„Du musst vergeben!“- Fragwürdiges rund um elterliche Schuld und Vergebung

In einigen Szenen ist es en vogue: als Lösung zu jedwedem Problem, vor allem auch zu Kindheitsproblemen, wird das Verzeihen angepriesen. So lautet es vollmundig „Du musst verzeihen!“ oder „Vergib und Deine Heilung erfolgt!“, „Verneigen Sie sich vor den Tätern!“ etc.  Gerade Menschen mit schwierigen Kindheitserfahrungen scheinen dabei gefährdet, in den Dunstkreis von Szenen zu geraten, in denen scheinbar einfache Heilsversprechen propagiert werden. In der Praxis zeigt sich jedoch: Heilung und Hilfe bei negativen Kindheitserfahrungen ist in der Regel nicht durch einen einzigen Akt machbar, noch weniger  „einfach“ und schnell“, noch weniger ohne jede Aufarbeitung und Differenzierung – im Gegenteil birgt dies die Gefahr, neuerlich zu verletzen, zu traumatisieren, zu übergehen und gerade diejenigen zu schmälern, denen ohgnehin ( oft über Jahrzehnte) etwas angetan wurde… Wie beispielsweise soll etwas verziehen werden, das es laut der familiären Erzählung gar nicht gegeben haben soll, was also unter den Mantel des Tabus getarnt wurde oder wird. Ein großes Thema…

Einen  differenzierten Weg der eigenen Bewältigung zeigt Svenja Plasspöhler in ihrem Buch Verzeihen. Vom Umgang mit Schuld Auf wunderbare Weise gelingt ihr ein eindrücklicher Brückenschlag zwischen selbst Erlebtem in der Kindheit (die Mutter verlässt die Familie wegen eines neuen Partners, als die Autorin 14 Jahre alt ist) und kollektiv erfahrener Schuld. Auf ihrer Spurensuche geleitet uns die Autorin durch vielschichtige Schuldlandschaften: zwischen Erkundungen im Nachhall eines Amoklaufs etwa und anderen monströsen Abgründen reflektiert sie die Schuldfrage immer wieder neu anhand ihres eigenen Leides, das sie mit ihrer Mutter durchlebte. So konnte ein Kaleidoskop des Verzeihens entstehen, das sich zwischen verstehen, lieben, vergessen (müssen) bewegt, mehrperspektivisch aufbereitet zwischen Philosophie, Ethik und biografischer Familiengeschichte.

Ein Buch, das ich Kindheitsbelasteten, die sich mit Schuldfragen und Vergeben ( müssen) plagen, sehr ans Herz lege.

Bei Menschen mit Kindheitsbelastungen mache ich die Erfahrung,dass das,was im Gestern passiert ist,mitgefuehlt,anerkannt und bezeugt werden musste…all das war noetig,um verzeihende Gedanken auf den Weg zu bringen.Verzeihen ohne Reue,ohne Eingestehen auf elterlicher Seite,bedeutete fuer Menschen mit Kindheitsbelastungen eine n
euerliche Wunde:sich selbst,die eigene Wahrnehmung zu uebergehen,sich stehen zu lassen-einmal mehr.

Eine gute Woche, mit Sonnenmomenten im Regen, Wärmendem in der Kälte wünscht

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

„Du musst vergeben!“- Fragwürdiges rund um elterliche Schuld und Vergebung

In einigen Szenen ist es en vogue: als Lösung zu jedwedem Problem, vor allem auch zu Kindheitsproblemen, wird das Verzeihen angepriesen. So lautet es vollmundig „Du musst verzeihen!“ oder „Vergib und Deine Heilung erfolgt!“, „Verneigen Sie sich vor den Tätern!“ etc.  Gerade Menschen mit schwierigen Kindheitserfahrungen scheinen dabei gefährdet, in den Dunstkreis von Szenen zu geraten, in denen scheinbar einfache Heilsversprechen propagiert werden. In der Praxis zeigt sich jedoch: Heilung und Hilfe bei negativen Kindheitserfahrungen ist in der Regel nicht durch einen einzigen Akt machbar, noch weniger  „einfach“ und schnell“, noch weniger ohne jede Aufarbeitung und Differenzierung – im Gegenteil birgt dies die Gefahr, neuerlich zu verletzen, zu traumatisieren, zu übergehen und gerade diejenigen zu schmälern, denen ohgnehin ( oft über Jahrzehnte) etwas angetan wurde… Wie beispielsweise soll etwas verziehen werden, das es laut der familiären Erzählung gar nicht gegeben haben soll, was also unter den Mantel des Tabus getarnt wurde oder wird. Ein großes Thema…

Einen  differenzierten Weg der eigenen Bewältigung zeigt Svenja Plasspöhler in ihrem Buch Verzeihen. Vom Umgang mit Schuld Auf wunderbare Weise gelingt ihr ein eindrücklicher Brückenschlag zwischen selbst Erlebtem in der Kindheit (die Mutter verlässt die Familie wegen eines neuen Partners, als die Autorin 14 Jahre alt ist) und kollektiv erfahrener Schuld. Auf ihrer Spurensuche geleitet uns die Autorin durch vielschichtige Schuldlandschaften: zwischen Erkundungen im Nachhall eines Amoklaufs etwa und anderen monströsen Abgründen reflektiert sie die Schuldfrage immer wieder neu anhand ihres eigenen Leides, das sie mit ihrer Mutter durchlebte. So konnte ein Kaleidoskop des Verzeihens entstehen, das sich zwischen verstehen, lieben, vergessen (müssen) bewegt, mehrperspektivisch aufbereitet zwischen Philosophie, Ethik und biografischer Familiengeschichte. Ein Buch, das ich Kindheitsbelasteten, die sich mit Schuldfragen und Vergeben ( müssen) plagen, sehr ans Herz lege.

Eine gute Woche, mit Sonnenmomenten im Regen, Wärmendem in der Kälte wünscht

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

„Unfassbar schuldig“- Wie erwachsene Kinder belasteter Eltern zu Therapeuten ihrer Eltern werden

 Zurück nach der Sommerpause hoffe ich, dass es Euch und Ihnen gut geht. Da ich während des Schreibens an unserem neuen Buch (das schreibe ich mit meiner Tochter gemeinsam und es wird wieder um Erwachsene Kinder und ihre Eltern gehen/ erscheint bei Klett-Cotta im Frühjahr 2017)  Interessantes gelesen habe, hier zunächst Bewegendes zum Themenfeld: aus dem neuen Roman der Autorin Sarah Kuttner, den mir eine Freundin ans Herz legte. Eindrücklich schildert Sarah Kuttner, wie sich die Situation der psychisch erkrankten Mutter in das Leben der Erzählerin webt: und es auch als Erwachsene noch bestimmt. Auch ihre Beziehung. Ihr Partner fragt irritiert: „Wo bist du die ganze Zeit?“…“Ich meine natürlich nicht körperlich, sondern, keine Ahnung, dein Geist, dein Herz. Du. Wo bist du die ganze Zeit?“ (Kuttner , S. 28)

In eine andere Welt zu flüchten, ist eine der (meist nicht bewussten) Rettungsstrategien erwachsener Kinder aus belasteten Familien, vor allem dann, wenn die kindlichen Belastungen zu groß sind und allzu lange andauern. Oftmals werden die Kinder mit diesen Belastungen tragischerweise komplett alleingelassen, beispielsweise wenn das andere Elternteil „flieht“:

Die Erzählerin in Sarah Kuttners Roman: „ Zuhause war ich der Mann in der Familie, eine Verantwortung, die ich zurecht tragen musste, war der echte Mann in der Familie ja durch meine Schuld nicht mehr da….ich fühlte mich immer unfassbar schuldig.“ ( S: 31)

Immer wieder unfassbar: wie Schuldgefühle aktiviert werden, wenn KInder eigentlich Überforderndes leisten. Es ist nie genug, so erscheint es. Allzu früh werden diese Kinder Helfer, Therapeuten ihrer Eltern

„…dann bin ich eben so ein Therapeut. Ich passe auf, wende Leid ab…Wenn meine Mutter in den Hochphasen ihrer Traurigkeit so viele Beruhigungstabletten nimmt, dass sie nicht wach genug ist, um auf die Toilette zu gehen. Dann wasche ich das Laken und hänge es auf dem Balkon zum Trocknen auf. Wenn die Nachbarn auf dem NebenBalkon die Laken beäugen und fragen, ob ich nicht ein bisschen zu alt sei, um noch einzupullern, sage ich leise: „Ja“, und schäme mich, als wäre es tatsächlich mein Urin auf den Streublumen.“ (Kuttner S. 32)

Stellvertretende Scham: der siamesische Zwilling der Schuld, bei erwachsenen Kinder belasteter Eltern im Lebensrucksack: ein schweres Marschgepäck. Beschämendes und Belastendes an Eltern Stelle in der Öffentlichkeit auf sich selbst zu schieben, ebenso. Ebenso typisch, dass die Leistung des Kindes nicht gesehen wird: im eigenen kindlichen Film und in der Erkrankung feststeckend, nehmen belastete Eltern dann ihre KInder und deren Tun, ihre Fürsorge, oftmasl bis zur Aufopferung und Entwürdigung, kaum zur Kenntnis.

„Jeder zaghafte Moment der erneuten Annäherung meinerseits wird mit purer, egoistischer Vereinnahmung quittiert. Monika ( name der Mutter, Anm. d. Verf.), die einfach nur irgendwen braucht, der zuhört, wenn das Leben sich anstellt. Der ihr offiziell bescheinigt, dass sie auch nur ein Mensch ist, dass sie immer nur gibt und für andere da ist, dass sich nie jemand um sie sorgt. Nun, ich habe mich meine ganze Kindheit um Monika gesorgt. Jetzt soll bitte jemand anderes übernehmen.“ (Kuttner, S. 40)

Dauerkrisen an der Tagesordnung; und wenn keine Krise da ist, wird eine erzeugt:

„Das Übliche: Monika  spielt Notfall und redet nur über Belangloses. Probleme, die keine sind, die aber behandelt werden sollen, als wären sie welche. Fertig. Sieben Anrufe in Abwesenheit für indisches Echthaar.“ ( Kuttner, S.41)

Wenn das Zusammenleben dann noch eine Dauerfrage von Leben und Tod ist, wenn Suizidalität der Eltern von Kindern getragen wird, wird es dramatisch:  die KInder fühlen sich neben ihrer Überforderung zusätzlich isoliert. Eine Dramatik, die ihnen das Kümmern und Aufpassen, das ständig um andere Kreisen,   das kontrollieren Müssen und verfügbar Sein,  tief in die Seele brennt. Ebenso das Gefühl, ohnmächtig, ausgeliefert und hilflos zu sein, ohne wirklich etwas bewirken zu können.

„…denn Monika ist nicht nur eine arme Wurst, sondern eine arme Wurst, die ihre sechsjährige Tochter fest an der Hand hielt, als sie vor ein Taxi warf, weil sie es nicht mehr ausgehalten hat, eine arme Wurst zu sein. Jemand, der auch die anderen halbgaren Selbstmordversuche nicht ohne Kinderpublikum über die Bühne bringen konnte.“ ( Kuttner, S. 40)

Lesenswert!

Wunderbare Sonnentage wünscht

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

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An unsichtbaren Fäden des Gestern:Wenn Schuld das Leben bestimmt

Ein Gefühl, das Menschen mit Kindheitsbelastungen von der Kindheit bis ins hohe Erwachsenenalter beschäftigt, ist Schuld. Schuld ist hier gemeint als sich schuldig Fühlen, im Sinne einer inneren Bewertung .

„Das heißt, dass ein erlebtes Schuldgefühl nicht gleichsam bedeutet, dass diejenige Person, an der man scheinbar schuldig wurde, sich selbst als jemanden erlebt, dem etwas angetan wurde. Das Quälende der Schuldgefühle besteht gerade darin, sich ohne äußerlich erkennbaren Grund maßlos schuldig zu fühlen.“ (Musiktherapeutin Gitta Strehlow, 2005)

Auch die therapeutische Szene hat an diesen Entwicklungen keinen unerheblichen Anteil: lange Zeit wurden etwa im suchttherapeutischen Bereich Angehörige vielmehr als Verursacher von Krankheit angesehen (hier von Sucht), anstatt als diejenigen, die etwas erliiten. Erst in neueren Ansätzen werden spezifisch an Angehörigen orientierte Konzepte verfolgt (u.a. Flassbeck, Barnowski-Geiser).

In ihren Erklärungszuschreibungen erleben sich Betroffene diffus, beschreiben das Schuldgefühl als „einfach da“, abseits aller logischen Erklärungen. Bei vielen Kindern findet eine Umleitung statt, indem sie ihre Belastung verschieben und sich selbst als belastend beschreiben, sich damit „schuldig machen“. Manche Kinder äußerten während fortlaufender Therapie  heftige Schuldgefühle, die sogar mit Todeswünschen einhergingen. Oftmals leiden sie unter einem existentiellen Erleben von „Nicht- Gewollt- Sein“. Betroffene glauben, sich das Recht ihrer Existenz und Anwesenheit erst erarbeiten zu müssen. In diesen inneren Konstruktionen wird Eltern ein hohes Zugriffrecht zugebilligt. Erwachsene Betroffene glauben, weit über die Kindheit hinaus für ihre Herkunftsfamilie zur Verfügung stehen zu müssen: eben einfach, weil  sie sich auf ihnen selbst nicht bekannte Art und Weise schuldig gemacht hätten. Derart Betroffene scheinen diese Schuld förmlich abarbeiten zu müssen, was  eine innere Loslösung sowie Autonomiebestrebungen fast unmöglich erscheinen lässt – zumindest solange dieser Mechanismus ihnen nicht bewusst wird..

 „Und ich war ihrer Ansicht nach schuld, dass sie immer mehr trank, weil das mit mir alles nicht auszuhalten war… So äußerte sie sich… und sie sagte mir auch, dass sie, wenn sie im Auto saß, schon oft daran gedacht hatte, gegen die Wand zu rasen – wegen mir. Heute macht mich das wütend!“ (V16,HerrI.,40 Jahre).

Frau O., die sich nach ihren Erzählungen von ihrer Herkunftsfamilie deutlich gelöst habe, da es unter Alkoholeinfluss wiederholt zu sexuellen und gewalttätigen Übergriffen durch den Vater kam, wenig Loyalität durch Mutter und Geschwister gegeben habe, stellt ihre Herkunftsfamilie mit Tieren nach. Für sich selbst wählt Frau O. ein schwarzes Schaf, das die Aufschrift trägt:  ‚Welcome’. Diese Aufschrift fällt ihr erst durch einen Hinweis der Therapeutin auf. Frau O stellt sehr verwundert fest: „Und doch ist es genau so, wie ich es hier gewählt habe. Weil ich benannt habe, was sich sehe, war ich das schwarze Schaf meiner Familie, und doch würde ich bis heute alles tun, wenn meine Familie in Not ist. Ich fühle mich tief in der Schuld, die ich nicht erklären kann!“ (V17,Frau O., 46 Jahre)

Zitiert nach Barnowski-Geiser 2009: Hören, was niemand sieht

Schuld mobilisiert aktive, selbstkontrollierte Versuche, etwas wiedergutmachen zu können.“ (Strehlow 2005) Der Wunsch, sich für die Herkunftsfamilie einsetzen zu wollen, ist bei Betroffenen  besonders stark. Besonders bei Kindern, die ihre kranken Eltern durch Tod verloren haben, werden Schuldfragen existenziell. Auch berichteten betroffene Kinder von anderen Familienmitgliedern (in der näheren und erweiterten Verwandtschaft), die ihnen Schuld am Tod  eines erkrankten Elternteils zuschrieben. Manche Familiensysteme sind durch Tod oder Selbstmord eines Erkrankten offenbar so stark traumatisiert, dass es dann darum geht, die Schuld von sich selber  „wegzubekommen“. Im Sinne von ‚Angriff ist die beste Verteidigung’ scheuen so offenbar weder Großmütter davor zurück, ihre Enkel in der Verantwortung für den Tod des Erkrankten zu beschuldigen, wie Geschwister einander, Väter ihre Töchter: sicherlich ein Ausdruck allerhöchster familiärer Not.

Kann das Schuldthema nicht aufgedeckt werden, zeigte es sich bei Betroffenen als lebensbestimmende Triebfeder des eigenen Handelns: verschleißende und sich selbst missachtende Muster, einer Selbstbestrafung gleichendes Verhalten waren die Folge.  Auch Raubbau mit dem eigenen Körper, ein wenig liebevoller, fast an Selbstverachtung grenzender, nicht gesundheitsförderlichen Umgang mit sich selbst geht oftmals mit ungelösten Schuldzuschreibungen einher.

Beitrag in Anlehnung an Barnowski-Geiser:Hören, was niemand sieht 2009

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