Vorgang läuft nicht bewusst ab, sondern ist oftmals ein Schutzmechanismus der Seele, den Betroffene selbst nicht einmal bemerken,Oftmals bemerken sie erst erst durch die Rückmeldungen von anderen, dass etwas problematisch und nicht ganz in Ordnung ist. Die Partnerin etwa drängt: „Mach mal Therapie, ich komme nicht an dich heran!“ Eine neuerliche Verzweiflung. Sich mit diesen schlimmen Erfahrungen auf einen fremden Menschen einlassen, gar einen Therapeuten, wo sich Betroffene selbst schon manchmal fragen, ob mit ihnen noch alles stimmt. Dann besser nichts machen! Und nun stecken sie fest. Derart Betroffene und ihre Partner stecken oft in Krisen fest, die von großer Sprach-und Hilflosigkeit gezeichnet sind. Neben Angst und Gefühllosigkeit, Scham und Schuld, leidet dann mit der Zeit vor allem eines: das eigene Selbstwertgefühl. Die Lebensqualität leidet, Betroffene bleiben unter ihren eigenen Möglichkeiten zurück- sie sind unzufrieden, fühlen sich diffus unzulänglich – ihr Umfeld leidet oft mit.Und wieder droht eine Familie unglücklich zu werden, so wie es die Betroffenen aus ihrer Herkunftsfamilie kennen- und gerade das wollten sie in ihrem Leben doch unbedingt vermeiden. Ein Teufelskreis.

Der erste Schritt aus dem Dilemma
Was kann aus diesem Dilemma heraushelfen? Der erste Schritt ist der schwierigste: er bedeutet, wahrzunehmen, was wirklich los ist. Dazu gehört viel Mut. Vielleicht brauchen Sie dabei Unterstützung. Einen Menschen, der die Belastungen, die sie getragen haben, würdigen kann, aber der auch mit ihnen einen Blick auf Ihre Stärken und das, was sie bis heute geschafft haben, werfen kann.  Die Würdigung der Belastungserfahrung und die Würdigung der eigenen Stärken, die sie aus und in diesen Krisen entwickelt haben, beschrieben Menschen in meinen efragungen als einen der wichtigsten Hilfefaktoren, sich besser und entlasteter zu fühlen (Barnowski-Geiser (2015): Vater, Mutter, Sucht). Kreative Wege eröffnen Möglichkeiten, sich diesen Stärken anzunähern. Sie ermöglichen uns, neue Hirnspuren zu ebnen und Abfahrten von der alten Autobahn. Da folgt der zweite Schritt, der im Angesicht von schwierigen Kindheitserfahrungen zugegeben sehr schwer ist: Sie müssen an die Möglichkeit der eigenen Veränderung glauben!