Lockdown? Nicht vergessen: Suchtkinder sind Meister der Krisenbewältigung

Krisenmeisterschaft

Menschen mit schweren Kindheitstbelastungen sind in der Regel zwangsläufig KrisenbewältigungsmeisterInnen geworden: leider haben Sie diese Fähigkeit oft , so wie die Belastungen im Gestern, völlig vergessen. Mich interessiert seit vielen Jahrzehnten, was genau Menschen hilft, mit schweren familiären Krisen umzugehen… und wie es dennoch möglich wird, ein befriedigendes oder gar glückliches Leben zu führen. Dazu habe ich über ein Jahrzehnt Menschen befragt und anschließend analysiert, welche Bausteine der Krisenhilfe sie gefunden hatten, um ihr Leben gelingen zu lassen. Immer wieder zeigten sie sich als besonders stark, kreative Lösungen für scheinbar Unlösbares zu finden, sozial kompetent und humorvoll (Wolin&Wolin).

Fallen

Zwei Fallen in der Krisenbewältigung sind augenfällig:

Suchtkinder und Menschen mit Kindheitsbelastungen umgeben sich oft mit Menschen, die ihnen Energie absaugen.

Sie lassen sich, resonanzfähig wie sie sind, leicht mit „runterziehen“.

Erste Hilfe

Auswählen

Kontakte bewusst wählen und dosieren ( auch online). Wenn Sie sich regelmäßig nach Telefonaten und Videofonaten ausgelaugt und erschöpft fühlen, hilft es meist, diesen Kontakt zu begrenzen.

Musik: Resonanz und Zeit für mich

Menschen mit Kindheitsbelastungen sind oft besonders ansprechbar über Musik: Musik kann auch gerade jetzt in der Coronazeit die fehlende Resonanz in Kontakten ein Stück mildern: Musik versetzt in Schwingung, verbindet und ermöglicht eine andere Stimmungslage. Probieren Sie es aus…mit welcher Musik kommen sie „gut drauf“)?

Eine gute Woche wünscht Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

„Und alle schwingen mit“-wie Ihre familiären Beziehungen präg(t)en, wie Sie heute sind

„Gewöhnlich haben wir die Familie als den Ort betrachtet, an dem wir Liebe, Verständnis und Unterstützung finden können, selbst wenn alles andere versagte. Sie ist der Platz, an dem wir uns erfrischen können und an dem wir auftanken, um mit der Welt draußen besser fertig zu werden. Aber für Millionen belasteter Familien ist das ein Mythos.“ (Satir 1993, S.27)

Kinder belasteter Eltern sehen es als ihre Aufgabe an, ihre unglücklichen Eltern glücklich zu machen: Diese Tatsache hat vielschichtige Folgen, die Betroffene bis ins Erwachsenenalter prägen können: das, was die anderen brauchen, ist so wichtig, dass betroffene Kinder sogar für sie existenzielle Bedürfnisse bei sich selbst übergehen, um den belasteten Elternteil glücklich und zufrieden zu machen… und dieses Beziehungsmuster im nicht seltenen Fall mit in ihre weiteren nahen Beziehungen im Erwachsenenalter nehmen. Sie scheinen sich selbst verloren gegangen zu sein.

Wie Krisen Sie praegten

Wie kommt es dazu? Die Antworten sind vielschichtig, ein Blick auf die Situation der Familie lohnt sich. Belastete Familien befinden sich oftmals in Dauerkrisen, in denen sie zusammenrücken müssen; oft entsteht eine besondere Abhängigkeit, ein besonderes Angewiesensein aufeinander, manchmal ohne emotionale Nähe und Liebe, die die Kinder benötigen. Diese enge Anbindung, die Minuchin Ende der 70er Jahre als familiäre „Verstrickung“ beschrieb, wurde als sehr problematisch für die Entwicklung des Individuums angesehen.IN diesem Feld hat die systemische Forschung viel Pionierarbeit geleistet.

„Aber in der verstrickten Familie geht das Individuum gewissermaßen im System verloren. Seine individuelle Autonomie ist so schwach definiert, dass ihm ein Funktionieren auf individuelle und eigene Weise so gut wie unmöglich gemacht ist.“ (Minuchin/Rosman/Baker 1978, S.43f).

Wenn Reden nicht mehr hilft-die Stoerung in der familiaeren Kommunikation

Es entwickelt sich eine belastete Famlienstruktur mit einer eigenen Dynamik, sie nimmt Einfluss auf die gesamte innerfamiliäre Kommunikationsstruktur. Die verstorbene Familientherapeutin Virginia Satir beschreibt vier Formen der gestörten Kommunikation: Beschwichtigung, Anklage, Rationalisieren und Ablenken. Diese Formen begegneten mir besonders in der Arbeit mit Familien, die sich in der Phase der tabuisierten schleichenden oder/und chronischen Belastung befinden (Phasen nach Barnowski-Geiser 2009).

Beschwichtigung zeigt sich insbesondere in der Form, Empfindsamkeit zu entwerten. Sie gipfelt in Äußerungen wie „Ach, die x ist einfach so ein überempfindliches Kind!“

Rationalisieren zeigt sich oft, indem Eltern in therapeutischen Gesprächen dem Erleben des Kindes wenig angemessen erscheinende Vorträge halten. Äußern die Kinder Gefühle und weinen, zeigen sich diese Eltern in der Interaktion zu ihren Kindern seltsam erstarrt und unerreichbar, wenig tröstlich: sie rufen das KInd zurück zur Vernunft.

Anklagen Besonders bitter für Kinder werden Strukturen, die sie zum „Angeklagten“ machen; oftmals um von familiären Problemen abzulenken. Dies passiert etwa dann, wenn Eltern einen Konsens finden, etwa die Suchtbelastung und familiären Probleme weiterzuleben, ohne sie öffentlich werden zu lassen. Kinder übernehmen hier teilweise sehr selbstverständlich die Rolle des „Sündenbockes“, in die sie gedrängt werden. „Wenn Anna nicht so viele Probleme in der Schule häte, müsste ich nicht trinken“, lautet die elterliche Logik, teils vom Partner mitgetragen.

Ablenken: Während Dramatisches und Schlimmes passiert, das eigentlich die gesamte Aufmerksamkeit aller erfordert, wird der Fokus auf eigentlich Nebensächliches gerichtet, etwa“Die Kinder haben ihre Pflichten nicht erfüllt, den Essenstisch nicht abgeräumt“ etc.

Und alle schwingen mit-das Resonanzvirus

Und zugleich gehen die Auswirkungen in den belasteten Familien weit über die Kommunikationsstruktur hinaus: die beschriebene Dynamik des Familiengeheimnisses bringt Resonanzmuster hervor, in denen das Eigene teilweise zugunsten der Systemschwingung aufgegeben werden muss. Betroffene spüren von Klein auf, dass sie vor allem im System einen guten Platz finden, wenn sie sind, was das System braucht. Sie leben in erzwungenen Resonanzräumen, in denen sie irgendwann vergessen haben, dass sie eigene Bedürfnisse haben und erfüllen müssen, vergessen, wer sie eigentlich sind… weil sie es schlichtweg vergessen mussten.

Die Frage: Was brauche ich? muss in diesen Fällen als neue Orientierung von Tag zu Tag gestellt werden, die Erfüllung der Bedürfnise kleinschrittig geübt werden. Probieren Sie es vielleicht in der nächsten Woche aus, nehmen Sie diese wichtige Frage als Begleiter mit in Ihre Woche, auch wenn Ihre Eltern oder Partner erkrankt und bedürftig sind…und das ist, wenn Sie zu den Betroffenen erwachsenen Kindern gehören, wirklich eine schwierige Übung!

Eine gute Woche

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser