„Sei, was wir brauchen!“ -Wie Ihre familiären Beziehungen prägen, wer Sie heute sind

„Gewöhnlich haben wir die Familie als den Ort betrachtet, an dem wir Liebe, Verständnis und Unterstützung finden können, selbst wenn alles andere versagte. Sie ist der Platz, an dem wir uns erfrischen können und an dem wir auftanken, um mit der Welt draußen besser fertig zu werden. Aber für Millionen belasteter Familien ist das ein Mythos.“ (Satir 1993, S.27)

Kinder belasteter Eltern sehen es als ihre Aufgabe an, ihre unglücklichen Eltern glücklich zu machen: Diese Tatsache hat vielschichtige Folgen, die Betroffene bis ins Erwachsenenalter prägen können: das, was die anderen brauchen, ist so wichtig, dass betroffene Kinder sogar für sie existenzielle Bedürfnisse bei sich selbst übergehen, um den belasteten Elternteil glücklich und zufrieden zu machen… und dieses Beziehungsmuster im nicht seltenen Fall mit in ihre weiteren nahen Beziehungen im Erwachsenenalter nehmen. Sie scheinen sich selbst verloren gegangen zu sein.

Wie kommt es dazu? Die Antworten sind vielschichtig, ein Blick auf die Situation der Familie lohnt sich. Belastete Familien befinden sich oftmals in Dauerkrisen, in denen sie zusammenrücken müssen; oft entsteht eine besondere Abhängigkeit, ein besonderes Angewiesensein aufeinander, manchmal ohne emotionale Nähe und Liebe, die die Kinder benötigen. Diese enge Anbindung, die Minuchin Ende der 70er Jahre als familiäre „Verstrickung“ beschrieb, wurde als sehr problematisch für die Entwicklung des Individuums angesehen.IN diesem Feld hat die systemische Forschung viel Pionierarbeit geleistet.

„Aber in der verstrickten Familie geht das Individuum gewissermaßen im System verloren. Seine individuelle Autonomie ist so schwach definiert, dass ihm ein Funktionieren auf individuelle und eigene Weise so gut wie unmöglich gemacht ist.“ (Minuchin/Rosman/Baker 1978, S.43f).

Es entwickelt sich eine belastete Famlienstruktur mit einer eigenen Dynamik, sie nimmt Einfluss auf die gesamte innerfamiliäre Kommunikationsstruktur. Die verstorbene Familientherapeutin Virginia Satir beschreibt vier Formen der gestörten Kommunikation: Beschwichtigung, Anklage, Rationalisieren und Ablenken. Diese Formen begegneten mir besonders in der Arbeit mit Familien, die sich in der Phase der tabuisierten schleichenden oder/und chronischen Belastung befinden (Phasen nach Barnowski-Geiser 2009).

Beschwichtigung zeigt sich insbesondere in der Form, Empfindsamkeit zu entwerten. Sie gipfelt in Äußerungen wie „Ach, die x ist einfach so ein überempfindliches Kind!“

Rationalisieren zeigt sich oft, indem Eltern in therapeutischen Gesprächen dem Erleben des Kindes wenig angemessen erscheinende Vorträge halten. Äußern die Kinder Gefühle und weinen, zeigen sich diese Eltern in der Interaktion zu ihren Kindern seltsam erstarrt und unerreichbar, wenig tröstlich: sie rufen das KInd zurück zur Vernunft.

Anklagen Besonders bitter für Kinder werden Strukturen, die sie zum „Angeklagten“ machen; oftmals um von familiären Problemen abzulenken. Dies passiert etwa dann, wenn Eltern einen Konsens finden, etwa die Suchtbelastung und familiären Probleme weiterzuleben, ohne sie öffentlich werden zu lassen. Kinder übernehmen hier teilweise sehr selbstverständlich die Rolle des „Sündenbockes“, in die sie gedrängt werden. „Wenn Anna nicht so viele Probleme in der Schule häte, müsste ich nicht trinken“, lautet die elterliche Logik, teils vom Partner mitgetragen.

Ablenken: Während Dramatisches und Schlimmes passiert, das eigentlich die gesamte Aufmerksamkeit aller erfordert, wird der Fokus auf eigentlich Nebensächliches gerichtet, etwa“Die Kinder haben ihre Pflichten nicht erfüllt, den Essenstisch nicht abgeräumt“ etc.

Und zugleich gehen die Auswirkungen in den belasteten Familien weit über die Kommunikationsstruktur hinaus: die beschriebene Dynamik des Familiengeheimnisses bringt Resonanzmuster hervor, in denen das Eigene teilweise zugunsten der Systemschwingung aufgegeben werden muss. Betroffene spüren von Klein auf, dass sie vor allem im System einen guten Platz finden, wenn sie sind, was das System braucht. Sie leben in erzwungenen Resonanzräumen, in denen sie irgendwann vergessen haben, dass sie eigene Bedürfnisse haben und erfüllen müssen, vergessen, wer sie eigentlich sind… weil sie es schlichtweg vergessen mussten.

Die Frage: Was brauche ich? muss in diesen Fällen als neue Orientierung von Tag zu Tag gestellt werden, die Erfüllung der Bedürfnise kleinschrittig geübt werden. Probieren Sie es vielleicht in der nächsten Woche aus, nehmen Sie diese wichtige Frage als Begleiter mit in Ihre Woche, auch wenn Ihre Eltern oder Partner erkrankt und bedürftig sind…und das ist, wenn Sie zu den Betroffenen erwachsenen Kindern gehören, wirklich eine schwierige Übung!

Eine gute Woche

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Wer bin ich…Grübel-Denker, Dauer-Fühler oder Körperfanatiker?

Wenn wir uns fragen, wer wir sind, wenn wir uns mit unserer Identität beschäftigen, dann können wir das auf vielfältige Weise tun: alle Wege entspringen letztlich einer Vorstellung, einem Modell: nie sind diese Modelle die Wirklichkeit selbst, sondern sie sind lediglich HIlfsmittel und Abbilder. Eine Herangehensweise, ein in der Praxis  erprobtes Denkmodell, ist das Modell der „Säulen der Identität“ nach Hilarion Petzold, mit dem Sie sich in meinem Blogbeitrag zum Jahreswechsel anhand von geleiteten Fragen beschäftigen konnten.

Wenn wir in einer belasteten Familie aufgewachsen sind, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, sich besonders intensiv mit der Frage nach dem „Wer bin ich?“ ( manche nennen es auch das „Selbst“) zu beschäftigen:  wer in seiner Familie lernen musste, sich selbst möglichst nicht wahrzunehmen und zu spüren, wer zu früh viel zu große Aufgaben, nämlich die der Erwachsenen, übernehmen musste, wer Dinge schulterte, denen er nicht gewachsen sein kann, der verliert leicht den Zugang zu sich selbst. Er weiß dann vor allem viel über die Bedürfnisse seiner Mitmenschen, seiner Eltern und Geschwister, aber wenig über sich selbst: sich selbst zu finden, das eigene Wollen, Wünschen, das rechte Maß usw. zu finden, wird dann oftmals eine Lebensaufgabe, die bis in das hohe Erwachsenenalter hineinreicht. Bei manchen dauert der vernebelte Blick auf die familiären Schwierigkeiten sogar ein Leben lang an: der Zugang zum Ich, zum Eigenen, scheint chronisch verwehrt.

Als stark beeinträchtigt empfunden wird dann die leibliche Säule der Identität. Insbesondere das Zusammenspiel zwischen Körper, Seele und Geist (in der leiborientierten Therapie auch mit dem altertümlich klingenden Begriff  Leib bezeichnet) funktioniert nicht gut, d.h. Betroffene erleben sich teils abgeschnitten, Ihnen fällt es schwer, alle  leiblichen Teile wahrzunhemen, geschweige denn sie in für sie günstiger Weise zusammenspielen zu lassen. Gehäuft tritt eine Unterbrechung zur Gefühlsleitung auf: wenn diese Betroffenen nach ihren Gefühlen forschen, so empfinden sie zunächst einfach „nichts“. Das Nichtfühlen ist hier an die Stelle der allzu negativen Gefühle gerutscht. Ebenso ist oftmals die Kontaktleitung in den Körper unterbrochen, dieser wird erst dann wahrgenommen, wenn er sich krank verweigert und Alarm schlägt. Oftmals sind die Denker dann, so beschreiben sie sich selbst, „immer im Kopf“. Halten wir fest: die leibliche Säule funktioniert nur dann gut, wenn alle Teile miteinander kooperieren können. Ins Extrem überzeichnet können wir drei Typen unterscheiden:

Denker grübeln und grübeln, stürzen sich verständlicher Weise meist auf Hilfen, die Ihnen noch mehr Kontrolle über das Denken ermöglichen,

 „Fühler“ fühlen sich oft von ihrem Gefühlsreichtum überflutet und sitzen hartnäckig in ihren Gefühlen fest (und weigern sich manchmal diese mit in ihr Denken einzubeziehen)

Körperorientierte sind oft einseitig nur noch mit dem Körper und seiner Präsentation befasst, sie richten ihr Leben extrem auf die Kontrolle über ihren Körper aus: wie die elterliche Sucht etwa wird nun der eigene Körper zum wechselhaften Schlachtfeld der Extreme von Kontrolle, eiserner Disziplin und schuldhaft erlebtem Versagen. Hier ist der Körper „Markenzeichen“, wenig Wohlfühlstätte.

Wenn Ihnen die Beantwortung der Fragen zu Ihrer leiblichen Säule teils schwer fielen, so kann dies wertvolle Hinweise über ihr individuelles Zusammenspiel von Körper, Seele und Geist liefern. Schauen Sie vielleicht die Beantwortung zur 1. Säule noch einmal mit diesem Blickwinkel an und erhalten so Aufschluss, ob sie sich zu den Denkern, Fühlern oder Körperorientierten zählen. Beginnen Sie behutsam, die jeweils anderen Bereiche achtsam mehr in Ihr Leben einzubeziehen: die Belastung Ihrer Kindheitstage kann Spuren hinterlassen haben, aber diese sind nicht unveränderbar: Jetzt besser leben!

Ziel in der leiborientierten Arbeit ist Integration.

„Manchmal dachte ich, ich werde mit diesen Trinkern um mich herum verrückt…Mir half, glaube ich Sinnlichkeit, mit allen Sinnen in die Natur gehen, zu riechen, zu schauen: dann wusste ich, dass es mich noch gibt.“ (Frau E., 37)

„Ich stehe morgens auf und frage mich, was ich heute spüre, wie es mir jetzt geht. Das erfordert täglich meinen Mut. Früher hätte ich vor meinem Inneren davonlaufen mögen. Heute muss ich mich nicht mehr übergeben, es klingt verrückt, dass ich mich erst jetzt kennenlerne. Im Alter von 42 Jahren beginnt mein Leben mit mir!“ ( Frau L., 42 Jahre)

Herzliche Grüße

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

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Mutter Teresa und co…zwischen Selbstaufgabe und Hilfe

Sie bemerken es schon lange? Das Wohl der anderen stellen Sie über Ihr eigenes, Sie kreisen ständig in Gedanken um einen Menschen ( etwa einen Süchtigen), um den sie sich sorgen? Sie denken, obwohl alles dagegen spricht, dass Sie ihn durch ihr Verhalten erretten können? Dann sind Sie vermutlich in eine abhängige Situation geraten, in der sie die Rolle der selbstlosen Mutter Teresa übernommen haben ( weitere Rollen mit Test in Vater, Mutter, Sucht/Barnowski-Geiser 2015). Mit seinem Buchtitel „Ich will mein Leben zurück“ bringt es der Autor und Psychologe auf den Punkt: selbstlose Angehörige treffen auf selbstsüchtige Süchtige. Darin liegt eine große Gefahr: „Wer ständig selbstlos ist, ist sich irgenwann selbst los.“(Barnowski-Geiser 2015).

So wichtig Hinwendung und Mitgefühl für andere ist: wenn der andere „ein Faß ohne Boden“ ist, kann dieses Helfertum zur schweren Bürde werden und letztlich krank machen. „Werden Sie wieder Sie selbst“, überschreibt Jens Flassbeck und bietet konkrete Hilfen aus seiner umfangreichen Praxis in der Suchttherapie von Angehörigen an. … ein lesenswertes Buch.

Herzliche Grüße und eine gute Woche

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

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