Heimweh, Sehnsucht und Co: Coronazeiten als Brutstätten der Sehnsucht

Corona stellt uns, wie wir hier schon einige Male beleuchtet haben, vor besondere Herausforderungen. Die Folgen der sozialen Distanzierung werden gerade erst präziser in den Blick genommen. In meiner Arbeit fällt mir auf, dass die Themen „Leere“ und „Verlorenheit“ verstärkt eine Rolle spielen im Leben der Menschen mit Kindheitsbelastungen. Manch einem kommt die staatlich erzwungene Diustanzierung zu schwierigen Eltern nicht ungelegen: und dennoch lässt sie in manch Kindheitsbelastetem ein ungutes Gefühl zurück: etwas fehlt, seit Kindheitstagen. Betroffene empfinden Leere, „Nichts“, bei genuaerem Nachforschen werden alte Wunden, Verlorenheit, mangelnde Geborgenheit, spürbar. Dieses Gefühl gleicht dem kindlichen Heimweh der Menschen, die die elterliche Nähe ein Leben lang suchten und nie fanden.

Die offene Rechnung: Kindheitsbelastungs-Heimweh

Fühlen auch Sie sich manchmal scheinbar grundlos traurig und niedergeschlagen, haben an kaum etwas Interesse, fühlen sich appetitlos im Wechsel mit Heißhungerattacken?…Sie haben das Gefühl, nicht richtig dazuzugehören, verspüren wenig Motivation zur Arbeit und auch nicht, tatkräftig etwas Neues zu beginnen? Dann kann es sein, dass sie unter chronischem Belastungs-Heimweh leiden…

Wenn kindliche Bedürfnisse nach elterlicher Liebe und Zuwendung nicht befriedigt wurden, dann scheint oft lebenslang etwas offen zu bleiben. Etwas Unbestimmtes scheint verloren. Etwas, das am ehesten mit dem Begriff Heimweh zu beschreiben ist. In der Folge richten erwachsene Kinder ihr Bemühen darauf, dieses Heimweh wegzubekommen, es von den Eltern doch noch gestillt zu bekommen oder auch, es einfach nicht mehr zu fühlen.

Viele Kinder aus belasteten Familien leiden im hohen Erwachsenenalter  an chronischem Heimweh, ohne darum zu wissen: belastete Familien sind wahre Brutstätten der Sehnsucht (zit. Vater, Mutter, Sucht, s.u.). Der Begriff Heimweh wird allgemein als Beschreibung gewählt, wenn in früher Kindheit eine Gemeinschaft verloren gegangen ist. Bei belasteten Kinder bekommt Heimweh eine andere Dimension.  Heimweh, das ich als Belastungsheimweh bezeichnen möchte, ist vielmehr bei all denjenigen vorhanden, die eine familiäre Gemeinschaft nie befriedigend erlebt haben und bei denjenigen, die sich selbst in der Suche nach elterlicher Liebe verloren gegangen sind. Belastungsheimweh ist immer auch ein Suche nach uns selbst, nach der eigenen Identität – oft einhergehend mit großer Verzweiflung.

Die junge Frau ist außer sich. Ihr Freund betrüge sie permanent, schlage sie, wenn sie ihn darauf anspreche und sie nehme diese Behandlung wieder und wieder in Kauf. Sie verstehe sich selbst nicht, Biografisches kommt ihr in den Sinn. Sie ist Tochter eines Alkoholikers und einer depressiven, tablettenabhängigen Mutter. In der Arbeit zu diesem Thema äußert sie, süchtig nach Ihrem Freund zu sein. „In meiner Familie hat das angefangen: ich bin der Liebe, die ich nicht bekam, hinterhergelaufen. Wie ein Stier hinter dem roten Tuch, so laufe  ich seitdem der Liebe hinterher!“

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Sie essen und werden nicht satt?Hunger stillen…einmal anders

„Das kleine Kind, das etwas erlitten hat, wohnt weiter in uns Erwachsenen: Je mehr es erlitten hat. je mehr es vernachlässigt und überhört wurde, umso mehr braucht es unsere Aufmerksamkeit heute“ (Barnowski-Geiser/Geiser-Heinrichs 2017: Meine schwierige Mutter. Das Buch für erwachsene Töchter und Söhne. Klett-Cotta).

„Ich esse und esse und werde nicht satt!“, erzählt eine 33jährige junge Frau, inzwischen Mutter zweier Kleinkinder. „Und für dieses Schlingen und essen schäme ich mich dann so sehr…ich mag auch nicht darüber reden. Ich habe schon viele Diäten probiert, das nützt nichts. Ich versage immer wieder!“

Bei manchen Menschen hilft der Blick auf ihre emotionale Lage und oftmals auf die emotionale Biografie, also die Geschichte der Gefühle und Stimmungen. Manchmal haben derartige Essprobleme ihre Wurzeln in der Kindheit. Frau R. ist erwachsene Tochter eines Alkoholikers. Diese Frauen tragen, so zeigen Forschungen, ein erhöhtes Risiko, Ess-Störungen zu entwickeln. Frau R. versucht ihr Problem über eine vertraute Strategie zu lösen: durch erhöhte Kontrolle. Sie gerät in einen unguten Kreislauf zwischen Maßlosigkeit,Kontrolle, Scham. Obwohl sie relativ normalgewichtig ist, schämt sie sich inzwischen für ihren Körper und hat immer weniger Selbstbewusstsein. Ihr neuer Weg setzt auf einer tieferen Ebene an. Dieser neue Weg führt über Zu-und Hinwendung. Frau R. mag das täglich als Programm üben, indem sie jeweils mittags und vor größeren Mahlzeiten folgende Übung durchführt:

1.Atem beruhigen und wahrnehmen: wie fühle ich mich gerade? (Frau R. malt das in ein Kreatives Begleitbuch als Farbe)

2. Was brauche ich jetzt? ( Frau R. gestaltet auch dies farbig)

3.Was kann ich für mich tun, was tut mir gut? Frage beantworten und aktiv Tun

Diese und andere Übungen klingen einfach: für Kindheitsbelastete sind Sie oft gefühlt der Mount Everest. Diese Übungen können Sie, regelmäßig angewendet, effektiv unterstützen ( weitere Kreative Selbsterfahrungsübungen auf dieser Seite und in meinen Büchern.

Übrigens ist das ebenso ein Männerthema: Söhne trinkender Väter haben ein deutlich erhöhtes Risiko, selbst zu Alkoholikern zu werden.  Der Kern des Problems ist in diesen Fällen derselbe: statt Essen wird hier Trinken eingesetzt. Die vorab beschriebene Übung ist hier ebenso sinnvoll. Und: emotionaler Hunger ( hier aus Kindheitstagen) betrifft nicht nur Menschen aus Suchtfamilien.

Ich wünsche Ihnen an den Ostertagen Zeit, in sich hineinzuspüren, Ihren Bedürfnissen zu folgen und den Mut, Neues zu probieren: es lohnt sich!

Herzliche Grüße

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser