„Spinn ich?“Körpersprache für Kindheitsbelastete/ Teil 2
Ich bin Zeit meines Lebens krank gewesen und habe mich auch so gefühlt. Stimmige Diagnosen gab es kaum – meine trinkende Mutter habe ich überall verschwiegen. Das war mir sehr peinlich. Ich war ein Glanzkind, das zu strahlen hatte für meine Eltern. Erst als ich nicht mehr schlafen konnte und mich permanent übergab, bemerkte ich, dass mein Körper nicht mehr mitspielt. Dann fragte ich mich: Spinn ich? Bin ich wirklich krank oder bin ich verrückt?“ (Frau N., 35 Jahre) (zit. nach Barnowski-Geiser/2009: Hören, was niemand sieht)
Für Menschen mit Kindheitsbelastungen sind eigene Erkrankungen oftmals besonders belastend, geraten sie doch durch Krankheit zusätzlich in eine enorme Schuldverstrickung. Wie entsteht diese ungute innere Verstrickung: Erst mit etwa 12 Jahren nehmen Kinder Schmerzen nicht mehr als etwas von außen Kommendes wahr, sondern identifizieren diese als körperliche Empfindung. „Bis dahin können Kinder Krankheit als Bestrafung für eigenes Fehlverhalten erleben und sogar Krankheitssymptome verschweigen, weil sie sich deswegen schuldig fühlen.“ (Plahl/Koch-Temming 2005, S.114) Wird dieser Mechanismus nicht aufgelöst, so kann der Vorgang, sich die Schuld für die eigene Erkrankung zuzuweisen, auch im Erwachsenenalter wirkmächtig bleiben.Es handelt sich somit im unguten Fall einerseits um einen innerpsychischen Vorgang, andererseits um eine familiäre Dynamik. Dies gilt besonders in Familien, in denen Eltern erkrankt sind sind und für Erkrankungen, die wenig greifbar scheinen oder in die „psychosomatische Ecke“ abgetan werden.
We Wenn alles Alarm schreit: das Vegetativum als Sprachrohr
Wie wir schon in anderen Ausführungen sehen konnten, ist das Stressniveau von Menschen mit belastenden Kindheitserfahrungen teils chronisch erhöht. Besonders stressanfällig zeigt sich das vegetative Nervensystem, das bei außergewöhnlichen Beanspruchungen eine besondere Beziehung zum Schmerz aufrechterhält. Alarmreaktionen führen zur Energetisierung der Steuerungssysteme. Wie bei Schreck und Schocksituationen wird das limbische System aktiviert und zum Sympathikusnerv geleitet. Jede Alarmreaktion erfordert höchste Aufmerksamkeit. „Wenn die Belastungen jedoch zu stark sind oder zu lange andauern, wird das Vegetativum in seinen regulativen Fähigkeiten überfordert und seine psychophysiologischen Funktionen entgleisen.“ (Seemann 1998, S.37) Betroffene bemerken Fehlreaktionen im Entstehen eines Symptoms. ,,Ein solches Symptom jedoch hat nur die Funktion aufmerksam zu machen und zu warnen und ist noch keine psychosomatische Störung im eigentlichen Sinn. Wenn allerdings solche Symptome nicht bemerkt oder nicht wichtig genommen werden, so können daraus funktionelle Befindlichkeitsstörungen entstehen, die ein Gefühl von Kranksein hervorrufen, ohne dass eine Krankheit zu diagnostizieren wäre.“ (Seemann 1998, S.37)
Unter psychosomatischen Rhythmusstörungen zeigen sich etwa bei Erwachsenen aus Suchtfamilien besonders Anspannungsstörungen und vegetative Entgleisungen. Erwachsene Betroffene zeigten zum Teil chronische Erschöpfungssyndrome, insbesondere dann, wenn in selbst gegründeten familiären Systemen weitere Belastungsfaktoren wie chronische Erkrankungen von Kindern, Partnern auftrat oder auch weitere Suchtbelastungen . Klagen von Klienten über ihre Leiden sind eher selten- erst wenn die körperliche Situation zugespitzt und nicht mehr zu übergehen war. Eine Aufgabe in der therapeutischen Arbeit ist zu lernen, sich dem Körper überhaupt zuzuwenden und ihn nicht nur als verräterischen Feind zu betrachten. „Abschließend können wir sagen, dass das vegetative Nervensystem ein potentes, kraftvolles und intelligentes Funktionssystem ist, das seine Regulationsaufgaben autonom erfüllen kann – vorausgesetzt, die Umgebungsbedingungen sind nicht über zu lange Zeiten zu belastend und vorausgesetzt, wir stören es nicht durch uneinsichtiges Verhalten oder schockieren es massiv.“ (Seemann 1998, S.63) Da für Betroffene diese „Einsicht“ oftmals im Bereich des familiären Tabus liegt, stellt eine „Zusammenarbeit“ mit dem Körper eine entsorechend schwere Herausforderung dar. Bezeichnenderweise treten viele Störungen erst nach den Extrembelastungen auf, etwa wenn die Gefahr der schleichenden oder akuten Suchtbelastung vorüber ist: Offenbar sind die Verarbeitungssysteme Betroffene in der Lage, zunächst den existentiell bedrohlichen Ereignissen den „Vorrang“ zu lassen
Bleibt Krankheit über längere Zeit unerhört, kann das nachhaltig negative Folgen haben: Die Folge sei gewöhnlich eine gesteigerte Suche nach persönlicher oder medizinischer Betreuung oder Zuwendung: eigentlich sollten die mit emotionalen Konflikten oder psychosozialen Problem in Zusammenhang stehenden Schmerzen schwerwiegend genug sein, um im medizinischen Kontext ernst genommen zu werden. (Seemann 1998) In der Kooperation mit Ärzten zeigte sich, dass aus medizinischer Sicht noch wenig auf Kinder in belastenden Umständen geschaut wird, erst recht , wenn diese lange zurückliegt – so gilt für betroffene Kinder und erwachsene betroffene Erkrankte durchaus in abgewandelter Form, was Hanne Seemann in ihrer Arbeit mit Schmerzpatienten über die ‚Versorgungslandschaft Psychosomatik’ konstatiert: „Auf allen Wegweisern kann man lesen, wo es nicht hingeht. Kein Organbefund, keine Erklärung, wie es emotionale Belastungen und Konflikte anstellen, Schmerzen hervorzubringen, kein Verständnis oder zumindest Anerkennung für das Leiden und die innere Beteiligung der Betroffenen, ihr Umherirren in der medizinischen Angebotslandschaft und ihren Wunsch, doch noch einen Ort zu finden, wo anerkannt wird, dass sie nicht nur Schmerzen darbieten bzw. über solche klagen, sondern dass die Schmerzen haben.“ (Seemann 1998, S.14) Eindrucksvoll schildert Hanne Seemann, wie Funktionsstörungen eine Sprache des Körpers darstellen, die Bedeutung hat und Sinn macht – belastete Kinder und Erwachsenen sprechen indirekt über den Körper aus, was sie nicht sagen dürfen – sie sind oft angewiesen auf andere Menschen außerhalb Ihrer Familie, die ihre Körper-Sprache hören und verstehen können und sie mit ihnen kleinschrittig erlernen. Bleibt dies aus, droht die Weitergabe der krankmachenden Mechanismen in die nächste Generation. Die Epigenetische Forschung liefert hier erschreckend eindrucksvolle Belege: sogar die Gene der Kinder traumatisiserter Mütter zeigen sich verändert.