Wer bin ich ?Kreative Selbsterfahrung zu den Säulen der Identität

„Wer bin ich?“ Stellen Sie sich diese Frage zu ihrer Identität öfter? das wäre nicht ungewöhnlich, scheint sie doch insbesondere für viele Menschen aus belasteten Familien eine zentrale Frage darzustellen. Da immer wieder nachgefragt wird, hier noch einmal die Möglichkeit zur Selbsterfahrung mit den Säulen der Identität nach Petzold.

Eine erste Anregung, Ihrem „Wer bin ich?“, Ihrer Suche nach Identität ein Stück näher zu kommen, können die nachfolgenden Fragen zu den Säulen der Identität bieten. Diese wurden in der präventiven Arbeit mit Schülern im Rahmen der BEL-Kids-Projekte entwickelt (Barnowski-Geiser 2014 in Anlehnung an das bekannte Säulenmodell zur Identität von Hilarion Petzold). In diesem Ansatz, der der Integrativen Therapie entstammt, geht man davon aus, dasss unsere Identität von 5 zentralen Säulen getragen wird…oder eben auch nicht. In der nachfolgenden Übung können Sie sich mit Ihren Säulen ein wenig beschäftigen, feststellen, wo sie sich sicher fühlen oder wo Sie Ihr Augenmerk stärker hinrichten müssen und arbeiten möchten…

Übung

Säule 1 Leiblichkeit
Wie steht es um Ihre Gesundheit; wie ist Ihr körperliches und seelisches Befinden? Wie sind Sie mit Ihrer Erscheinung zufrieden? Verkörpern, Sie das, was Ihnen in Ihrem Leben wichtig ist? Wie schätzen Sie Ihre geistige Haltung ein? Woher bekommen Sie geistige „Nahrung“, Anregungen? Gab es Unfälle oder Erkrankungen, die sich auswirken? Hat die Erkrankung Ihres Elternteils Einfluss auf Ihre Befindlichkeit genommen? Wenn ja,In welcher Weise? Welche Stärken haben Sie aus der Erkrankung des Elternteils erlernt?
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Säule 2 Soziale Beziehungen
Wie steht es um ihre sozialen Netzwerke: Familie und Familienbeziehungen, Freundeskreis, Arbeitskollegen? Wer ist wichtig? Wer fällt aus? Welche Beziehung fordert den meisten Teil Ihrer Energie, welche Beziehung stiftet  Energie? Welche Beziehungen aus der Vergangenheit wirken sich bis heute aus? Wie wirkt die Erkrankung Ihres Elternteils sich auf Ihre anderen Beziehungen aus?
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Säule 3 Arbeit und Leistung
Wie ist Ihre Zufriedenheit in Ihrem Haupttätigkeitsfeld, etwa am Arbeitsplatz ( oder auch als Mutter etc.)? Tun Sie Ihre Arbeit gern? Ist Ihre Arbeit sicher? Empfinden Sie Ihre Arbeit als Bestimmung, Berufung? Ist Ihre Arbeit Erfüllung oder nur notwendig zum Lebensunterhalt? Wie sicher ist Ihre Arbeit? Welche Erwartungen haben andere an Sie? Wo sind Ihre Stärken, Ihre Defizite? Aus welchen anderen Bereichen schöpfen sie Kraft? In welchem anderen Bereich sind Sie zufrieden mit Ihrer Leistung? Wo sind Sie besonders erfolgreich, wo nicht?Welchen Einfluss hatte die Erkrankung Ihres Elternteils auf Ihre Berufstätigkeit?
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Säule 4 Materielle Sicherheit
Zu den materiellen Sicherheiten zählen Geld, Wohnung, Kleidung u. a. Wenn materielle Sicherheiten wegfallen, wird dadurch auch die Identität in Frage gestellt.

Wie steht es um Ihre materielle Situation? Worauf können Sie sich verlassen? Haben Sie manchmal Existenzängste? Wie sah Ihre finanzielle Situation zu Kindheitstagen aus? Welche Rolle hat hierbei die Erkrankung Ihres Elternteils gespielt?
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Säule 5 Werte
Menschen beziehen aus ihren Werten Sinn und Kraft. Ihre Zugehörigkeit zu Wertegemeinschaften (Kirchen- und Glaubensgemeinschaften, politische Organisationen, Arbeitsgemeinschaften usw.). Die Ziele des Menschen werden zu großen Anteilen durch seine Werte bestimmt. Werte werden verkörpert, führen zu einer Haltung, die sich im Verhalten zeigt.

Welche Werte sind Ihnen wichtig?
Für welche Werte treten Sie aktiv ein?
Gibt es Werte, die Sie schwächen oder verunsichern?

Welche Rolle spielen Sucht- oder andere elterliche Erkrankungen in Ihrem Wertesystem?
Sind Ihre Werte von einer Gemeinschaft akzeptiert und getragen, wie stimmen diese mit Ihrer Familie überein?

Welche Werte Ihrer Herkunftsfamilie möchten Sie hinter sich lassen?
Wie passt die Sorge um den Erkrankten zu Ihren Wertevorstellungen?

Welche Überzeugung oder Lebensphilosophie stärkt mich?
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Zur weitergehenden Arbeit:
Welche Ihrer Säule erleben Sie als geschwächt, welche birgt besondere Stärken?

Sie können auch eine Einordnung Ihrer Säulen in Zahlen vornehmen: ordnen Sie jede Säule zischen 0 ( gar keine) und 100% (vollständig) Stabilität ein.

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Finden Sie, wenn möglich, eine grafische Darstellungsmöglichkeit Ihrer Säulen…unterscheiden Sie nach Größe, Form, Position, Farbe. Lassen Sie Ihrer Kreativität freien Lauf…

Geben Sie anschließend Ihren Wünschen grafisch Raum….

Tauschen Sie sich mit Ihrem Partner oder einem Menschen Ihres Vertrauens aus…“Wer bin ich?“- die Antwort auf diese Frage unterliegt der Veränderung: Sie können im Jetzt Einfluss nehmen! Auch die vorhergehenden Übungen auf diesen Seiten können Ihnen weitere Anregungen zu dieser Frage bieten.

Beste Grüße

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Mutmacher für Krisenkinder: Wie elterlicher Dauerstress in der Kindheit unser Hirn als Erwachsene beeinflusst und was wir dennoch tun können

Text in Anlehnung an: Meine schwierige Mutter/2017.

Krisenkinder

Die schlechte Nahricht, die Ihnen als Betroffene sicher bereits bekannt ist, vorab: Kinder, die dauerhaft Krisen  ihrer belasteten Familien ausgesetzt sind, können massive Folgen davontragen; diese Folgen sind teils messbar an ihrem Serum-Cortisolspiegel und in Hirnstrukturen,  können sie doch neuronale Strukturen des Hippocampus, der Amygdala sowie des Corpus Callosum zerstören. Verursacht werden zum Teil organisch begründbare Regulationsstörungen, später auch komplexe Störungen von Lernen, Emotionen und Verhalten (Trost 2003). Auch wenn dieser Zusammenhang von neuronaler Schädigung für betroffene Kinder in quantitativen Untersuchungen noch nicht hinreichend untersucht ist, muss vermutet werden, dass Gehirne von Kindern aus belasteten Familien durch das emotionale Klima ihrer Familien stark geprägt sind. Es steht zu befürchten, dass lang andauernde wiederholte Belastungen der familiären Umwelt neuronal entsprechend verankert werden und diese‚ emotionalen Straßen’ auch dann aufgesucht werden, wenn es nicht mehr von Nöten ist. Dies zeigte sich bei denjenigen erwachsenen Personen, die bis ins hohe Alter keine Auflösung des familiären Tabus erfahren hatten, bei denen sich etwa Suchtbelastung durch etliche Jahrzehnte zog und auch im Erwachsenenalter lebensbestimmend blieb. Es scheint in diesem Fall schwer zu sein, eingefahrene Hirnstraßen zu verlassen (etwa die der Angst und Ohnmacht) und neue Straßen (Freude,Hoffnung etc.) zu befahren. Damit kann ein wesentlicher Faktor zur Orientierung in der Welt durch das familiäre Erleben maßgeblich negativ beeinflusst werden. Sogar genetisch scheinen diese Erfahrungen Spuren zu hinterlassen (In jüngerer Zeit wurde an Mäusen nachgewiesen, dass die Gene bei Nachkommen traumatisierter Mütter in Mitleidenschaft gezogen waren; sie zeigten sich als weniger Stressresistent und verzweifelter in eigenen Krisensituationen). Muss ich das wissen, denken Sie nun vielleicht, das ist doch nur traurig. Ich finde, ja, sie sollten sich mit diesen Dingen auseinandersetzen, um sich selbst ein Stück besser zu verstehen. Erst, wenn wir verstehen, warum wir wurden, was wir sind, können wir einen ZUgang zu unserer wahren Identität bekommen: im anderen Falle, wenn wir Altes nur unerkannt abspalten, drohen wir uns selbst fremd zu bleiben.

Hirne sind nutzungsabhängig: warum Kinder mit familiärer Belastung leicht ängstlich werden

Schauen wir weiter aus neurowissenschaftlicher Perspektive. Versuchte Erklärungen müssen im Angesicht der hochkomplizierten  Vorgänge in unseren Hirnen unverschämte Vereinfachungen bleiben…versuchen wir dennoch eine Annäherung: Außenwelt hinterlässt Spuren in der Innenwelt. Neurologisch spricht man hierbei von inneren Repräsentationen der Außenwelt. Auch die Repräsentationen unserer Gefühlswelt (neurowissenschaftlichen Untersuchungen u.a. von Braun, Spitzer) spiegeln  erlebte Erfahrungen. Unsere Gefühlswelt ist erlernt, vor allem in sozialer Erfahrung. Befinden, Stimmungen und Gefühle sind bei Kindern aus belasteten Familien stark in Mitleidenschaft gezogen. Kinder lernen etwa: „Wenn Papa trinkt, gibt es Ärger für mich!“ Wird diese Erfahrung wiederholt gemacht, wird diese Erfahrung auch neuronal verschaltet: sie bildet eine Hirnspur. Je öfter diese Erfahrung gemacht werden, umso tiefer gräbt sich diese Spur im Hirn ein, sprich: Kinder entwickeln Ängste ( eine Hirnautobahn „Angst“) und weitere mit diesem Erleben verbundene Gefühle werden nutzungsabhängig verschaltet. Aus dem Kind, das in einer Szene Angst hat, wird bei dauerhafter Wiederholung, leicht ein überängstliches Kind: insbesondere dann, wenn, wie oft in tabuisierenden Familien, das Gefühl des Kindes nicht benannt und besprochen werden darf, das Kind folglich keine angemessene Unterstützung in Form von Trost oder Halt erfährt. Das Befinden Betroffener wird durch dieses kindliche Krisenerleben geprägt, das Gehirn entsprechend gebaut – auch als Erwachsene, wenn das Elternhaus längst verlassen wurde, sind diese grundlegenden Verschaltungen angelegt. Es ist also nachvollziehbar, dass ein in der Kindheit entsprechend „verschalteter“ Erwachsener, der die Spur Angst zu einer regelrechten Autobahn im Kopf entwickelt hat (Formulierung in Anlehnung an Hüther), auch als Erwachsener schnell auf eben dieser Autobahn landet. Denkweisen, Selbstbild, Körpererfahrung usw. sind neuronal verschaltet: sie bilden ein Erlebens- Panorama im Jetzt, das im familiären System erlernt wurde.

Unterwegs auf der Hirnautobahn Gefühl

Gefühle sind neuronale Repräsentationen „Wir werden oft von den Gefühlen unbemerkt gesteuert.“ , sagt der Hirnforscher Spitzer schon vor einem Jahrzehnt. Emotionen bieten Kindern Orientierungshilfe beim Zurechtfinden in einer komplizierter werdenden Welt. (Spitzer 2003) Werden anstehende Probleme angemessen gelöst, stellt sich ein gutes Gefühl ein, das sich im Gehirn verankert. (Hüther 1999) Je früher diese Verschaltung erfolgt und je häufiger sie bei Belastungen und Herausforderungen aktiviert wird, umso stärker ist der Bahnungsprozess im Gehirn. Welche Verschaltung zu einem Gefühl gebahnt wird, hängt von subjektiven Empfindungen ab. „Mit jeder erfolgreich bewältigten Belastung, jeder bestandenen Herausforderung wird unter dem Einfluß der bei der kontrollierbaren Streßreaktion stattfindenden Aktivierung des noradrenergen Systems das jeweils empfundene Gefühl in Form von bestimmten dieser Empfindung zugrunde liegenden neuronalen Verschaltungen im Gehirn verankert.“ (Hüther 1999, S.69) Aber auch Belastendes und wiederholt nicht Bewältigtes wird im Gehirn als Trampelpfad abgespeichert. „Emotionale Verunsicherung führt zur Aktivierung limbischer und anderer stress-sensitiver neuro-endokriner Regelkreise und zwingt das Kind, nach geeigneten Strategien zur Wiederherstellung seines emotionalen Gleichgewichtes zu suchen. Einseitige, unbalancierte Bahnungsprozesse führen zwangsläufig zu defizitären Entwicklungen in anderen Bereichen (Wahrnehmung, Motorik, Lernverhalten, Motivierbarkeit, Sozialverhalten). (Trost 2003, S.60) Auch wiederholte Traumatisierungen wirkten nachhaltig destabilisierend auf die neuro-endokrinen und vegetativen Regelkreise.

Gefühle zwischen Ich und Du

Gefühle entstehen im sozialen Raum: Kinder und Erwachsene aus belasteten Familien fühlen nicht an sich, ängstigen sich nicht an sich, sind nicht an sich leer, schuldig, sondern ihre Gefühle sind Repräsentanten und zugleich Träger ihrer sozialen Beziehungen, sprich ihren belasteten Eltern oder Geschwister.

Gefühle werden in einer leibtherapeutischen Sicht sowohl in ihrer Leiblichkeit in Bezug aus Körper, Seele und Geist angesehen, als auch in ihrer Räumlichkeit aufgefasst, in letzterer insbesondere in ihrer Rückbeziehung auf das Subjekt. Psychiater und Leibphilosoph Thomas Fuchs: „Wie beim Tasten (‚Fühlen’) Empfinden und Selbstempfinden ineinsfallen, so ist das Gefühl als Gegenstandsbeziehung zugleich ein Selbstverhältnis, also Fühlen und sich-Fühlen in einem (sich fürchten, sich schämen, sich freuen). Die Furcht oder Angst vor (…) bedeutet auch Furcht oder Angst um mich selbst oder mein Leben. Die Scham vor den anderen ist zugleich die Scham über mich. Im Gefühl ist das Selbst sich nicht gegenständlich, als sein eigenes Objekt, sondern zuständlich, erleidend gegeben, als Subjekt affektiven Betroffenseins.“ (Fuchs 2000) Es lässt sich folgern, wie die sogenannte Zwischenleiblichkeit wirken kann: Betroffene aus belasteten Familien können innerlich derart verwoben sein mit erkrankten Angehörigen, auch und gerade in der Entwicklung ihrer eigenen Gefühlswelt, dass kaum noch eine Unterscheidung zwischen Ich und Du erlebt wird, weder leiblich noch räumlich. Die Gefühle der Eltern wabbern als Atmosphären in den Raum, für die Kinder kaum noch unterscheidbar, wo ihre eigenen Gefühle anfangen, wo sie teil einer Atmosphäre sind. „So werden Gefühle auch zu Indikatoren für die Qualität der Beziehung, in der die anderen Menschen und die Sachverhalte unserer Welt zu uns selbst stehen.“ (Fuchs) Es entsteht ein typischer Schwingungsraum zwischen Eltern und Kindern. Die gelungene oder misslungene Affektabstimmung und der Aufbau von Gefühlen ist maßgeblich für den Aufbau von weiteren Beziehungen. „Gefühle werden im Ausdruck, als Ausstrahlungen, Gesten und Handlungen ‚entäußert’, um so ihrerseits Gefühle in anderen zu induzieren. Ohne dass wir und dessen immer bewusst wären, wirken umgekehrt die Gefühle und Haltungen der anderen ständig auf unsere eigenen ein. So bilden Gefühle einen Raum mannigfaltiger Schwingungen, die sich ausbreiten und ein Eigenleben entwickeln, obwohl sie doch zugleich das persönlichste in uns sind.“ (Fuchs 2000) Also vereinfacht: was wir an Beziehungserfahrung gemacht haben, das wohnt in uns und das geben wir auch in irgendweiner Weise an andere weiter.

Tabu, Geheimnis, Gefühl

Wenn das, was Kinder aus belasteten Systemen bewegt, nicht besprochen werden darf,  nicht nach Außen dringen darf, verstärkt das Stress und Belastung. Zudem verfestigt sich eine Spaltung zwischen  innerem Erleben und dem nach Außen Gezeigten. Viele Kinder können folglich irgendwann nicht mehr unterscheiden, was sie im Angesicht der familiären Tabuisierung fühlen sollen und was sie tatsächlich erleben und fühlen. Gefühle werden zu Leerstellen des Erlebens oder mutieren zu diffusen Grundstimmungen. Dies kann zu einem chronifizierten schlechten Befinden führen, das sich die Betroffenen selbst nicht erklären können. Die erzwungene Verleugnung ihrer realen Lebenssituation (etwa die Drogensucht der Mutter) geht in der Regel so weit, dass sie sich sogar vorwerfen, sich grundlos schlecht zu fühlen. Dieses auf den ersten Blick paradox erscheinende Phänomen ist jedoch bei genauerer Sicht auf die belastete Biografie nachvollziehbar.

Stress und Krankheit

Viele kennen es aus eigener Erfahrung: Man wird zur anstehenden Prüfung nicht krank, aber kurz danach. Interessante Erkenntnisse hierzu liefert die Psychoneuroimmunologie: In der Stresssituation selbst ist ein Hochfahren des Systems erforderlich, eine Aktivierung des Immunsystems erfolgt. Ein Schutzsystem wird aufgebaut, da Entzündung  nun gefährlich wäre. Es erfolgt eine Corstisolausschüttung im Körper. Cortisol supprimiert die zelluläre Immunaktivität, die uns vor viralen Infekten schützt. Und so findet man der Harvard University Zusammenhänge: bei Überforderung und Stress fordert das Zwischenhirn an, in den Nebennieren Adrenalin zu produzieren. Es erfolgt also eine Verteidigung auf körperlicher Ebene, Erregung wird gedämpft. Chronischer Stress dämpft in der Folge Immunabwehr und zelluläre Abwehr. Folge waren eine Reihe von Anfälligkeiten: die Versuchspersonen zeigten sich  Grippe-und Herpesanfälliger, anfälliger für Neurodermitis-und Autoimmunerkrankungen sowie Allergien. Dies konnte auch an Kindern stressbelasteter Mütter nachgewiesen werden.Man fand beispielsweise Zusammenhänge zwischen traumatischen Erfahrungen im Kindesalter und Rheumaerkrankungen im Alter. Biochemische Vorgänge sind komplex. Der Zusammenhang zwischen Stress in der Kindheit und späterer Krankheit lässt sich heute erklären: Das überforderte System ist irgendwann erschöpft. Es kommt zu vermehrten Entzündungen, was zu schweren Erkrankungen wie Rheuma, Krebs usw. führen kann (hierzu auch Christian Schubert, Innsbruck, Integrativer Therapeut und Psychoneuroimmunologie/Psychotherapie- Integrierte Medizin).

Denken wir die vorangestellten Forschungen für Erwachsene aus belasteten Familien weiter, so wird deutlich:

  • es besteht ein Zusammenhang zwischen emotionalen Belastungen in Kindheitstagen und emotionaler Befindlichkeit im Erwachsenenalter
  • es besteht ein Zusammenhang von wiederholten stressenden Kindheitserfahrungen und chronischen/schweren Erkrankungen im Erwachsenenalter.

Eine große Belastung der Lebensqualität von Menschen mit belasteter Kindheit erschent  evident.

„Help…I need somebody“

In der Überschrift, hier mit einem Oldie der Beatles, wird kurz auf den Punkt gebracht, was wir Kindheitsbelastungen, Stimmungs-und Befindlichkeitstörungen entgegensetzen können: Hilfe suchen und annehmen, die Verbindung und Zuwendung von anderen, nahestehenden Menschen… also können wir etwas tun!

Fasst man die vorab geschilderten Forschungsergebnisse zusammen, so sind die Belastungen und Folgen bei Kindheitsbelastungen hoch einzustufen. Und dennoch eine gute Nachricht aus der Forschung:  es gibt Stärkendes! Widerstandskräfte, die uns schützen, sogenannte Resilienzen. Resilienzen sind also das, was uns stark macht.  Resilienzen sorgen dafür, dass viele Menschen mit Kindheitsbelastungen eben auch nicht erkranken. Eine bedeutsame stabile Beziehung im Umfeld eines aufwachsenden Kindes ist eine solch hochwirksame Resilienz. Sind Erkrankungen vorhanden, zeigten sich etwa Meditation und soziale Anbindung als hochwirksam. Vernetzen und andere Menschen mit ins Boot Holen zeigt in allen Lebensphasen Wirkung. Nervensystem und Immunsystem können einander verständigen, dies können wir für uns nutzen. Decartes Dualismus hat lange Medizin bestimmt. Aber neuere Forschungen überprüfen, wie Gehirn und Immunsystem zusammenhängen und es wird deutlich: sie sind in ständigem Austausch. Ein gestresstes Gehirn beeinflusst das Immunsystem, somit gilt auch die Umkehrung: ein entspanntes Gehirn entlastet den Körper. Körper und Geist sind eine Einheit, was ganzheitliche, integrative, leiborientierte, kreative und komplementär-Medizin für Betroffene auf den Plan ruft. Basis bildet weiterhin die Schulmedizin. Gute Erfolge ließen sich auch durch kognitive Umstrukturierung erzielen, also problematische, dysfunktionale Gedanken, etwa durch einen anderen Gedanken zu ersetzen ( wie es in einigen Religionen und Philosophien auch seit Jahrtausenden gelehrt wird)…  Selbstheilung können Sie aktiv unterstützen. Sogar ein EEG kann signifikant verändert werden. Sie können durch Ihre Lebens-und Denkweise Einfluss nehmen.

Ein wichtiger Faktor: eine soziale Umgebung, ein Feld der Hoffnung und Zuwendung (teils Liebe genannt ), im Idealfall im eigenen Zuhause. Der Satz: „Ich kann gesund werden!“, oder: „Ich kann meine Kindheitswunden überwinden!“ gehört zur hochwirksamen Einstellung, die Veränderung möglich werden läßt. Hilfe für Betroffene muss individuell erfolgen, spezifisch zugeschnitten sein: sie benötigt mindestens einen wohlwollenden Anderen. Immer sollte sie Anregung zur Selbsttätigkeit beinhalten (hierzu auch das AWOKADO-Selbsthilfe-Programm in Vater, Mutter, Sucht 2015 und Meine schwierige Mutter 2017).
Glauben wir der Psychoneuroimmunologie, so helfen Krisenkindern bei der schwierigen Bewältigung vor allem: Optimismus, stabile Sozialkontakte, ein guter Alltag und körperliche Nähe.

Filmbeitrag Selbstheilungskräfte und Psychoneuroimmunologie

http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=41334

Fuchs, T. (2000). Leib-Raum-Person. Entwurf einer Phänomenologischen Anthropologie. Stuttgart: Klett Cotta.

Fuchs, T. (2008): Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. Stuttgart: Kohlhammer.

Hüther, G. (1999): Biologie der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Lammel, U. A. (2007). Phänomenologie einer Jugendkultur in den 90er Jahren und Anfragen an Soziale Arbeit in Praxis und Ausbildung. In H. Petzold, P. Schay, P. & W. Ebert (Hg.), Integrative Suchttherapie. Theorie, Methoden, Praxis, Forschung (2. Aufl.) (S. 17-63). Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Michaelis, K. & Petzold, H. (2010). Zur Situation von Kindern suchtbelasteter Familien aus Sicht der integrativen Therapie. Integrativ-systemische Überlegungen zur Entwicklung von Risiko und Resilienz bei Kindern mit suchtkranken Eltern. Integrative Therapie, 36 (2/3), 252-280.

Orth, I. ( 2012): Unbewusstes in der therapeutischen Arbeit mit künstlerischen Methoden,kreativen Medien – Überlegungen aus der Sicht „Integrativer Therapie“ in Polyloge, Internetzeitschrift der EAG-FPI.

Spitzer, M. (2002). Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg: Spektrum.

Trost, A. (2003). Interaktion und Regulation bei suchtkranken Müttern und ihren Säuglingen. In Landschaftsverband Rheinland, Dezernate Gesundheit und Jugend/ Landesjugendamt (Hg.), Suchtfalle Familie?!. Forschung und Praxis zu Lebensrealitäten zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. Dokumentation der gemeinsamen Fachtagung der KFH NW, Forschungsschwerpunkt Sucht, und des Landschaftsverbandes Rheinland, Dezernate Gesundheit und Jugend/Landesjugendamt. Köln.

 

Beste Herbstgrüße sendet Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

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Wer bin ich…Grübel-Denker, Dauer-Fühler oder Körperfanatiker?

Wenn wir uns fragen, wer wir sind, wenn wir uns mit unserer Identität beschäftigen, dann können wir das auf vielfältige Weise tun: alle Wege entspringen letztlich einer Vorstellung, einem Modell: nie sind diese Modelle die Wirklichkeit selbst, sondern sie sind lediglich HIlfsmittel und Abbilder. Eine Herangehensweise, ein in der Praxis  erprobtes Denkmodell, ist das Modell der „Säulen der Identität“ nach Hilarion Petzold, mit dem Sie sich in meinem Blogbeitrag zum Jahreswechsel anhand von geleiteten Fragen beschäftigen konnten.

Wenn wir in einer belasteten Familie aufgewachsen sind, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, sich besonders intensiv mit der Frage nach dem „Wer bin ich?“ ( manche nennen es auch das „Selbst“) zu beschäftigen:  wer in seiner Familie lernen musste, sich selbst möglichst nicht wahrzunehmen und zu spüren, wer zu früh viel zu große Aufgaben, nämlich die der Erwachsenen, übernehmen musste, wer Dinge schulterte, denen er nicht gewachsen sein kann, der verliert leicht den Zugang zu sich selbst. Er weiß dann vor allem viel über die Bedürfnisse seiner Mitmenschen, seiner Eltern und Geschwister, aber wenig über sich selbst: sich selbst zu finden, das eigene Wollen, Wünschen, das rechte Maß usw. zu finden, wird dann oftmals eine Lebensaufgabe, die bis in das hohe Erwachsenenalter hineinreicht. Bei manchen dauert der vernebelte Blick auf die familiären Schwierigkeiten sogar ein Leben lang an: der Zugang zum Ich, zum Eigenen, scheint chronisch verwehrt.

Als stark beeinträchtigt empfunden wird dann die leibliche Säule der Identität. Insbesondere das Zusammenspiel zwischen Körper, Seele und Geist (in der leiborientierten Therapie auch mit dem altertümlich klingenden Begriff  Leib bezeichnet) funktioniert nicht gut, d.h. Betroffene erleben sich teils abgeschnitten, Ihnen fällt es schwer, alle  leiblichen Teile wahrzunhemen, geschweige denn sie in für sie günstiger Weise zusammenspielen zu lassen. Gehäuft tritt eine Unterbrechung zur Gefühlsleitung auf: wenn diese Betroffenen nach ihren Gefühlen forschen, so empfinden sie zunächst einfach „nichts“. Das Nichtfühlen ist hier an die Stelle der allzu negativen Gefühle gerutscht. Ebenso ist oftmals die Kontaktleitung in den Körper unterbrochen, dieser wird erst dann wahrgenommen, wenn er sich krank verweigert und Alarm schlägt. Oftmals sind die Denker dann, so beschreiben sie sich selbst, „immer im Kopf“. Halten wir fest: die leibliche Säule funktioniert nur dann gut, wenn alle Teile miteinander kooperieren können. Ins Extrem überzeichnet können wir drei Typen unterscheiden:

Denker grübeln und grübeln, stürzen sich verständlicher Weise meist auf Hilfen, die Ihnen noch mehr Kontrolle über das Denken ermöglichen,

 „Fühler“ fühlen sich oft von ihrem Gefühlsreichtum überflutet und sitzen hartnäckig in ihren Gefühlen fest (und weigern sich manchmal diese mit in ihr Denken einzubeziehen)

Körperorientierte sind oft einseitig nur noch mit dem Körper und seiner Präsentation befasst, sie richten ihr Leben extrem auf die Kontrolle über ihren Körper aus: wie die elterliche Sucht etwa wird nun der eigene Körper zum wechselhaften Schlachtfeld der Extreme von Kontrolle, eiserner Disziplin und schuldhaft erlebtem Versagen. Hier ist der Körper „Markenzeichen“, wenig Wohlfühlstätte.

Wenn Ihnen die Beantwortung der Fragen zu Ihrer leiblichen Säule teils schwer fielen, so kann dies wertvolle Hinweise über ihr individuelles Zusammenspiel von Körper, Seele und Geist liefern. Schauen Sie vielleicht die Beantwortung zur 1. Säule noch einmal mit diesem Blickwinkel an und erhalten so Aufschluss, ob sie sich zu den Denkern, Fühlern oder Körperorientierten zählen. Beginnen Sie behutsam, die jeweils anderen Bereiche achtsam mehr in Ihr Leben einzubeziehen: die Belastung Ihrer Kindheitstage kann Spuren hinterlassen haben, aber diese sind nicht unveränderbar: Jetzt besser leben!

Ziel in der leiborientierten Arbeit ist Integration.

„Manchmal dachte ich, ich werde mit diesen Trinkern um mich herum verrückt…Mir half, glaube ich Sinnlichkeit, mit allen Sinnen in die Natur gehen, zu riechen, zu schauen: dann wusste ich, dass es mich noch gibt.“ (Frau E., 37)

„Ich stehe morgens auf und frage mich, was ich heute spüre, wie es mir jetzt geht. Das erfordert täglich meinen Mut. Früher hätte ich vor meinem Inneren davonlaufen mögen. Heute muss ich mich nicht mehr übergeben, es klingt verrückt, dass ich mich erst jetzt kennenlerne. Im Alter von 42 Jahren beginnt mein Leben mit mir!“ ( Frau L., 42 Jahre)

Herzliche Grüße

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

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Eine etwas andere Fremdsprache erlernen: Von der Weisheit der Körpersprache

„Mein Körper spinnt, der macht einfach nicht mit mehr mit. Der macht, was er will!“ Herr I., 29 Jahre)

„Ich hasse meinen Körper, alles würde wunderbar funktionieren, aber er macht mir alles kaputt! – Ich will ihn nicht spüren.“ (Frau N., 34 Jahre)

zitiert nach Barnowski-Geiser ( 2009) Hören, was niemand sieht. Semnos

Menschen mit Kindheitsbelastungen erleben ihren Körper oftmals als fremd, als von ihnen getrennt, eigenständig, abgelöst von ihrem sonstigen Sein: der Körper erscheint teilweise förmlich widerständig zu ihrem geplanten Handeln. Da möchte jemand immer noch mehr der an ihn gestellten Aufgaben schaffen und der Körper versagt die Funktion: Sehausfälle, Konzentrationsstörungen, bis hin zu Zusammenbrüchen häufen sich. Wenn für diese und andere Symptome keine organische Ursache auszumachen ist, lohnt es sich, „Körpersprache“ zu lernen. Oft im Nachhinein, wenn wir begreifen können, sehen wir, dass der Körper offenbar über eine höhere Weisheit, ein tieferes Bewusstsein oder Intelligenz verfügt, die uns noch nicht zugänglich war. Meist wird der Körper von Betroffenen erst dann wahrgenommen, wenn er in seiner Funktion gestört ist: Somit wird, wenn wir es leibtherapeutisch betrachten, der „Leib, der ich bin“ zum „Körper, den ich habe“. (Fuchs 2000) Während der gesunde Körper im Hintergrund als selbstverständliche und selbstvergessene Existenz nicht beachtet wird, rückt der kranke Körper als von uns losgelöstes Feindbild in den Blick: als außerhalb der eigenen Person liegendes Problemfeld. Der leibtherapeutisch orientierte Psychiater Professor Thomas Fuchs fasst Krankheit als gestörte Harmonie auf, die mit einer Entfremdung, einer „Partikularisierung“ innerhalb der Leiblichkeit einhergehe (Fuchs 2000).

Wenn etwas im Leben nicht rund läuft, wenn etwas sehr belastend ist oder in der Vergangenheit war, dann ist es manchmal der Körper, der dies als erstes ausdrückt.Gedankt wird dieses Überbringen dem Körper meist nicht, eher wird „der Überbringer der Nachricht geköpft.“ Zumindest rückt oftmals der Körper, einem Verräter gleich, in die Ecke unserer Feinde: Er bedroht uns, schreit Dinge, die wir nicht hören wollen. „Die Seele atmet durch den Körper und Leiden findet im Fleisch statt, egal ob es in der Haut oder in der Vorstellung beginnt.“ (Damasio 1997, S.19) Im Umkehrschluss heisst Verbindung zum Körper somit Integration, „ihn als Teil der eigenen Innenwelt anzuerkennen und ihn nicht nur als ein Ding, als einen Gegenstand, einen biologischen Organismus, also als Teil der Außenwelt (was der Körper natürlich auch ist), zu behandeln.“ (Seemann 1998, S.17)

Es ist für Menschen mit Kindheitsbelastungen besonders bedeutsam und lohnenswert, den Körper nicht losgelöst vom Fühlen und Denken zu sehen. Nehmen wir hinzu, dass viele Menschen unter unausgesprochenen Tabus in ihren Familien leiden, erscheint es als eine wunderbare Leistung, dass der Körper gerade das Unaussprechliche auf seine Weise  zur Sprache bringen –. Wir müssen oft sehr mühsam seine Sprache erlernen – Körpersprache ist für viele Kindheitsbelastete eine Fremdsprache, deren Erlernen dringend angezeigt ist.

Neurowissenschaftler zeigen einen engen Zusammenhang zwischen Körper und Bewusstsein. Sie finden Belege, „dass der Körper, wie er im Gehirn repräsentiert ist, möglicherweise das unentbehrliche Bezugssystem für neuronale Prozesse bildet, die wir als Bewusstsein erleben: „dass unser eigener Organismus und nicht irgendeine absolute äußere Realität den Orientierungsrahmen abgibt für die Konstruktion, die wir von unserer Umgebung anfertigen, und für die Konstruktion der allgegenwärtigen Subjektivität, die wesentlicher Bestandteil unserer Erfahrungen ist; dass sich unsere erhabensten Gedanken und größten Taten, unsere höchsten Freuden und tiefsten Verzweiflungen den Körper als Maßstab nehmen.“ (Damasio 1997, S.17)

Es kann sich lohnen, Ihrem Körper und seiner inneren Weisheit Raum zu geben. Machen Sie ab sofort mindestens einmal in der Woche (besser jeden Tag) einen Körpertreff: Nehmen Sie ein paar Atemzüge und lassen Sie dann Zeit, dass sich der Körper bei Ihnen melden kann…laden Sie Ihren Körper als Gesprächspartner zu sich ein …oder mit einem Körperteil, dass etwas erzählen kann…Fragen Sie Ihren Körper, was ihm zuviel und zu wenig ist…was er braucht, um gut zu arbeiten…

Klingt fremd? Nur Mut, probieren Sie es aus!Meist erhalten wir spannende, manchmal unbequeme Antworten vom Körperfreund…

Eine sonnige Woche wünscht Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

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Zuverlässiges Navi gesucht? Wie das Herz zum Kompass wird

Neue Orientierung finden mit dem eigenen Herzen? Bei solchen Aussagen sind viele Menschen geneigt, abzuwerten und solche Worte in die abstruse, wenig bewiesene Ecke zu ordnen: das Herz, ist das nicht nur etwas für Romantiker und Esoteriker? Die Wissenschaft zeigt uns Neues: Das Herz ist nicht lediglich ein dumpfer Pumpensumpf zum Bluttransport, sondern ein kluges und komplexes „Herzgehirn“. In dieser Entdeckung liegen ungeahnte Chancen zu einem besseren Leben. Wie das Herz Menschen mit Kindheitsbelastungen auf dem Weg zu mehr Lebensqualität ein wertvoller Kompass sein kann, darum geht es im heutigen Blogbeitrag.

Frau T. hat einen Entschluss gefasst: Schluss mit Zielen und Vorsätzen für 2016!  Ihre Orientierung will sie ändern: Nicht mehr zukunftsorientiert, nicht mehr „höher, schneller, weiter“, sagt sie, sondern achtsam aus ihrem Herzen im Jetzt leben wolle sie. Das andere habe nichts gebracht, schimpft sie energisch. Sie bemerke, dass weder „weniger Kilos“ noch „mehr gemessene Schritte“ sie bislang wirklich erfüllt hätten. Gut habe sich ihr Leben immer nur dann angefühlt, wenn ihr Herz berührt worden wäre: Beim Singen im Chor, in Ruhestunden mit ihrer Katze, beim Wandern in der Abgeschiedenheit fällt ihr ein.

Viele Menschen aus belasteten Familien beklagen einen Mangel an Orientierung (insbesondere dann, wenn das Kreisen um die Erkrankten aus der Familie weniger werden soll) – Sie fühlen sich verunsichert. Gerade zu Beginn ein neuen Jahres geht es vielen dann neuerlich und insbesondere um „die richtigen“ Ziele und Vorsätze. In Gazetten ist alljährlich davon zu lesen…und immer scheinen diese festen Vorsätze dann doch zu scheitern, immer wieder geraten die Vorsätze irgendwie doch in Vergessenheit. Selbst, wenn Menschen einen Teil ihrer Ziele erreicht haben, scheinen sie nicht wirklich zufrieden: irgendetwas fehlt weiterhin, die Suche geht weiter. Ziele und Vorsätze, die lediglich die eigene Perfektion, die Selbstoptimierung in den Blick nehmen (schlanker, fitter) erweisen sich als wenig hilfreich. Anke Engelke hat dazu in der ARD eine interessante Film-Dokumentation präsentiert: Fast perfekt

Zufrieden beschreiben sich Menschen oft erst dann, wenn sie mit dem Herzen dabei sind, wenn Herzensberühung spürbar wird. In Konzerten etwa, wie es Frau T. beschreibt, im gesehen und mit-gefühlt Werden, in einem von Leidenschaft geprägten Tun, bei dem Zeit und Raum vergessen werden. Eine neue Orientierung wird erforderlich. Zufriedenheit und Glück scheint sich nicht allein über „das ganz große Rad Drehen“ einzustellen, sondern  ein neuer Kompass ist gesucht: manche entdecken dabei ihr eigenes Herz als zuverlässigen Navigator. Achtsam leben aus dem eigenen Grund, nennt es Willigis Jäger und schlägt die Brücke in eine umfassende Liebe . „Was wir am Ende unseres Lebens in Händen haben, sind nicht unsere Leistungen und unsere Werke. Wir werden uns vor allem die Frage stellen müssen, wie viel wir geliebt haben.“ (W.Jäger, Perlen der Weisheit, S.97)

Gerade Menschen mit Kindheitsbelastungen stellen sich oft in Frage, vergleichen sich mit anderen: Bin ich gut genug, müsste ich nicht besser sein, mich nicht noch mehr kümmern?…Da zwei zentrale Bedürfnisse, das Bedürfnis nach Verbundenheit und das Bedürfnis nach Wachstum, oftmals in der Kindheit zu kurz kamen, sind Menschen mit Kindheitsbelastungen bestimmt vom Mangel: unterwegs auf der Suche nach Ersatzbefriedigungen. Die Suche geht weiter und weiter, da verständlicher Weise versucht wird, diesen Mangel zu kompensieren, Abhilfe zu schaffen: Chatten und Shoppen statt Liebe lautet dann etwa ein Ersatzbefriedigungs-Muster.

 „Ersatzbefriedigungen nennt man das, was nun fortan zunehmend an Bedeutung für die betreffende Person gewinnt und dazu führt, dass ihre  ursprüngliche Offenheit, Beziehungsfähigkeit, uneingeschränkte Neugier und Gestaltungslust in eine bestimmte Richtung gelenkt wurde. Dann werden allzuleicht Dinge bedeutsam, die in Wirklichkeit völlig unwichtig sind…“ ( Hüther (2014): Was wir sind und was wir sein könnten, S.46)

Auch die Medizin nimmt das Herz als heilendes Zentrum zur Kenntnis. Servan Schreiber arbeitet als Vorreiter der emotionalen Medizin mit „Herzkohärenz“ und beschreibt  ungewöhnliche Heilungswege, gerade auch über die Zuhilfenahme des Herzens. Arbeit mit Herzkohärenz sowie entsprechende Studien werden anschaulich hier im wertvollen Blogbeitrag auf MyMonk beschrieben.

Wirkliche Zufriedenheit bei Menschen mit Kindheitsbelastungen stellt sich meist erst dann ein, wenn sich Orientierung ändert. Diese geht einher mit neuem Erleben und in der Folge auch neuem Verhalten: Diese Art und Weise, in der Welt zu sein, scheint mehr Einfluss auf eine besser empfundene Lebensqualität zu besitzen als ein Bündel von selbstentfremdeten Zielen. Ein Mehr an Achtsamkeit, ein mehr an Erleben mit allen Sinnen zeigte sich in Befragungen an Betroffenen als hilfreich (AWOKADO-Konzept Barnowski-Geiser 2015).

Ein Herz ist nicht wie das andere: Sie müssen selbst herausfinden, was Ihr Herz genau möchte. Und das braucht Zeit, Raum und Übung: wie immer! Und Vorsicht: Sie riskieren, dass Ihr Leben sich verändert, wenn Sie Ihrem Herzen wirklich zuhören.

Kreativ-Coaching Mein Herzens-Kompass

Nehmen Sie sich ein wenig Zeit für sich, in einem Raum, in dem Sie ungestört sind. Gehen Sie mit Ihrer Achtsamkeit zu Ihrem Atem, indem Sie ihn für einige Minuten nur wahrnehmen… Legen Sie nun eine Hand auf den Bereich Ihres Herzens, so wie es angenehm für Sie ist. Atmen Sie in Ihr Herz: Stellen Sie sich vor, dass Ihr Herz sprechen kann und Ihnen erzählt, was es gebrauchen kann. Nehmen Sie sich Zeit zuzuhören und notieren Sie anschließend Wichtiges. Wie können Sie Ihre Herzenslust leben, z.B. aus dem Herzen singen, mit dem Herzen  sehen, zur Herzensmusik tanzen etc. Sorgen Sie dafür, dass Ihr Herz ab sofort dem ihm zustehenden Raum und Gehör findet:

Nehmen Sie in den nächsten Wochen bei anstehenden Entscheidungen und Problemen Ihr Herz mit dazu, vertrauen Sie auf Ihre Herzensweisheit. Das bedeutet nicht, den Kopf nur noch auszuschalten: sondern Ihre Entscheidungen um ein wesentliche Ebene zu bereichern.

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auch eine literarische Arbeit von Sergio Bambaren


Dr. Waltraut Barnowski-Geiser ist Therapeutin, Lehrende und Autorin. Vater, Mutter, Sucht (2015) und Hören, was niemand sieht (2009) sind ihre Bücher zur Thematik. In der Praxis KlangRaum in Erkelenz bietet sie Hilfe für Menschen mit Kindheitsbelastungen auf der Basis des von ihr entwickelten AWOKADO-7-Schritte-Programms.

Übung 3: Mein Weg zum besseren Leben

In der letzten Übung haben Sie Ihre „Besser-Leben-Landschaft“ gemalt und gestaltet. Vielleicht werfen Sie nun noch einmal einen Blick auf diese Landschaft – falls Sie diese noch nicht gestaltet haben, holen Sie dies doch heute nach…

Betrachten Sie nun mit Ruhe…Was gefällt Ihnen an Ihrer-Besser-Leben- Landschaft? Möchten Sie heute noch etwas verändern, dass Sie jetzt gern anders hätten? Dann nehmen Sie sich ein wenig Zeit und malen/gestalten das ein.

Im nächsten Schritt suchen Sie bitte ein größeres Papier als das aus der letzten Übung oder Sie legen gerade so viele Blätter um Ihre Besser-Leben-Landschaft herum, wie erforderlich sind, um einen Rahmen zu erstellen.

Featured image

Wenn ihr Bild nun eingerahmt ist, lehnen Sie sich ein wenig zurück… Gehen Sie mit Ihrer Achtsamkeit zu Ihrem Atem (so wie wir es hier schon geübt haben) und treten ein wenig beiseite. Stellen Sie sich vor, dass Sie mit jedem Atemzug ein Stück mehr zu sich und Ihren inneren Bildern kommen.

Gehen Sie nun der Frage nach, welche Umgebung Ihre Besser- Leben-Landschaft braucht, damit sie entstehen kann. Welche Farben, Personen, Tiere, Menschen, Formen, Worte, Sprüche…

Suchen Sie nun Verbindungen zwischen Rahmen und Landschaft, malen sie alles herum, was Ihnen wichtig erscheint. …Folgen Sie jeweils Ihrem ersten Impuls.

Nun schauen Sie noch einmal hin: Wo in dieser Gestaltung befinden Sie selbst sich gerade. Gibt es einen Punkt in der Landschaft, an Ihrer Grenze, im Rahmen oder weiter außerhalb? Stellen Sie  Verbindungen von Ihrem Standpunkt zur Besser-Leben-Landschaft her. Greifen Sie Formen, Farben und Verbindungen auf. Vielleicht müssen Sie auch Hinderungen, Menschen, Gegenstände auf andere Plätze setzen, übermalen, herausschneiden…seien Sie aktiv und spielerisch, weniger kopflastig. Für eine kreative Gestaltung sind Sätze „Wie soll das gehen?“ …und „das ist doch Kinderkram!“ meist hinderlich.Falls diese Fragen in den Vordergrund rücken, gestalten Sie sie als Teil des Bildes mit.

Schauen Sie nun alles Entstandene noch einmal an: Welchen Schritt zu Ihrem besseren Leben nehmen Sie sich für die nächste Woche vor? Trauen Sie sich und formulieren diesen Schritt in einem einfachen, positiven Satz.

„Ich werde…

Wichtig ist, dass Sie einen Schritt, sei er auch noch so klein, wirklich tun. Was auch immer um Sie herum passiert: Sie sind Mitgestalter Ihres Lebens. Wenn  ein Angehöriger suchtkrank oder auch anders erkrankt sind gilt: Sie können ihn oder sie nicht ändern, aber sie können Einfluss auf ihr Leben nehmen!

Wenn Gestalten heute schwierig ist, lassen Sie sich Zeit und bearbeiten diese Übung zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal.

Vertiefung:

Gibt es einen Punkt im Bild, der Ihnen am wichtigsten ist? Was macht diese Stelle aus? Finden Sie fünf Begriffe, die diese Stelle beschreiben. Schreiben Sie diese fünf Begriffe auf und hängen diese so auf, dass Sie sie in der nächsten Zeit inspirieren können! Wenn das Visuelle Sie mehr inspiriert, können Sie auch eine Minikopie dieses Ausschnitts anfertigen oder Sie mit Ihrem Handy oder Kamera abfotografieren und als Handy-Upload immer bei sich tragen.

Ich wünsche Ihnen eine gute „Besser-leben-Zeit“.

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser