Neue Rezension „Vererbtes Schicksal“

Die Wunden und Traumata unserer Vorfahren spielen in unser Leben? Ja, das ist inzwischen durch Forschung hinlänglich bekannt. Wie wir uns von den Wunden unserer Vorfahren im Heute selbst befreien können, damit beschäftigt sich im besonderen Psychotherapeutin Sabine Lück in ihrem Fachbuch, mit vielen Anleitungen zur Selbsthilfe. Für die Stiftung Zu-Wendung für KInder habe ich das Buch rezensiert. Lesen Sie hier

Einen guten Sommer wünscht Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

„Ich möchte dazugehören“- die Sehnsucht der Kindheitsbelasteten

Menschen aus belasteten Familien fühlen sich oftmals einsam und nicht zughörig. Zugehörigkeit zu finden wird dann eine bestimmende Lebensaufgabe. Oftmals haben diese Gefühle ihre Wurzeln in Kindheitstagen. Familien, die im Tabu gefangen sind, entwickeln eine eigene Dynamik. Die familiäre Wahrnehmung wird so ausgerichtet, dass das Tabu und die Täuschung in jedem Fall  aufrecht erhalten werden kann. Daran arbeiten alle Familienmitglieder mit, dieser Prozess läuft meist unbewusst ab. Besonders tragisch gestaltet er sich für all diejenigen, die sich in ihrer Familie um das Aussprechen der Wahrheit bemühen. Da sich das tabuisierende System bedroht fühlt, geraten diejenigen Familienmitglieder, die um Wahrhaftigkeit ringen, an den Rand des Systems: sie gelten als Sündenböcke, als Verräter, paradoxer Weise sogar als „nicht richtig“, „nicht glaubwürdig“. Wenn dieser Prozess über wichtige Jahre in der Kindheit anhält, wird die familiäre Fremdzuschreibung den betroffenen Familienmitgliedern zur eigenen Sicht, sozusagen zur zweiten Haut. MIt dieser Selbstzuschreibung gehen sie künftig in andere Systeme Gruppen, in Klassengemeinschaften, in eigene Familienbeziehungen usw.: ein zu schwerer kindlicher Rucksack, der kaum alleine zu tragen ist!

An diesem Punkt brauchen derart belastete Menschen andere Menschen: Menschen, die wohlwollend mit ihnen auf ihre Wahrnehmung schauen, die stärkend in ihrem Rücken sind, die aufmerksam zu-und  hinhören. Manchmal ist es dann auch an der Zeit, therapeutische Hilfe zu suchen.

Ich wünsche Ihnen eine gute Sommerzeit mit lieben Menschen an Ihrer Seite und vielen schönen Momenten,

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Bin ich ein Suchtkind? Könnte „Vater, Mutter, Sucht“ auch die Überschrift über Ihrer Kindheit sein?

Viele Erwachsene aus suchtbelasteten Familien wissen nicht, ob sie wirklich als betroffen gelten. Sie fragen sich oftmals quälend: „Bin ich ein Suchtkind?“ Denn Vater, Mutter, Kind: dieses alte Kinderspiel erfährt in Familien mit Suchtkranken eine tragische Abwandlung. Wenn Eltern suchtkrank sind, nehmen ihre Kinder einen anderen Platz ein, als es bei Kindern mit gesunden Eltern der Fall ist. Bei einem Menschen, der an einer Sucht leidet, kommt diese immer an erster Stelle. Die Sucht nimmt den Platz ein, der eigentlich den Kindern zusteht. Das Handeln des Süchtigen ist nicht auf seine Kinder, sondern auf sich und das Suchtmittel konzentriert, letzteres ist bei Suchtkranken der Dreh- und Angelpunkt. Wie und wann ist das Suchtmittel zu bekommen? Wie ist es zu vermeiden. Das sind die Fragen, die den Alltag bestimmen. Die Gedanken eines alkoholkranken Elternteils kreisen letztlich nur darum, wie er an Alkohol kommen kann, der Tablettensüchtige denkt ständig an seine Tabletten, der Drogensüchtige an seinen Stoff, der Workaholic an seine Arbeit usw. Dies bleibt nicht ohne Folgen für das System, für die Umgebung, in der Suchtkranke leben, hier vor allem für die Familien.

Alle in der Familie sind von der Sucht betroffen

Der Gebrauch des Suchtmittels greift in das Familienleben ein, bestimmt, wie die Mitglieder zusammen leben können oder eben auch nicht mehr.Featured image
So bekommen Kinder aus Suchtfamilien ungewollt einen Platz zugewiesen, der ihnen wenig gerecht wird. Die mit der elterlichen Sucht einhergehende Belastung wird nie mehr von ihnen weichen, denn wie eine Betroffene es ausdrückte: »Suchtkind bleibt man ein Leben lang!« Selbst wenn sie das Elternhaus schon lange verlassen haben oder der süchtige Elternteil verstorben ist: Sucht gleicht einem Zombie, der die Seelen der Kinder zu zerfressen droht – und das unbemerkt. Die Menschen aus dem Umfeld werden leicht zu Statisten, zu hilflosen Zuschauern, die unbeteiligt wegsehen, weil das Leid und die Ohnmacht zu unfassbar erscheinen, nicht begreifbar, nicht veränderbar. So sehen Erzieher/innen, Lehrer/innen und Nachbarn in der Regel untätig zu, während sich hinter den verschlossenen Türen der Suchtfamilie womöglich tagtäglich Dramatisches abspielt. Die Kinder dürfen nicht über ihr Leid sprechen, die Eltern schweigen aus Scham. Wenn sie doch mit ihrer Sucht an die Öffentlichkeit gehen, finden sie vielleicht einen Platz, an dem ihnen geholfen wird, ihre Kinder dagegen bleiben meistens selbst dann noch auf tragische Weise im Abseits.
Kommt die Sucht, wie so oft, nicht laut, sondern mehr schleichend, leise daher, wird es noch schwieriger, sie zu erkennen. Die Belastung für die Betroffenen nimmt immens zu, denn sie fragen sich, ob es diese Sucht überhaupt gibt oder gab, ob sie sich diese nur einbilden. »Ist das nicht normal, was meine Eltern da gemacht haben!«, lautet dann die Frage der Verunsicherten, oder: »Ist es nicht normal, dass Mama täglich Tabletten nimmt, die sie doch braucht!«, »Ist es nicht normal, ein paar Bier zu trinken?«, »Ist es nicht normal, auf sein Gewicht zu achten?« Oft noch als Erwachsene sind die Kinder suchtkranker Eltern tief verunsichert.

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Übung 4: Bin ich ein „Suchtkind“?

Vielleicht fragen Sie sich, ob sie selbst zum Kreis der betroffenen Erwachsenen gehören, die hier (auch im Buchtitel) angesprochen werden. Das wäre sehr typisch für die Art und Weise, wie erwachsene Kinder aus Suchtfamilien mit ihrer Kindheitsbelastung umgehen. »Suchtkinder«, wie ich erwachsene Kinder suchtkranker Eltern hier im Folgenden nennen möchte, nehmen oft grundsätzlich an, dass dieses Thema aus Kindertagen erledigt sei, und zum anderen, dass sie keine Probleme haben, oder wenn doch, dass diese Probleme (Symptome etwa körperlicher Art) nichts mit der früheren Situation in der Herkunftsfamilie zu tun haben. Dies kann ein tragischer Fehlschluss sein, mit weitreichenden Folgen für Ihre Lebensqualität…

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 Was Suchtkinder erzählen

Zitate aus Befragungen (2008/2009; 2015) im Folgenden unkommentiert: Vielleicht finden Sie sich oder jemanden, der Ihnen wichtig ist, in diesen Aussagen wieder?

Die nachfolgenden Zitate stammen von Erwachsenen, die über mehrere Jahre mit suchtkranken Eltern gelebt haben:

„Es (das Suchtverhalten/ Anm. d.Verf.) war in unserer Familie zu einem stummen Thema geworden!“/Frau L.

„Es ging fortwährend darum, dass wir nach Außen eine perfekte Fassade lieferten – wie es mir ging, spielte keine Rolle!“/Frau I.

„… denn offensichtlich ist dieser familiäre Wahnsinn das Leben!“/Frau H.

„Wenn meine Mutter schreckliche Dinge im Suff getan hatte, taten alle so, als wäre nichts passiert!“/Frau Z.

„… ich bettle schon ein Leben lang um Liebe.“/Frau I.

„Entsetzt bemerkte ich, dass es dieses „Ich“ nicht mehr gab!“ /Frau I.

„… ich verschwinde, während ich sein Verschwinden zu verhindern suche.“/Frau E.

„Wir sind du und du bist wir!“/Frau E. zur Einstellung ihrer Mutter

Ich habe lieber, wenn etwas Schreckliches passiert! – Wenn es mal gut ist, warte ich nur auf das Schreckliche- das WARTEN ist noch furchtbarer“/Frau I.

„Vielleicht hätte ich ihn mehr lieben müssen! Dann hätte mein Vater vielleicht nicht getrunken“ (Frau S.)

„Ich tanze auf einer Hochspannungsleitung im kühlen Korsett!“/Frau P.

„Und ich war ihrer Ansicht nach schuld, dass sie immer mehr trank…“/Herr I.

Drogen waren für meine Eltern „Lifestyle“- sprach ich von Belastung wurde ich ausgelacht und als spießig dargestellt.“/Herr H.

„Bei uns zu Hause gab es gar keine Grenzen.“/Frau O.

„Ich habe oft schon Angst gehabt, bevor meine Mutter nach Hause gekommen ist/Felix

                                          „…alle Männer in unserer Familie waren depressiv…und süchtig.“ (Frau G)

„Ich kann ihm wirklich nicht die Mutter ersetzen!“ (Frau R.)

„Wir waren voll mit Gefühlen, die aus der Suchterkrankung resultierten und doch durften wir nie über unsere Gefühle reden. Gefühle waren das absolute Tabu!“/Herr I.

Wenn einige dieser Aussagen auch von Ihnen stammen könnten und sie sich zugleich schon lange fragen, ob das Verhalten ihrer Eltern mit dem Etikett „süchtig“ zu bezeichnen ist/war, dann könnten das Hinweise auf eine (möglicherweise auch verdeckte) elterliche Suchterkrankung oder andere familiäre Belastungen in der Kindheit sein. Vielfach ist die elterliche Suchterkrankung, wie Suchtkinder oftmals fälschlich annehmen, nicht nur an der konsumierten Menge fest zu machen (und auf die Kontrolle und Beweisführung wird oft viel Energie bei Angehörigen verwendet): Bedeutsamer und wirksamer für den eigenen Weg der Suchtkinder ist das Aufspüren krankmachender Familiendynamiken sowie der spezifischen Familienatmosphäre. Denn diese Dynamik und Atmosphäre kann massive Auswirkungen auf das Erleben der Suchtkinder haben, sogar wenn sie viele Jahrzehnte zurückliegt. Wenn Sie sich oftmals, (scheinbar grundlos) leer, schuldig und „unnütz“, nicht „richtig“, nicht zugehörig oder wertlos fühlen (obwohl sie z.B. „objektiv“ viel leisten), dann kann die Wurzel dieser Gefühle in elterlicher Suchterkrankung begründet sein.Dann kann es für Sie wichtig sein, sich mit Familienatmosphären näher zu beschäftigen. Häufig stellen Suchtkinder in dieser Beschäftigung fest, dass diese negativen Stimmungen und Gefühle eigentlich gar nicht zu ihnen gehören, sondern zu ihren belasteten Eltern. Diese haben sie über Jahre während ihrer Erkrankung, meist unbewusst, an sie weitergegeben oder abgegeben (delegiert).

Zusatzanregung: Suchen Sie ein Musikstück, das erzählt, wie Sie sich eine gute Familienatmosphäre vorstellen…Lassen Sie sich Zeit: Hören Sie in den nächsten Tagen Stücke im Radio oder zu Hause bewusster aus dieser Perspektive.

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Zu Beginn meiner Tätigkeit habe ich, wie viele professionell Tätige in diesem Bereich, mit erwachsenen Kindern aus Suchtfamilien gearbeitet, ohne wirklich das Ausmaß ihrer Belastung zu kennen. In meiner Praxis, in der Schule, in Ausbildungszusammenhängen gehörte dieses Thema zu meinem Aufgabenfeld, doch ich bemerkte zunächst nicht, wie weitreichend die Folgen der elterlichen Suchtbelastung wirklich waren – ich wusste ebenso wenig darum wie die Betroffenen selbst. Erwachsene Kinder aus Suchtfamilien ahnen oftmals nichts von ihrer Belastung und deren Ausmaß, sie sprechen nicht über ihre Herkunftsfamilie, scheint das alles doch viel zu lange her zu sein. Viele wissen nicht mehr, dass ihnen etwas angetan wurde – aufgrund diffuser körperlicher und seelischer Beschwerden merken sie nur, dass irgendetwas nicht mit ihnen stimmt. Da ihnen das Ausmaß selbst nicht bewusst ist, sie zudem gelernt haben, zu tabuisieren und zu verdrängen, sprechen sie nicht über das in der Kindheit Erlittene. Betroffene lebten und leben mit Eltern, die ihre Sucht verleugnen, und so verleugnen sie selbst, was ihnen angetan wurde.

Es soll nicht etwa »Grässliches«, Schlimmes und Traumatisches, das in Suchtfamilien passiert ist, gewaltsam an die Oberfläche gezerrt oder als Sensation zur Schau gestellt werden, vielmehr wird versucht, mit Hilfe eines gemeinsamen Blicks auf die kindliche Vergangenheit, eine neue Basis für ein zufriedeneres Leben mit sich und anderen zu schaffen.

Frau L. 44 Jahre: „Ich habe eigentlich neu laufen gelernt!“
„Ich fühlte mich vor der Therapie wie in einem Hamsterrad gefangen. Alles war schwarz und grau. Ich sah und spürte nichts mehr, ich wusste weder, wo ich hinwollte, noch warum sich alles so furchtbar anfühlte – ich gab mir daran die Schuld. Jetzt fühle ich mich gut, was mir auch sehr fremd ist, da es das in meinem Leben so wenig gab. Da brauche ich immer wieder Mut, dem Neuen zu vertrauen. Ich glaube, mir hat geholfen, dass ich in der Therapie Schritt für Schritt Begleitung hatte. Ich musste bei jedem noch so kleinen Schritt Hilfe haben, ob er gerade wieder wirklich für mich stimmig ist, ob es richtig ist für mich – oder ob ich nur reagiere auf das, was andere erwarten.

Das war mühsam, aber ich empfinde nun oftmals Frieden und Freude. Ich musste von Stunde zu Stunde Wegweiser haben, um jeweils zu wissen, wie es genau weitergeht. Ich habe eigentlich neu laufen gelernt. Es haben sich neue Ziele und Blickwinkel in dieser Zeit entwickelt. Ich habe meine Belastungen erkannt und abgeworfen.

Nach meinen Erfahrungen können erwachsene Kinder, auch wenn die Erfahrungen mit süchtigen Eltern schon Jahrzehnte zurückliegen, nur dann wirkliches Verständnis für sich selbst, ihr Verhalten, ihre Gefühle und ihre Nöte entwickeln, wenn sie einen Blick auf das, was ihnen angetan wurde, wagen. Oftmals sind sie erst dann in der Lage, ihre Stärken zu würdigen und Rollenmodelle des eigenen Lebens zu verstehen – im Buch Vater, Mutter, Sucht ermöglicht ein Selbsttest darüber näheren Aufschluss. Mittels meiner Forschungen und Praxiserfahrungen habe ich das AWOKADO-Programm zusammengestellt, das Suchtkinder auf dem Weg in ein glücklicheres Leben unterstützen kann; auch professionell Tätige können es bei der Arbeit mit Suchtkindern einsetzen. Wer verdrängt, steckt fest! Wer hinschaut und aktiv wird, kann wachsen – …

Text in Anlehnung an eine Leseprobe zu Vater, Mutter, Sucht beim Klett-Cotta-Verlag.

Schwierige Eltern kann man nicht ändern… die eigene Perspektive schon

Frau I. ist es leid, sagt sie: alles habe sie versucht, aber ihre Mutter trinke weiter mehr als ihr gut tue. Sie sei mit nichts zufrieden, ihre Besuche seien der Mutter nie genug, während sie ihr zugleich vermittle, dass sie die Tochter ihr eigentlich schon immer zuviel sei. Zudem mache sie die Tochter auch noch verantwortlich dafür, dass ihr Leben durch ihre ungewollte Schwangerschaft aus den Fugen geraten sei. Frau I. gelangt zu der Einsicht:  Meine Mutter wird sich niemals ändern, nur ich selbst kann etwas ändern…

Wenn das Zusammensein mit den Eltern ein Leben lang schwierig erlebt wird, wie im Fall Frau von I. beschrieben, können die Ursachen vielschichtig sein, die Auswirkungen auf die Lebensqualität der erwachsenen Kinder gewaltig. Es kann sich etwa um eine ungünstige Passung zwischen Eltern und Kind handeln, aber auch um schwerwiegende Belastungen, die die Eltern selbst tragen und die auch für ihre Angehörigen, insbesondere für die Kinder, zur Lebenerschwernis werden. Ob diese Belastung nun Sucht, psychische Probleme, chronische Erkrankung, Traumatisierung, mangelnde Empathie-und Feinfühligkeit oder Bindungsstörung heißt, ob diese als Störung diagnostiziert wurde oder auch niemals: die betroffenen Kinder tragen eine schwere Belastung, die ihnen oftmals zur Lebensaufgabe wird – manche können, wenn sie alt genug sind (manchmal erst, wenn die Distanz zu den Eltern größer ist), immerhin ihre Perspektive, ihre Haltung und ihre Einstellung zu den elterlichen Schwierigkeiten verändern. Betroffene beschreiben erfolgreiche Perspektivwechsel als ( in Anlehnung an das Fachbuch „Meine schwierige Mutter“ , Klett-Cotta 2017):

Einen Schritt zurücktreten…

Aus einem Abstand heraus die Situation betrachten…

In einer konzentrierten Zurückgezogenheit den Konflikt neu ansehen…

Akzeptieren, dass es so schwierig ist wie es ist statt schönzureden oder zu tun, als ob alles prima wäre….

Fuer kreativ Inspirierte: Die Beziehung als Tanz auf der Bühne imaginieren…

Sich in die Schuhe der Eltern stellen: die eigene Lebensgeschichte aus der Sicht der Mutter oder des Vaters erzählen…

Loslassen: nicht mehr um die Beziehung ringen, sondern den Blick weiten, etwa sich mit Freude anderen Dingen zuwenden…

die Bedeutsamkeit der schwierigen elterlichen Beziehung im Jetzt neu  bewerten,vielleicht relativieren…

Sich selbst und die eigenen Bedürfnisse, vielleicht erstmals, in den Mittelpunkt der eigenen Aufmerksamkeit stellen…

Nicht mehr darauf hoffen, dass sich die Eltern ändern, sondern sich selbst altiv zu verändern…

Die Kontrolle über das elterliche Verhalten ( zum Beispiel Trinken) loslassen…

Sich nicht länger selbst die Schuld geben…

Scham überwinden: mit anderen sprechen statt sich hinter Burgmauern zu verbarrikaridieren.

Perspektivwechsel brauchen Zeit, Mut und Veränderung, immer einen ersten Schritt, sei er auch noch so klein. Welcher Schritt soll der Ihre sein?

Eine erfüllende Zeit mit sonnigen Momenten wünscht

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Vater, Mutter, Sucht – Wie erwachsene Kinder suchtkranker Eltern trotzdem ihr Glück finden.

Vater, Mutter, Kind: dieses alte Kinderspiel erfährt in Familien mit Suchtkranken eine tragische Abwandlung. Wenn Eltern suchtkrank sind, nehmen ihre Kinder einen anderen Platz ein, als es bei Kindern mit gesunden Eltern der Fall ist. Bei einem Menschen, der an einer Sucht leidet, kommt diese immer an erster Stelle. Die Sucht nimmt den Platz ein, der eigentlich den Kindern zusteht. Das Handeln des Süchtigen ist nicht auf seine Kinder, sondern auf sich und das Suchtmittel konzentriert, letzteres ist bei Suchtkranken der Dreh- und Angelpunkt. Wie und wann ist das Suchtmittel zu bekommen? Wie ist es zu vermeiden. Das sind die Fragen, die den Alltag bestimmen. Die Gedanken eines alkoholkranken Elternteils kreisen letztlich nur darum, wie er an Alkohol kommen kann, der Tablettensüchtige denkt ständig an seine Tabletten, der Drogensüchtige an seinen Stoff, der Workaholic an seine Arbeit usw. Dies bleibt nicht ohne Folgen für das System, für die Umgebung, in der Suchtkranke leben, hier vor allem für die Familien. Der Gebrauch des Suchtmittels greift in das Familienleben ein, bestimmt, wie die Mitglieder zusammen leben können oder eben auch nicht mehr.Featured image
So bekommen Kinder aus Suchtfamilien ungewollt einen Platz zugewiesen, der ihnen wenig gerecht wird. Die mit der elterlichen Sucht einhergehende Belastung wird nie mehr von ihnen weichen, denn wie eine Betroffene es ausdrückte: »Suchtkind bleibt man ein Leben lang!« Selbst wenn sie das Elternhaus schon lange verlassen haben oder der süchtige Elternteil verstorben ist: Sucht gleicht einem Zombie, der die Seelen der Kinder zu zerfressen droht – und das unbemerkt. Die Menschen aus dem Umfeld werden leicht zu Statisten, zu hilflosen Zuschauern, die unbeteiligt wegsehen, weil das Leid und die Ohnmacht zu unfassbar erscheinen, nicht begreifbar, nicht veränderbar. So sehen Erzieher/innen, Lehrer/innen und Nachbarn in der Regel untätig zu, während sich hinter den verschlossenen Türen der Suchtfamilie womöglich tagtäglich Dramatisches abspielt. Die Kinder dürfen nicht über ihr Leid sprechen, die Eltern schweigen aus Scham. Wenn sie doch mit ihrer Sucht an die Öffentlichkeit gehen, finden sie vielleicht einen Platz, an dem ihnen geholfen wird, ihre Kinder dagegen bleiben meistens selbst dann noch auf tragische Weise im Abseits.
Kommt die Sucht, wie so oft, nicht laut, sondern mehr schleichend, leise daher, wird es noch schwieriger, sie zu erkennen. Die Belastung für die Betroffenen nimmt immens zu, denn sie fragen sich, ob es diese Sucht überhaupt gibt oder gab, ob sie sich diese nur einbilden. »Ist das nicht normal, was meine Eltern da gemacht haben!«, lautet dann die Frage der Verunsicherten, oder: »Ist es nicht normal, dass Mama täglich Tabletten nimmt, die sie doch braucht!«, »Ist es nicht normal, ein paar Bier zu trinken?«, »Ist es nicht normal, auf sein Gewicht zu achten?« Oft noch als Erwachsene sind die Kinder suchtkranker Eltern tief verunsichert.

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Übung 4: Bin ich ein „Suchtkind“?

Vielleicht fragen Sie sich, ob sie selbst zum Kreis der betroffenen Erwachsenen gehören, die hier (auch im Buchtitel) angesprochen werden. Das wäre sehr typisch für die Art und Weise, wie erwachsene Kinder aus Suchtfamilien mit ihrer Kindheitsbelastung umgehen. »Suchtkinder«, wie ich erwachsene Kinder suchtkranker Eltern hier im Folgenden nennen möchte, nehmen oft grundsätzlich an, dass dieses Thema aus Kindertagen erledigt sei, und zum anderen, dass sie keine Probleme haben, oder wenn doch, dass diese Probleme (Symptome etwa körperlicher Art) nichts mit der früheren Situation in der Herkunftsfamilie zu tun haben. Dies kann ein tragischer Fehlschluss sein, mit weitreichenden Folgen für Ihre Lebensqualität…

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Zitate aus Befragungen (2008/2009; 2015) im Folgenden unkommentiert: Vielleicht finden Sie sich oder jemanden, der Ihnen wichtig ist, in diesen Aussagen wieder?

Die nachfolgenden Zitate stammen von Erwachsenen, die über mehrere Jahre mit suchtkranken Eltern gelebt haben:

„Es (das Suchtverhalten/ Anm. d.Verf.) war in unserer Familie zu einem stummen Thema geworden!“/Frau L.

„Es ging fortwährend darum, dass wir nach Außen eine perfekte Fassade lieferten – wie es mir ging, spielte keine Rolle!“/Frau I.

„… denn offensichtlich ist dieser familiäre Wahnsinn das Leben!“/Frau H.

„Wenn meine Mutter schreckliche Dinge im Suff getan hatte, taten alle so, als wäre nichts passiert!“/Frau Z.

„… ich bettle schon ein Leben lang um Liebe.“/Frau I.

„Entsetzt bemerkte ich, dass es dieses „Ich“ nicht mehr gab!“ /Frau I.

„… ich verschwinde, während ich sein Verschwinden zu verhindern suche.“/Frau E.

„Wir sind du und du bist wir!“/Frau E. zur Einstellung ihrer Mutter

Ich habe lieber, wenn etwas Schreckliches passiert! – Wenn es mal gut ist, warte ich nur auf das Schreckliche- das WARTEN ist noch furchtbarer“/Frau I.

„Vielleicht hätte ich ihn mehr lieben müssen! Dann hätte mein Vater vielleicht nicht getrunken“ (Frau S.)

„Ich tanze auf einer Hochspannungsleitung im kühlen Korsett!“/Frau P.

„Und ich war ihrer Ansicht nach schuld, dass sie immer mehr trank…“/Herr I.

Drogen waren für meine Eltern „Lifestyle“- sprach ich von Belastung wurde ich ausgelacht und als spießig dargestellt.“/Herr H.

„Bei uns zu Hause gab es gar keine Grenzen.“/Frau O.

„Ich habe oft schon Angst gehabt, bevor meine Mutter nach Hause gekommen ist/Felix

                                          „…alle Männer in unserer Familie waren depressiv…und süchtig.“ (Frau G)

„Ich kann ihm wirklich nicht die Mutter ersetzen!“ (Frau R.)

„Wir waren voll mit Gefühlen, die aus der Suchterkrankung resultierten und doch durften wir nie über unsere Gefühle reden. Gefühle waren das absolute Tabu!“/Herr I.

Wenn einige dieser Aussagen auch von Ihnen stammen könnten und sie sich zugleich schon lange fragen, ob das Verhalten ihrer Eltern mit dem Etikett „süchtig“ zu bezeichnen ist/war, dann könnten das Hinweise auf eine (möglicherweise auch verdeckte) elterliche Suchterkrankung oder andere familiäre Belastungen in der Kindheit sein. Vielfach ist die elterliche Suchterkrankung, wie Suchtkinder oftmals fälschlich annehmen, nicht nur an der konsumierten Menge fest zu machen (und auf die Kontrolle und Beweisführung wird oft viel Energie bei Angehörigen verwendet): Bedeutsamer und wirksamer für den eigenen Weg der Suchtkinder ist das Aufspüren krankmachender Familiendynamiken sowie der spezifischen Familienatmosphäre. Denn diese Dynamik und Atmosphäre kann massive Auswirkungen auf das Erleben der Suchtkinder haben, sogar wenn sie viele Jahrzehnte zurückliegt. Wenn Sie sich oftmals, (scheinbar grundlos) leer, schuldig und „unnütz“, nicht „richtig“, nicht zugehörig oder wertlos fühlen ( obwohl sie z.B. „objektiv“ viel leisten), dann kann die Wurzel dieser Gefühle in elterlicher Suchterkrankung begründet sein.Dann kann es für Sie wichtig sein, sich mit Familienatmosphären näher zu beschäftigen. Häufig stellen Suchtkinder in dieser Beschäftigung fest, dass diese negativen Stimmungen und Gefühle eigentlich gar nicht zu ihnen gehören, sondern zu ihren belasteten Eltern. Diese haben sie über Jahre während ihrer Erkrankung, meist unbewusst, an sie weitergegeben oder abgegeben (delegiert).

Zusatzanregung: Suchen Sie ein Musikstück, das erzählt, wie Sie sich eine gute Familienatmosphäre vorstellen…Lassen Sie sich Zeit: Hören Sie in den nächsten Tagen Stücke im Radio oder zu Hause bewusster aus dieser Perspektive.

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Zu Beginn meiner Tätigkeit habe ich, wie viele professionell Tätige in diesem Bereich, mit erwachsenen Kindern aus Suchtfamilien gearbeitet, ohne wirklich das Ausmaß ihrer Belastung zu kennen. In meiner Praxis, in der Schule, in Ausbildungszusammenhängen gehörte dieses Thema zu meinem Aufgabenfeld, doch ich bemerkte zunächst nicht, wie weitreichend die Folgen der elterlichen Suchtbelastung wirklich waren – ich wusste ebenso wenig darum wie die Betroffenen selbst. Erwachsene Kinder aus Suchtfamilien ahnen oftmals nichts von ihrer Belastung und deren Ausmaß, sie sprechen nicht über ihre Herkunftsfamilie, scheint das alles doch viel zu lange her zu sein. Viele wissen nicht mehr, dass ihnen etwas angetan wurde – aufgrund diffuser körperlicher und seelischer Beschwerden merken sie nur, dass irgendetwas nicht mit ihnen stimmt. Da ihnen das Ausmaß selbst nicht bewusst ist, sie zudem gelernt haben, zu tabuisieren und zu verdrängen, sprechen sie nicht über das in der Kindheit Erlittene. Betroffene lebten und leben mit Eltern, die ihre Sucht verleugnen, und so verleugnen sie selbst, was ihnen angetan wurde.

Es soll nicht etwa »Grässliches«, Schlimmes und Traumatisches, das in Suchtfamilien passiert ist, gewaltsam an die Oberfläche gezerrt oder als Sensation zur Schau gestellt werden, vielmehr wird versucht, mit Hilfe eines gemeinsamen Blicks auf die kindliche Vergangenheit, eine neue Basis für ein zufriedeneres Leben mit sich und anderen zu schaffen.

Frau L. 44 Jahre: „Ich habe eigentlich neu laufen gelernt!“
„Ich fühlte mich vor der Therapie wie in einem Hamsterrad gefangen. Alles war schwarz und grau. Ich sah und spürte nichts mehr, ich wusste weder, wo ich hinwollte, noch warum sich alles so furchtbar anfühlte – ich gab mir daran die Schuld. Jetzt fühle ich mich gut, was mir auch sehr fremd ist, da es das in meinem Leben so wenig gab. Da brauche ich immer wieder Mut, dem Neuen zu vertrauen. Ich glaube, mir hat geholfen, dass ich in der Therapie Schritt für Schritt Begleitung hatte. Ich musste bei jedem noch so kleinen Schritt Hilfe haben, ob er gerade wieder wirklich für mich stimmig ist, ob es richtig ist für mich – oder ob ich nur reagiere auf das, was andere erwarten.

Das war mühsam, aber ich empfinde nun oftmals Frieden und Freude. Ich musste von Stunde zu Stunde Wegweiser haben, um jeweils zu wissen, wie es genau weitergeht. Ich habe eigentlich neu laufen gelernt. Es haben sich neue Ziele und Blickwinkel in dieser Zeit entwickelt. Ich habe meine Belastungen erkannt und abgeworfen.

Nach meinen Erfahrungen können erwachsene Kinder, auch wenn die Erfahrungen mit süchtigen Eltern schon Jahrzehnte zurückliegen, nur dann wirkliches Verständnis für sich selbst, ihr Verhalten, ihre Gefühle und ihre Nöte entwickeln, wenn sie einen Blick auf das, was ihnen angetan wurde, wagen. Oftmals sind sie erst dann in der Lage, ihre Stärken zu würdigen und Rollenmodelle des eigenen Lebens zu verstehen – im Buch Vater, Mutter, Sucht ermöglicht ein Selbsttest darüber näheren Aufschluss. Mittels meiner Forschungen und Praxiserfahrungen habe ich das AWOKADO-Programm zusammengestellt, das Suchtkinder auf dem Weg in ein glücklicheres Leben unterstützen kann; auch professionell Tätige können es bei der Arbeit mit Suchtkindern einsetzen. Wer verdrängt, steckt fest! Wer hinschaut und aktiv wird, kann wachsen – …

Text in Anlehnung an eine Leseprobe zu Vater, Mutter, Sucht beim Klett-Cotta-Verlag.

Eine unheilvolle Allianz: Sucht trifft Beziehungsabhängigkeit

Wenn Sucht/ psychische Erkrankung und Beziehungsabhängigkeit sich vermählen, bedeutet das für Kinder, die aus dieser Ehe hervorgehen, meist Stress im Doppelpack.

Wenn ein Elternteil eine schwere Belastung in die Familie bringt, etwa eine Sucht, eine psychische Erkrankung o.ä., so steht dieses Elternteil, wenn es um die Einschätzung der eigenen kindlichen Belastung geht,  im Fokus.  Wenig im Blick ist dann oftmals, dass auch der andere Elternteil, dessen Belastung  vielleicht weniger augenfällig ist, entscheidend dafür sein kann, wie Sie sich als Kind fühlten und entwickelten. War wenigstens ein Elternteil gesund und stabil, wird dieser eine besonders wichtige Säule in Ihrem Leben gewesen oder auch aktuell noch sein. Ist der 2. Elternteil  ebenfalls erkrankt oder belastet, so potenziert sich die Belastung für die Kinder, wie Studien und Forschungen eindrücklich zeigen; das Risiko für eigene Erkrankung und Folgen für mitbetroffene Kinder steigt, die Lebensqualität beschreiben Betroffene als außerordentlich belastet.

Eine besondere Bedeutung kommt dem Maß der Abhängigkeit zu, in dem sich die Eltern miteinander befinden. Wenig erkannt und untersucht ist bislang, wie weitreichend die Auswirkungen einer belasteten Kindheit sind, wenn zur sucht/und-oder psychischen Erkrankung des einen Elternteils eine Beziehungsabhängigkeit des anderen Elternteils kommt, die in den Bereich der Bindungsstörung einzuordnen ist (Und manchmal als zusätzliche Erkrankung des Sucht-psychisch Erkrankten, auch Co-Morbidität genannt, auf beiden Seiten dazu kommt). Während ein stabiler Elternteil die Belastungen und Zumutungen, die durch die Sucht des einen Elternteils entstehen, nur bis zu einer bestimmten Obergrenze der Zumutbarkeit ertragen wird, kann tiefverwurzelte Beziehungs-Abhängigkeit ( oft des zweiten Elternteils) eine gefährliche Dynamik entfachen. Sie ist gleichsam das unsichtbare Öl im brennenden Feuer. Kindern wird unwissentlich, oft ohne Worte, vermittelt: Wenn wir Eltern uns trennen, werden wir alle katastrophal untergehen. Die Kinder lernen in diesen unguten Doppelbelastungskonstellationen, dass es kein Entkommen gäbe: Das Beieinanderbleiben wird zum obersten Wert, wichtiger als die Würde und die Gesundheit der Familienmitglieder, vor allem der Kinder. Diese Dynamik wurde zunehmend in Suchtfamilien beschrieben ( v.a. Rennert, Flassbeck, Wilson-Schaef, Barnowski-Geiser), es reicht jedoch über diese hinaus: sie betrifft alle Familien, in denen Eltern mit hochproblematischen Bindungsmustern schwierige Beziehungen eingehen (Barnowski-Geiser/Geiser-Heinrichs 2017)

Die Kinder drohen diese existenziellen Bindungs-Abhängigkeitsmuster mit in ihr Erwachsenenleben zu nehmen, erlebten sie doch kein Modell, das Autonomie und Eigenständigkeit vorlebt, erfuhren sie doch in ihren großen Nöten kaum angemessene Zuwendung oder Trost. Dies erschwert gesundes Erwachsenenleben ungemein, dies erschwert, reife Erwachsenenbeziehungen und Bindungen einzugehen, dies erschwert, notwendige Trennungen nicht als alles zerstörenden Abgrund zu erleben, vor dem Betroffene dann fortwährend auf der Flucht sind: indem sie sich nicht mehr binden, nur oberflächlich binden, starke Ängste ( Eifersucht etc.) entwickeln oder die Ängste in Süchten kompensieren.

Wenn Sie an sich selbst feststellen, das Sie immer weiter an Menschen festhalten, die Ihnen eher schaden als gut tun, kann der Blick auf die Dynamik zwischen Ihren Eltern wichtig werden. Erkannte Beziehungsabhängigkeit kann gewandelt werden, wenn es möglich wird, sie zu benennen und beschreiben… und vor allem: sie muss dann nicht von Generation zu Generation als unvermeidbares Vermächtnis weitergegeben werden. Der ehrliche, umfassende Blick auf uns selbst, verstehen können, wer und wie wir wirklich sind, führt meist in die Generation vor uns: nicht, um Schuld zu verteilen und anzuklagen, sondern um im Verstehen der generationalen Dynamik Neues im Jetzt und für die Zukunft möglich werden zu lassen.

Eine gute Woche

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

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Passen Sie gut auf sich auf-Vom Schutz in familiären Dauerstürmen und anderen Katastrophen

Wenn Herr N, 34 jähriger Mathematiker, die Atmosphäre in seiner Herkunftsfamilie beschreibt, dann könnte man denken, man habe es mit einer Katatstrophenmeldung zu tun. „Meine Mutter ist ein Tornado!“, erzählt Herr N, „Wenn sie loslegt, fühlen wir uns alle vernichtet, kein Stein steht mehr auf dem anderen. Und das Schlimme ist: nach dem Tornado ist vor dem Tornado.“

Elterliche Tornados können tiefe Spuren hinterlassen ( Buch zum Thema).In Kindern, die die Kindheitsjahre hindurch mit einem besonders schwierigen Elternteil überstehen mussten (und manchmal dieser Belastung weit ins Erwachsenenalter hinein ausgesetzt sind), können diese Erfahrungen  nachhaltig wirksam bleiben, insbesondere, wenn sie über Jahrzehnte, oftmals ohne jede Zuwendung von Außen durchlebt werden mussten. Oft haben diese Eltern selbst als Kinder Dinge erlebt, die sie nicht verkraftet haben: ihr Blick auf ihre elterlichen Aufgaben, die sich z.B. mit Trösten und Halten, mit einfühlendem auf das Kind Eingehen beschreiben lassen, ist dann meist verstellt. Im Gegenteil fordern diese Eltern diese Qualitäten sogar von ihren Kindern selbst ein.

Was tun? Schutz ist von Nöten. Kinder verfügen teils über günstige Widerstandskräfte. sogenannte Resilienzen. Was tun, wenn die Belastung bis ins Erwachsenenalter anhält? Schauen wir pragmatisch. Was rät man Menschen, die in klimatisch schwierigen Gegenden reisen wollen: möglichst die Gegend meiden. Menschen, die dort beheimatet sind, rät man fortzugehen, wenn möglich oder entsprechenden Schutz aufzubauen ( die Seele findet Wege, indem sie etwa nicht mehr wahrnimmt)- aus therapeutischer Arbeit kennen Sie vielleicht die Arbeit mit imaginären Schutzräumen ( dazu auch Bücher von Reddemann und Huber empfehlenswert). Als Kind können die meisten nicht fort, als Erwachsene jedoch gibt es, auch wenn sich das oftmals anders anfühlt, eine Wahl: Distanzieren kann dann eine not-wendige Option sein. In Ambivalenz zwischen Liebe und Lösen gefangen, stellt dies eine schwierige Herausforderung für Betroffene dar.

Wenn das Leben der Liebe zum erkrankten Elternteil regelmäßig in Zerstörung und Selbstaufgabe mündet, kann es an der Zeit sein, das Kontaktmaß auf ein erträgliches Maß zurückzustufen und so Belastung zu reduzieren ( s.a. Beziehungs-Entlastungs-Diagramm). Herr N beschreibt, dass es ihm helfe,  das Geschehen zu Hause heute endlich zu begreifen… Worte zu finden… die Schwierigkeit bei der Mutter und weniger nur bei sich selbst zu suchen..und zu wissen, dass er nicht so viel Kraft habe, jeden mütterlichen Tornado mitzuerleben- Selbstschutz durch weniger Besuche laute sein Rezept. Er sei jetzt achtsam auf Tornados gefasst…

Liebe Grüße und Bestes für eine gute Woche

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

„Es tönen die Lieder…“- Warum sie summend die Corona-Krisenzeiten besser überstehen

Wie die Zeit vergeht! Agnetha von der Popgruppe Abba wird heute 70 Jahre alt, und die immer ein wenig durchs Leben tobende Barbara Rütting ist im Alter von 92 Jahren am Wochenende leider verstorben. Auch die Corona-Krise bestimmt unser Leben schon einige Wochen: ein unendlicher Zeitkorridor schien vor mir zu liegen und fast erscheint mir auch diese Zeit nun schnell vergangen. Gerade in den letzten Tagen erreichen mich sehr positiv gestimmte Mails von LeserInnen und Lesern, die sich inzwischen offenbar, trotz großen Kindheitsbelastungen, gut in der Corona-Krise, teils mit völliger Quarantäne, zurechtgefunden haben. Von Zeitgeschenken, wunderbaren Naturerfahrungen, entdecktem inneren Reichtum und erlebter Verbundenheit trotz Kontaktsperre ist in Ihren Mails die Rede – ich danke Ihnen sehr für diese Rückmeldungen, die mich berühren und ungeheuer freuen!

Pfeiffen, summen, Musizieren, schlafen- so unterschiedliche Copings

So unterschiedlich wie unsere jeweiligen Lebensweisen, so unterschiedlich sind offenbar auch unsere Bewältigungsstrategien. Der Musiker Daniel Barenboim etwa spielt viel Klavier, schläft 12 Stunden und konstatierte, wie in der SZ nachzulesen, dass sich auch nach einem eingenommenen Frühstück wunderbar weiter schlafen ließe…Musik und Krise scheinen ein unschlagbares Duo: sie finden nicht selten zueinander, wie uns nicht zuletzt einige Biografien bekannter Komponisten zeigen. Aber auch im Kleinen scheint Musik hilfreich sein zu können. Ich erinnere mich gut an meine langjährige Taetigkeit als Musiktherapeutin einer Gesamtschule: wie wichtig den Kindern dort Musik war. Und etwas Seltsames war auffällig: dass viele von Ihnen oft leise, immer und überall, vor sich hin summten. Manche berichteten, dass ihr Summen andere nerve, aber dass es ihnen gut tue, Sicherheit gebe: ein Gefühl von Halt und mit sich selbst verbunden sein. Wie so oft, hatten die Kinder, die meist aus krisengeprüften Familien und Situationen stammten,  damit einen gesunden Bewältigungsweg für sich gefunden.

Singen, Summen,Voodoozauber?

Sich selbst helfen durch summen und singen? Das ist ist kein Voodoozauber. Lassen Sie uns ein wenig ausholen: gerade wenn wichtige kindliche Beziehungen negativ, belastend, ablehnend erlebt wurden, geht das mit körperlichem Stress einher.Betroffene können, hält dieser Stress lange, oft über Jahre, ein ganzes Leben gar, an, kaum noch entspannen. Nervensystem und Hormonhaushalt aktivieren Notfallprogramme für Stress, ohne wieder, da dieser dauerhaft anhält, in einen Ruhemodus zu gelangen. So befinden sich Menschen aus belasteten Familien in dauerhaften Ausnahmesituationen, auf die der Körper mit der Ausschüttung von Kortisol reagiert. So wichtg dieses Hormon bei Stresssituationen ist, so schädlich ist es, wenn es dauerhaft im Organismus agiert. Die Bildung weißer Blutzellen wird gehemmt, im letzten wird das Immunsystem geschädigt. Während diese Anfälligkeit in jungen Jahren teils noch kompensiert werden kann, gelingt diese Anpasssung mit zunehmendem Alter schlechter. Zahlreiche Erkrankungen können auftreten. Diese Erkrankungen können wir letztlich nicht ausschließen: aber wir können Ressourcen aktivieren. Musik kann eine zusätzliche Selbstheilungsressourcesein. Der Forscher und Arzt Benson hat eindrucksvolle Forschungsergebnisse geliefert ( The Relaxation Response, 1975/Weiterführendes zum „Heilsamen Singen“ auch bei Wolfgang Bossinger http://traumzeit-verlag.de/verlagsprogramm–shop/gesamtverzeichnis/die-heilende-kraft-des-singens.php) Angst wird nachweislich gesenkt, die Körperfunktionen normalisiert: die Stimmung wird gehoben.

Also, vielleicht ist es ja ein Abbasong, den Sie heute summen mögen, ein Kirchenlied, eine kleine Melodie: versuchen Sie es! Summen kann gut tun!

Herzliche Grüße

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Sucht, Krankheit, Wahnsinn-…und wo bleibe ich?

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Immerhin eine gute Nachricht inzwischen bezüglich der Corona-Krise. Hier in NRW ist die Zahl 10 erreicht: also die Tage innerhalb derer sich die Infektionszahlen verdoppelt. Das waren schon 5, 2 und nun schließlich 10. Viele Erkrankte gelten nun bereits als geheilt- welch ein Glück!

Vielleicht hat das Corona-Thema Sie sehr beschäftigt, vielleicht sind Sie aber auch mehr bei sich selbst angekommen. Und heißt „bei mir“, für Sie immer noch bei anderen- Erkrankten, Süchtigen? Im höheren Erwachsenenalter, oftmals nach vielen Jahren des Zusammenlebens mit erkrankten Eltern, in stillen Momenten, in Momenten des Alleinseins, wird manchmal eine innere Stimme laut. Dann kommt plötzlich  Fragen auf: Wo bleibe ich? Wer bin ich? Und vor allem: Wer bin ich, wenn ich nicht um den Kranken kreise? Diese Frage, oftmals gerade dann gestellt, wenn sich schon eine Loslösung anbahnt, kann eine tiefergehende Identitäts-Krise auslösen. Jens Flassbeck hat diesen Prozess mit dem Buchtitel „Ich will mein Leben zurück“ eindrücklich auf den Punkt gebracht. Denn: Wenn Menschen mit Angehörigen aufwachsen, die beispielsweise sucht- oder/und psychisch erkrankt sind, dann ist ihr Leben oftmals vom Kreisen um diesen Menschen bestimmt. Die Tage und das Leben scheinen damit ausgefüllt: Kinder aus belasteten Familien müssen ständig aufpassen, dass nichts Schlimmes passiert, ob die nächste Krise bevorsteht usw. Viele Kinder scheinen sich,  gerade wenn diese Belastung bis in das Erwachsenenalter anhält, in diesem Aufpassen und Kreisen um erkrankte Eltern zu verlieren, sie gehen sich, wie sie beschreiben, irgendwann selbst verloren. Sich nicht mehr um einen Erkrankten zu drehen (und oft geht die kindliche Sorge um erkrankte Eltern im Erwachsenenalter auf einen erkrankten Partner über), stellt eine große Herausforderung dar. Gefühle brechen auf: Trauer über ungelebtes Leben, Zorn über „verschwendete“ Energie…Ohnmacht über Sinnlosigkeit und Leere.Aus dieser entstandenen  Leere muss ein „eigenes“ Leben neu gebaut werden. Das zeigte sich bei vielen Betroffenen als schwieriger, jedoch lohnenswerter Prozess. Aber wie funktioniert das, fragen Betroffene, wie weiß ich überhaupt, was ich eigentlich will, wo doch solange nur zählte, was die anderen wollen? In diesem Prozess braucht es oft Hilfestellungen. Bücher können hierbei Hilfe sein ( s. unten) wie auch Phasen der Ruhe und Stille, der Rückbesinnung auf sich selbst. Oft macht gerade dieses „Zu sich Kommen“ Betroffenen zunächst Angst: zu ungewohnt, sich mit sich selbst zu beschäftigen, zu fremd und unvertraut. Und dann die Krisenverstärkung durch das Außen: die Corona-Krise bringt Dinge auf den Punkt, Negativ Erlebtes findet eine extreme Zuspitzung. Vielleicht mögen Sie, wenn gerade etwas mehr Zeit und Raum ist, der Frage Ihrer Identität nachgehen

Literaturempfehlung Selbsthilfe:Produkt-InformationProdukt-Information

Produkt-Information… theoretisch-therapeutische Aspekte zur Identität

Herzliche Grüße

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

TV-Interview

Liebe treue Leserin und Leser,

heute wende ich mich mit einer Anfrage an Sie/Euch: fuer eine Fernsehreportage (öffentlich-rechtliches TV) wird eine weibliche Betroffene aus einer Suchtfamilie gesucht, die bereit waere ueber Ihre Erfahrungen zu berichten. Also, wenn auch Sie es wichtig finden, dass wir eine breitere Öffentlichkeit fuer unsere Thematik  sensibilisieren und sich vorstellen können, ein INterview zu geben, kontaktieren Sie mich gern- möglichst zeitnah.

Demnächst wieder mehr Neues, Buchvorstellungen und mehr von hier.

Sonniges durch den Regen sendet

Ihre/Eure

Waltraut Barnowski-Geiser

Schwierige Eltern kann man nicht ändern… die eigene Perspektive schon

Frau I. ist es leid, sagt sie: alles habe sie versucht, aber ihre Mutter trinke weiter mehr als ihr gut tue. Sie sei mit nichts zufrieden, ihre Besuche seien der Mutter nie genug, während sie ihr zugleich vermittle, dass sie die Tochter ihr eigentlich schon immer zuviel sei. Zudem mache sie die Tochter auch noch verantwortlich dafür, dass das Leben der Mutter durch ihre ungewollte Schwangerschaft aus den Fugen geraten sei. Frau I. gelangt zu der Einsicht:  Meine Mutter wird sich niemals ändern, nur ich selbst kann etwas ändern…

Wenn das Zusammensein mit den Eltern ein Leben lang schwierig erlebt wird, wie im Fall Frau von I. beschrieben, können die Ursachen vielschichtig sein, die Auswirkungen auf die Lebensqualität der erwachsenen Kinder gewaltig. Es kann sich etwa um eine ungünstige Passung zwischen Eltern und Kind handeln, aber auch um schwerwiegende Belastungen, die die Eltern selbst tragen und die auch für ihre Angehörigen, insbesondere für die Kinder, zur Lebenerschwernis werden. Ob diese Belastung nun Sucht, psychische Probleme, chronische Erkrankung, Traumatisierung, mangelnde Empathie-und Feinfühligkeit oder Bindungsstörung heißt, ob diese als Störung diagnostiziert wurde oder auch niemals: die betroffenen Kinder tragen eine schwere Belastung, die ihnen oftmals zur Lebensaufgabe wird – manche können, wenn sie alt genug sind (manchmal erst, wenn die Distanz zu den Eltern größer ist), immerhin ihre Perspektive, ihre Haltung und ihre Einstellung zu den elterlichen Schwierigkeiten verändern. Betroffene beschreiben erfolgreiche Perspektivwechsel als ( in Anlehnung an das Fachbuch „Meine schwierige Mutter“ , Klett-Cotta 2017):

Einen Schritt zurücktreten…

Aus einem Abstand heraus die Situation betrachten…

In einer konzentrierten Zurückgezogenheit den Konflikt neu ansehen…

Akzeptieren, dass es so schwierig ist wie es ist statt schönzureden oder zu tun, als ob alles prima wäre….

Die Beziehung als Tanz auf der Bühne imaginieren…

Sich in die Schuhe der Eltern stellen: die eigene Lebensgeschichte aus der Sicht der Mutter oder des Vaters erzählen…

Loslassen: nicht mehr um die Beziehung ringen, sondern sich mit Freude anderen Dingen zuwenden…

dDie Bedeutsamkeit der schwierigen elterlichen Beziehung relativieren…

Sich selbst und die eigenen Bedürfnisse, vielleicht erstmals, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellen…

Nicht mehr darauf hoffen, dass sich die Eltern ändern, sondern sich selbst altiv zu verändern…

Die Kontrolle über das elterliche Verhalten ( zum Beispiel Trinken) loslassen…

Sich nicht länger selbst die Schuld geben…

Scham überwinden: mit anderen sprechen statt sich hinter Burgmauern zu verbarrikaridieren.

Perspektivwechsel brauchen Zeit, Mut und Veränderung, immer einen ersten Schritt, sei er auch noch so klein. Welcher Schritt soll der Ihre sein?

Eine erfüllende Herbstzeit mit sonnigen Momenten wünscht

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Stress im Doppelpack – Sucht meets Beziehungsabhängigkeit

Wenn Sucht/ psychische Erkrankung und Beziehungsabhängigkeit sich vermählen, bedeutet das für Kinder, die aus dieser Ehe hervorgehen, meist Stress im Doppelpack.

Wenn ein Elternteil eine schwere Belastung in die Familie bringt, etwa eine Sucht, eine psychische Erkrankung o.ä., so steht dieses Elternteil, wenn es um die Einschätzung der eigenen kindlichen Belastung geht,  im Fokus.  Wenig im Blick ist dann oftmals, dass auch der andere Elternteil, dessen Belastung  vielleicht weniger augenfällig ist, entscheidend dafür sein kann, wie Sie sich als Kind fühlten und entwickelten. War wenigstens ein Elternteil gesund und stabil, wird dies eine besonders wichtige Säule in Ihrem Leben gewesen sein oder auch aktuell noch sein. Ist der 2. Elternteil  ebenfalls erkrankt oder belastet, so potenziert sich die Belastung für die Kinder, wie Studien und Forschungen eindrücklich zeigen; das Risiko für eigene Erkrankung und Folgen für mitbetroffene Kinder steigt, die Lebensqualität beschreiben Betroffene als außerordentlich belastet.

Eine besondere Bedeutung kommt dem Maß der Abhängigkeit zu, in dem sich die Eltern miteinander befinden. Wenig erkannt und untersucht ist bislang, wie weitreichend die Auswirkungen einer belasteten Kindheit sind, wenn zur sucht/und-oder psychischen Erkrankung des einen Elternteils eine Beziehungsabhängigkeit des anderen Elternteils kommt, die in den Bereich der Bindungsstörung einzuordnen ist (Und manchmal als zusätzliche Erkrankung des Sucht-psychisch Erkrankten, auch Co-Morbidität genannt, auf beiden Seiten dazu kommt). Während ein stabiler Elternteil die Belastungen und Zumutungen, die durch die Sucht des einen Elternteils entstehen, nur bis zu einer bestimmten Obergrenze der Zumutbarkeit ertragen wird, kann tiefverwurzelte Beziehungs-Abhängigkeit ( oft des zweiten Elternteils) eine gefährliche Dynamik entfachen. Sie ist gleichsam das unsichtbare Öl im brennenden Feuer. Kindern wird unwissentlich, oft ohne Worte, vermittelt: Wenn wir Eltern uns trennen, werden wir alle katastrophal untergehen. Die Kinder lernen in diesen unguten Doppelbelastungskonstellationen, dass es kein Entkommen gäbe: Das Beieinanderbleiben wird zum obersten Wert, wichtiger als die Würde und die Gesundheit der Familienmitglieder, vor allem der Kinder. Diese Dynamik wurde zunehmend in Suchtfamilien beschrieben ( v.a. Rennert, Flassbeck, Wilson-Schaef, Barnowski-Geiser), es reicht jedoch über diese hinaus: sie betrifft alle Familien, in denen Eltern mit hochproblematischen Bindungsmustern schwierige Beziehungen eingehen (Barnowski-Geiser/Geiser-Heinrichs 2017)

Die Kinder drohen diese existenziellen Bindungs-Abhängigkeitsmuster mit in ihr Erwachsenenleben zu nehmen, erlebten sie doch kein Modell, das Autonomie und Eigenständigkeit vorlebt, erfuhren sie doch in ihren großen Nöten kaum angemessene Zuwendung oder Trost. Dies erschwert gesundes Erwachsenenleben ungemein, dies erschwert, reife Erwachsenenbeziehungen und Bindungen einzugehen, dies erschwert, notwendige Trennungen nicht als alles zerstörenden Abgrund zu erleben, vor dem Betroffene dann fortwährend auf der Flucht sind: indem sie sich nicht mehr binden, nur oberflächlich binden, starke Ängste ( Eifersucht etc.) entwickeln oder die Ängste in Süchten kompensieren.

Wenn Sie an sich selbst feststellen, das Sie immer weiter an Menschen festhalten, die Ihnen eher schaden als gut tun, kann der Blick auf die Dynamik zwischen Ihren Eltern wichtig werden. Erkannte Beziehungsabhängigkeit kann gewandelt werden, wenn es möglich wird, sie zu benennen und beschreiben… und vor allem: sie muss dann nicht von Generation zu Generation als unvermeidbares Vermächtnis weitergegeben werden. Der ehrliche, umfassende Blick auf uns selbst, verstehen können, wer und wie wir wirklich sind, führt meist in die Generation vor uns: nicht, um Schuld zu verteilen und anzuklagen, sondern um im Verstehen der generationalen Dynamik Neues im Jetzt und für die Zukunft möglich werden zu lassen.

Eine gute Woche

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Gut in Deckung? Vom Schutz in familiären Dauerstürmen und anderen Katastrophen

Wenn Herr N, 34 jähriger Mathematiker, die Atmosphäre in seiner Herkunftsfamilie beschreibt, dann könnte man denken, man habe es mit einer Katatstrophenmeldung zu tun. „Meine Mutter ist ein Tornado!“, erzählt Herr N, „Wenn sie loslegt, fühlen wir uns alle vernichtet, kein Stein steht mehr auf dem anderen. Und das Schlimme ist: nach dem Tornado ist vor dem Tornado.“

Elterliche Tornados können tiefe Spuren hinterlassen ( Buch zum Thema).In Kindern, die die Kindheitsjahre hindurch mit einem besonders schwierigen Elternteil überstehen mussten (und manchmal dieser Belastung weit ins Erwachsenenalter hinein ausgesetzt sind), können diese Erfahrungen  nachhaltig wirksam bleiben, insbesondere, wenn sie über Jahrzehnte, oftmals ohne jede Zuwendung von Außen durchlebt werden mussten. Oft haben diese Eltern selbst als Kinder Dinge erlebt, die sie nicht verkraftet haben: ihr Blick auf ihre elterlichen Aufgaben, die sich z.B. mit Trösten und Halten, mit einfühlendem auf das Kind Eingehen beschreiben lassen, ist dann meist verstellt. Im Gegenteil fordern diese Eltern diese Qualitäten sogar von ihren Kindern selbst ein.

Was tun? Schutz ist von Nöten. Kinder verfügen teils über günstige Widerstandskräfte. sogenannte Resilienzen. Was tun, wenn die Belastung bis ins Erwachsenenalter anhält? Schauen wir pragmatisch. Was rät man Menschen, die in klimatisch schwierigen Gegenden reisen wollen: möglichst die Gegend meiden. Menschen, die dort beheimatet sind, rät man fortzugehen, wenn möglich oder entsprechenden Schutz aufzubauen ( die Seele findet Wege, indem sie etwa nicht mehr wahrnimmt)- aus therapeutischer Arbeit kennen Sie vielleicht die Arbeit mit imaginären Schutzräumen ( dazu auch Bücher von Reddemann und Huber empfehlenswert). Als Kind können die meisten nicht fort, als Erwachsene jedoch gibt es, auch wenn sich das oftmals anders anfühlt, eine Wahl: Distanzieren kann dann eine not-wendige Option sein. In Ambivalenz zwischen Liebe und Lösen gefangen, stellt dies eine schwierige Herausforderung für Betroffene dar.

Wenn das Leben der Liebe zum erkrankten Elternteil regelmäßig in Zerstörung und Selbstaufgabe mündet, kann es an der Zeit sein, das Kontaktmaß auf ein erträgliches Maß zurückzustufen und so Belastung zu reduzieren ( s.a. Beziehungs-Entlastungs-Diagramm). Herr N beschreibt, dass es ihm helfe,  das Geschehen zu Hause heute endlich zu begreifen… Worte zu finden… die Schwierigkeit bei der Mutter und weniger bei sich selbst zu suchen..und zu wissen, dass er nicht so viel Kraft habe, jeden mütterlichen Tornado mitzuerleben- Selbstschutz durch weniger Besuche laute sein Rezept. Er sei jetzt achtsam auf Tornados gefasst…

Liebe Grüße und Bestes für eine gute Woche

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

 

Fühle…und verändere dein Leben

Wenn die kindliche Seele chronisch belastet und überfordert wurde, geht das nicht spurlos vorbei: Kindheitsbelastung hat oft zur Folge, dass Betroffene nicht mehr fühlen. Zu unangenehm und belastend die negativen Gefühle der Kindheitstage: der für die Seele notwendige Schutz  durch „nicht mehr Fühlen“ kann in  einer allgemeinen Gefühllosigkeit münden (fachlich Anästhetisierung genannt): Betroffene spüren so  etwa ihre Trauer und Schmerz nicht mehr, aber tragischer Weise meist auch ihre positiven Gefühle nicht. Leere und Dumpfheit belasten ihren Alltag. Oft versuchen Betroffene diesen Gefühlen zu entfliehen, verständlich-; etwa indem sie immer mehr Reize suchen: neue Arbeitsstellen, neue Menschen, extreme Abenteuer, Horrorfilme oder Gewaltspiele… all dies soll  die Gefühle ermöglichen, die ihr Alltag ansonsten kaum hergibt.  Ihre Lebensqualität ist extrem verschlechtert. Denn: Immer, wenn sie mit Gefühlen in Berührung kommen, auch mit positiven, springt die Negativfühlseite an: Fühlen tut weh! Ein frustrierendes Hamsterrad, aus dem oft ohne professionelle Hilfe schlecht auszusteigen ist. Ein Weg, positive Gefühle zurückzuerobern, sind positive neue Erfahrungen im Jetzt, wie es manche Betroffene in der Arbeit mit kreativen Medien wiedergewinnen: singen, malen ,musizieren werden zur Kraftquelle und Ressource für das anders Fühlen- im kreativen Tun kann Abgespaltenes ( „dissoziertes“) integriert werden.

Vielleicht achten Sie in dieser Woche einmal besonders darauf, wie es um Ihr eigenes Fühlen steht…bei welchen Aktivitäten empfinden Sie gute Gefühle… geben Sie diesen Aktivitäten mehr Raum:  Ihr Gehirn ist nutzungsabhängig. Sie können durch positive Erfahrungen heute neue emotionale Verschaltungen möglich machen. Wenn sie  Ihre emotionalen Hirnareale weiterhin nicht nutzen, versanden diese bildlich gesprochen, sie verkümmern: alles fühlt sich öde und leer an.

Wie Sie negativ besetzte Gefühle womöglich nutzen und wandeln können, dazu mehr im nächsten Beitrag.

Herzliche Grüße

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

„Ich habe doch nur mitgetrunken, um meinen Mann besser steuern zu können!“

„Ich habe doch nur mitgetrunken, um meinen Mann besser steuern zu können!“, erzählt eine Angehörige (Flassbeck 2016, MuG). In diesem Satz zeigt sich die ohnmächtige Verstrickung von Angehörigen auf erschreckende Weise. Jens Flassbeck untersucht diese in seinem Artikel in der neuen MuG  anhand eines Praxisbeispiels eindrücklich: Co-Abhängigkeit live und anfühlbar. Nur langsam arbeitet es sich in die Szene der Behandler vor: dass auch die Angehörigen, hier vor allem Kinder, die erwachsenen Kinder und Partner von sucht-und psychisch erkrankten Menschen, selbst dringend Hilfe benötigen: Hilfe, die spezifisch auf sie zugeschnitten ist, von Behandlern, die sich in diesem sich erst langsam  etablierenden neuen Themenfeld  professionell auskennen. Allzu lange wurden die Angehörigen von sucht-und psychisch erkrankten Menschen eher in die Ecke der Verursacher von Erkrankung gestellt, einbezogen in die Therapie wurden sie dann lediglich im Blick auf den Erkrankten- weniger, um ihr eigenes Leid, ihre eigenen Beziehungsmuster etwa, aufzuarbeiten.

Diesem Themenkreis hat Jens Flassbeck auch zwei lesenswerte Bücher gewidmet. Leser können umfassend aus den reichen Erfahrungen des in einer Suchtklinik tätigen Psychologen profitieren.

Cover MuG 29 Musiktherapie und sucht

Ihre neue Ausgabe der Zeitschrift von Musik und Gesundsein widmen die Herausgeber, v.a. Professor H.H. Decker-Voigt nebst Gattin, ebenfalls dem Thema Suchtbelastung mit zwei Leitartikeln:

Gegen den Strom schwimmen lernen
Der co-abhängige Fall Frau Freundlich
Jens Flassbeck

Tabu trifft … Musiktherapie. Zur Arbeit mit Kindern
und erwachsenen Kindern suchterkrankter Eltern
Waltraud Barnowski-Geiser

http://musik-und-gesundsein.net/95-mug-ausgaben/mug-29-musiktherapie-und-sucht/212-editorial

Buchdeckel „978-3-608-86045-0Buchdeckel „978-3-608-89106-5

Anregende Lesenszeiten und eine gute Woche wünscht

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

 

An unsichtbaren Fäden des Gestern:Wenn Schuld das Leben bestimmt

Ein Gefühl, das Menschen mit Kindheitsbelastungen von der Kindheit bis ins hohe Erwachsenenalter beschäftigt, ist Schuld. Schuld ist hier gemeint als sich schuldig Fühlen, im Sinne einer inneren Bewertung .

„Das heißt, dass ein erlebtes Schuldgefühl nicht gleichsam bedeutet, dass diejenige Person, an der man scheinbar schuldig wurde, sich selbst als jemanden erlebt, dem etwas angetan wurde. Das Quälende der Schuldgefühle besteht gerade darin, sich ohne äußerlich erkennbaren Grund maßlos schuldig zu fühlen.“ (Musiktherapeutin Gitta Strehlow, 2005)

Auch die therapeutische Szene hat an diesen Entwicklungen keinen unerheblichen Anteil: lange Zeit wurden etwa im suchttherapeutischen Bereich Angehörige vielmehr als Verursacher von Krankheit angesehen (hier von Sucht), anstatt als diejenigen, die etwas erliiten. Erst in neueren Ansätzen werden spezifisch an Angehörigen orientierte Konzepte verfolgt (u.a. Flassbeck, Barnowski-Geiser).

In ihren Erklärungszuschreibungen erleben sich Betroffene diffus, beschreiben das Schuldgefühl als „einfach da“, abseits aller logischen Erklärungen. Bei vielen Kindern findet eine Umleitung statt, indem sie ihre Belastung verschieben und sich selbst als belastend beschreiben, sich damit „schuldig machen“. Manche Kinder äußerten während fortlaufender Therapie  heftige Schuldgefühle, die sogar mit Todeswünschen einhergingen. Oftmals leiden sie unter einem existentiellen Erleben von „Nicht- Gewollt- Sein“. Betroffene glauben, sich das Recht ihrer Existenz und Anwesenheit erst erarbeiten zu müssen. In diesen inneren Konstruktionen wird Eltern ein hohes Zugriffrecht zugebilligt. Erwachsene Betroffene glauben, weit über die Kindheit hinaus für ihre Herkunftsfamilie zur Verfügung stehen zu müssen: eben einfach, weil  sie sich auf ihnen selbst nicht bekannte Art und Weise schuldig gemacht hätten. Derart Betroffene scheinen diese Schuld förmlich abarbeiten zu müssen, was  eine innere Loslösung sowie Autonomiebestrebungen fast unmöglich erscheinen lässt – zumindest solange dieser Mechanismus ihnen nicht bewusst wird..

 „Und ich war ihrer Ansicht nach schuld, dass sie immer mehr trank, weil das mit mir alles nicht auszuhalten war… So äußerte sie sich… und sie sagte mir auch, dass sie, wenn sie im Auto saß, schon oft daran gedacht hatte, gegen die Wand zu rasen – wegen mir. Heute macht mich das wütend!“ (V16,HerrI.,40 Jahre).

Frau O., die sich nach ihren Erzählungen von ihrer Herkunftsfamilie deutlich gelöst habe, da es unter Alkoholeinfluss wiederholt zu sexuellen und gewalttätigen Übergriffen durch den Vater kam, wenig Loyalität durch Mutter und Geschwister gegeben habe, stellt ihre Herkunftsfamilie mit Tieren nach. Für sich selbst wählt Frau O. ein schwarzes Schaf, das die Aufschrift trägt:  ‚Welcome’. Diese Aufschrift fällt ihr erst durch einen Hinweis der Therapeutin auf. Frau O stellt sehr verwundert fest: „Und doch ist es genau so, wie ich es hier gewählt habe. Weil ich benannt habe, was sich sehe, war ich das schwarze Schaf meiner Familie, und doch würde ich bis heute alles tun, wenn meine Familie in Not ist. Ich fühle mich tief in der Schuld, die ich nicht erklären kann!“ (V17,Frau O., 46 Jahre)

Zitiert nach Barnowski-Geiser 2009: Hören, was niemand sieht

Schuld mobilisiert aktive, selbstkontrollierte Versuche, etwas wiedergutmachen zu können.“ (Strehlow 2005) Der Wunsch, sich für die Herkunftsfamilie einsetzen zu wollen, ist bei Betroffenen  besonders stark. Besonders bei Kindern, die ihre kranken Eltern durch Tod verloren haben, werden Schuldfragen existenziell. Auch berichteten betroffene Kinder von anderen Familienmitgliedern (in der näheren und erweiterten Verwandtschaft), die ihnen Schuld am Tod  eines erkrankten Elternteils zuschrieben. Manche Familiensysteme sind durch Tod oder Selbstmord eines Erkrankten offenbar so stark traumatisiert, dass es dann darum geht, die Schuld von sich selber  „wegzubekommen“. Im Sinne von ‚Angriff ist die beste Verteidigung’ scheuen so offenbar weder Großmütter davor zurück, ihre Enkel in der Verantwortung für den Tod des Erkrankten zu beschuldigen, wie Geschwister einander, Väter ihre Töchter: sicherlich ein Ausdruck allerhöchster familiärer Not.

Kann das Schuldthema nicht aufgedeckt werden, zeigte es sich bei Betroffenen als lebensbestimmende Triebfeder des eigenen Handelns: verschleißende und sich selbst missachtende Muster, einer Selbstbestrafung gleichendes Verhalten waren die Folge.  Auch Raubbau mit dem eigenen Körper, ein wenig liebevoller, fast an Selbstverachtung grenzender, nicht gesundheitsförderlichen Umgang mit sich selbst geht oftmals mit ungelösten Schuldzuschreibungen einher.

Beitrag in Anlehnung an Barnowski-Geiser:Hören, was niemand sieht 2009

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Weitere Zitate aus

Mussten Sie auch Ihren eigenen Eltern Eltern sein?…wenn Kindsein einfach ausfällt

 

Fällt es Ihnen schwer, kindlich und verspielt zu sein? Tun Sie sich schwer mit Leichtigkeit? Dann kann es sein, dass Sie allzu früh den Ernst des Lebens leben mussten allzu früh Verantwortung in Ihrer Familie übernahmen – für bedürftige Eltern oder andere Familienmitglieder, vor allem auch für Geschwister. Selten wird diese frühe Überforderung durch die Familie gewürdigt. Meist wird die Leistung der Kinder dann sogar von den Eltern kritisiert und herabgestuft – man tut so, als wäre das normal, dass Kinder Erwachsenenarbeit tun. Für viele Betroffene endet dies in chronischen Gefühlen von Überforderung und Erschöpfung, zugleich können Sie sich als Erwachsene selbst wenig Wertschätzung entgegenbringen für all das, was Sie meist immer noch im Übermaß leisten und tun. Das für andere Dasein wird zur zweiten Haut, was sich auch in der Übernahme starrer Rollenmodelle im Erwachsenenalter zeit: Mutter Teresa, Robin Hood, Superman etc. (Barnowski-Geiser: Vater, Mutter, Sucht 2015) werden zu einem Korsett, an dem sich Betroffene dann verzweifelt festhalten. Ein Korsett, das sie aus großer Not heraus viel zu früh anlegen und schwerlich ablegen können, scheinen sie doch nur als Heilige und Retter wirklich Bestätigung und Wertschätzung zu erfahen, überhaupt Bedeutung zu erlangen. Im Titel Vater, Mutter, Sucht klingt es an: die Erkrankung (hier die Sucht) nimmt in den Familien den Platz ein, der eigentlich den Kindern zusteht.

Wie sehr sich das bis tief in die eigene Identität webt, zeigt die Arbeit mit Sammy.In seiner Traumreise begegnet Sammy seiner gegenwärtigen Rolle erneut, dadurch wird sie ihm erstmalig bewusst:

Der 14jährige Sammy sorgt bereits seit Jahren für seine Geschwister…Während einer Imagination mit der R.L.M. -Methode (Methode der Rezeptiven Musiktherapie) reist der 14jährige Sammy imaginär in sein Traumland. Hier trifft er einen alten weisen Mann, den er um Rat zu seiner augenblicklichen Situation fragen kann. Er erzählt anschließend: „Ich konnte dem alten Mann helfen, er war froh, dass ich kam, weil er konnte sein Holz nicht mehr tragen und fühlte sich so alleine. Da habe ich ihm seine Wohnung aufgeräumt und Feuer gemacht und er konnte mir auch mal alles erzählen, was ihn so belastet.“ Ich frage, ob er denn auch etwas von dem weisen Mann bekam. „Nee!“, sagt Sammy, „Ich helfe meistens den anderen, auch den Erwachsenen.“ Nach einigem Überlegen sagt er: „Hier in der Therapie ist es das erste Mal, dass ich zugebe, selber Probleme zu haben und mir dabei helfen lasse.“ (Sammy, 14 Jahre zit. nach Barnowski-Geiser (2009) Hören, was niemand sieht).

In kleinen Schritten, auch mit Unterstützung seiner Eltern, die für seine Helferproblematik sensibilisiert werden konnten, konnte Sammy allmählich sein Helferkorsett ein wenig lockern. Dieses De-Parenting (wieder kindlich werden) ist Teil der Arbeit nach dem AWOKADO-Konzept. Betroffene Kinder benötigen frühzeitig Orte, an denen Sie selbst unbeschwert Kind sein dürfen. Erwachsene müssen einerseits achtsam sein, ob sie in einer der klassischen Rollen gefangen sind und immer noch im alten Korsett stecken (vielleicht nur in einer anderen Beziehung als früher- und das fühlt sich lange Zeit sehr vertraut und richtig an).Und sie müssen suchen, wie und auf welche Weise sie ihren kindlichen Anteil nachholen können: Übungen dazu finden Sie auch auf dieser Seite. Kreativ Sein ist ein wichtiger Schlüssel zu mehr Leichtigkeit, zu einem Mehr an kindlichen Anteilen in Ihrem Leben. Auch wenn es schwerfällt, steckt hier ein großes Potenzial für ein Leben, das Sie so mit mehr Lebensqualität füllen können.

Dr. Waltraut Barnowski-Geiser ist Therapeutin, Lehrende und Autorin. Vater, Mutter, Sucht (2015) und Hören, was niemand sieht (2009) sind ihre Bücher zur Thematik. In der Praxis KlangRaum in Erkelenz bietet sie Hilfe für Menschen mit Kindheitsbelastungen auf der Basis des von ihr entwickelten AWOKADO-7-Schritte-Programms

Belastete Familie…im Spiegel zwischen Abgrund und Nicht-Ort

In der Indianischen Weisheit ging man davon aus, dass Menschen ein wenig so werden, wie der Ort, der sie umgibt. Der Schriftsteller Franz Kafka, von dem unser Wochenimpuls stammt, kann als Meister des Abgründigen gelten. Zeit seines Lebens hat er bei seinen Eltern gelebt (und das war in der damaligen Zeit für unverheiratete Männer nicht unüblich): er hat offenbar in seiner Familie sowohl „am Abgrund“  gelitten (ein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater wird aus seinen Tagebucheinträgen als gesichert angenommen) und sich zugleich an diesem Ort Familie in besonderem Maße selbst erfahren – einige seiner Werke dokumentieren die schwierige Beziehung zu seinem Vater. Kafka empfiehlt, trotz und im Angesicht seiner eigenen Schwierigkeiten, in den familiären Abgrund zu schauen.

Wenn Menschen in belasteten Familien aufwachsen, dann empfinden sie den Blick auf ihre Herkunftsfamilie ebenfalls oft abgründig. Es kostet sie großen Mut, in den familiären Abgrund der eigenen Kindheit zu schauen. Vor allem scheint dieser mutige Blick eine Frage des geeigneten Zeitpunktes zu sein. Und erst dieser Blick, der genau wahrnimmt, was denn diesen Abgrund ausmacht, ermöglicht oftmals, wirklich zu verstehen, wer sie selbst sind und wie sie zu dem geworden sind, was sie heute ausmacht.

Was heißt das für Betroffene? Nehmen wir zum Beispiel eine Suchtfamilie: Kinder süchtiger Eltern beschreiben diesen Abgrund genauer. Atmosphäre und Familiendynamik lassen diese Familien offenbar zu Orten mit besonderen Merkmalen werden. Jede Familie ist anders und individuell, und doch zeigt der Ort Suchtfamilie typische Ortskennzeichen, die vielen Familien gemeinsam sind (nach Barnowski-Geiser 2015: Vater, Mutter, Sucht 2015):

  • Nicht-Ort: es wird so stark tabuisiert, das es angeblich keine Probleme gibt

  • Extrem-Ort: alle bewegen sich an kaum zu bewältigenden Grenzen und Extremen. Typisch sind Gefühlsachterbahnen, von denen alle so tun als gäbe es sie nicht

  • Arena: die Familienmitglieder kämpfen um die Sucht und deren Aufgabe, sie kämpfen um ihre eigenen Identität und um den Erhalt der Familie

  • Brutstätte der Sehnsucht: der chronische Mangel im „Nest“ wird Motor für eine beinahe rauschhaft anmutende Suche nach Liebe und Zuwendung, nach gesehen, gehört und erkannt werden

  • Festung oder Burg: nichts darf von Innen nach Außen dringen und manchmal darf niemand hinein, niemand hinter die Burgmauern schauen.

Nehmen wir die indianische Weisheit ernst, so werden auch Menschen aus belasteten Familien etwas von dem familiären Ort annehmen, der sie umgab:

  • Burgbewohner werden demnach ein wenig (oder mehr) versteinern, unzugänglich und verschlossen sein. Oft werden sie als Erwachsene neuerlich Geheimnisträger
  • Arenabewohner wachsen heran zu unermüdlichen, vielleicht sehr tapferen Kämpfern,
  • am Nicht-Ort-Lebende neigen im Angesicht von Schwierigem zum Verleugnen, werden „auffällig unauffällig“ in einer „Hier ist doch gar nichts!-Mentalität“
  • Bewohner der Brutstätte der Sehnsucht werden ewig Suchende nach Liebe – eine Suche, die sie oftmals auch in eigene Süchte katapultiert.
  • Extrem-Ort Erwachsene wirken oft wie Grenzgänger: Wanderer zwischen extremen Beziehungen, extremen Stimmungen, Emotionen und Lebensformen

Neurowissenschaftliche Untersuchungen belegen diese alte indianische Weisheit: unsere kindlichen emotionalen Erfahrungen werden neuronal abgespeichert, sie können zu prägenden Bahnungen im Gehirn führen. Wenn wir also ein Verständnis für uns und unser So-Sein entwickeln wollen,wenn wir begreifen wollen, warum wir genau so, in unserer Art und Weise in der Welt sin,d kommen wir, so anstrengend es scheint, kaum am Abgrund Herkunftsfamilie vorbei. Wenn wir um diesen Abgrund wissen, kommen wir weiter: wir können ihn besteigen, erkunden, umgehen, ihn nutzen, überspringen, umtanzen, vielleicht sogar überfliegen. Und auch sehen, mit welchen uns hier ebenso zu eigen gewordenen Stärken wir ihn überstanden haben.

Vielleicht nutzen Sie das bevorstehende Wochenende zum „Klarblick“ auf Ihre Herkunftsfamilie: mit dem Abstand des heute Erwachsenen. Wenn der Abgrund sie sehr ängstigt, Sie zu verschlingen droht, ist mehr Sicherheitsabstand gefordert: noch! Der ideale Zeitpunkt wird sich Ihnen eröffnen, wenn Ihre Seele zum Klarblick bereit ist! Vertrauen Sie auf die Weisheit Ihrer Seele.

Eine gute Woche wünscht

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Heilung braucht Hoffnung

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„Glaube kann Berge versetzen!“ Diese Volksweisheit ist  für Menschen, die eine tiefgreifende Kindheitsbelastung erfahren haben, von besonderer Bedeutung. Viele erwachsene Kinder aus belasteten Familien haben früh Verletzungen  ihres Glauben und Hoffens erfahren. Als Erwachsene möchten sie die Folgen dieser Kindheitsbelastung verständlicherweise endlich hinter sich lassen. Wie dies auf gute Weise gelingen kann, darüber herrscht oft Ratlosigkeit, selbst bei Ärzten und Therapeuten. Schauen wir an, was Menschen als heilend auf ihrem persönlichen Weg beschreiben, so fällt auf: Wege zur Heilung sind vielfältig und individuell. Es gibt nicht  „das“ Rezept. Ob in Forschungen oder in therapeutischer Arbeit, immer jedoch zeigte sich eine Fähigkeit als zentral auf dem Weg zur Heilung: die Fähigkeit, zu hoffen. Das klingt schlicht und einfach… und ist doch für Menschen mit schweren Kindheitsbelastungen eine der schwierigsten Herausforderungen. ….mehr lesen

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Dr. Waltraut Barnowski-Geiser ist Therapeutin und Autorin.

Ihre Bücher zum Thema: Vater, Mutter, Sucht (2015) und Hören, was niemand sieht ( 2009).

Arbeit und Unterstützung nach dem AWOKADO-Hilfe-Konzept (auch in individuell zugeschnittenen Kompaktblöcken) in ihrer Praxis KlangRaum in Erkelenz

Ernte! Dennoch…

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„Ernten? Ich?“

Etwas zu ernten, hier im übertragenden Sinne angesprochen, ist vielen erwachsenen Kindern von chronisch erkrankten Eltern fremd. Oftmals rackern diese Kinder auch als Erwachsene unermüdlich, auch außerhalb Ihrer Familie. Doch wenn es darum geht, die Ernte einzufahren, zu bekommen, das Erarbeitete zu genießen, dann sind sie nicht dabei: sie rackern und säen (um im Bild zu bleiben) entweder schon längst woanders (verkörpert auch in der Rolle des himmlischen Kindermädchens Mary Poppins (beschrieben im Buch Vater, Mutter, Sucht/Barnowski-Geiser 2015)  oder jemand anderes erntet das eigentlich ihnen Zustehende. Ernten haben Kinder aus belasteten Familien selten gelernt. Wie kommt das?

Gerade, wenn die elterliche Erkrankung chronisch verläuft, womöglich noch tabuisiert und verschwiegen wird, ist es für die früh mitbetroffenen Kinder schwierig, sich um die eigene Ernte zu kümmern. Einserseits sind sie ganz und gar mit der Rettung der erkrankten Eltern beschäftigt.Wenn über Jahre keine elterliche Heilung eintritt, eine Krise vielmehr die andere jagt (oftmals über Jahrzehnte), gerät das eigene Säen und Ernten aus dem Blick.Zugleich wird das eigene Tun dann als erfolglos eingestuft. In ihrer Zuschreibung bewerten sich betroffene Kinder  sogar vielmehr als „Versager“, „schuldig“ etc… Solange lediglich das Ende der elterlichen Krankheit ( etwa Sucht) in der Selbstzuschreibung als „Ernte“ eingestuft wird, geht sprichwörtlich ihre Saat nie auf: also gehen diese Betroffenen über Jahre leer aus. All das, was sie „gesät“ haben, wird von den anderen in der Familie, die selbst überfordert sind, übersehen, von ihnen selbst in der Folge vergessen.

Oft haben Betroffene viel Gutes gesät: ihre Geschwister versorgt und emotional gestützt, obwohl sie selbst belastet waren… Den Kranken gestärkt und betreut…Zwischen den streitenden Eltern vermittelt, wieder und wieder…

Oftmals sind Betroffene verbittert, weil niemand in der Familie ihre Leistung gewürdigt hat – sie drohen verbittert und handlungsunfähig zu werden. Für andere ist ihr eigenes Leiden zum Motor geworden, zu helfen. Oftmals sind aus diesem aus der Not entstandenen familiären Tun besondere Stärken und Wesenszüge gewachsen, die mit hohen sozialen Qualitäten einhergehen: etwa eine große Einfühlungsfähigkeit, besondere Helferqualitäten, Sorge für das Gemeinwohl, künstlerische Ausdrucksfähigkeit, Organisationstalent etc ( s.a. Die Stärken der Suchtkinder)

Kreativ-Coaching Fahre deine Ernte ein

Nutzen Sie vielleicht die langen Abende in der beginnenden Herbstzeit, wandern Sie ein wenig mit dem Bild des Erntens umher…finden Sie einen vorgestellten Ort, an de Sie Ihre Erntegut unterbringen wollen…vielleicht passt ein großer Rucksack oder auch eine große Halle… Machen Sie sich damit vertraut und schreiben Sie nun auf:

Was nehmen Sie als Erntegut aus Ihrer Familie mit?

Welche Samen haben Sie gesät, welche möchten Sie neu oder weiter ausstreuen? Gestalten Sie ein Bild dazu.

Was können oder konnten Sie außerhalb Ihrer Familie ernten?

Welche Erntegüter brauchen weitere Unterstützung zum Weiterwachsen?

Welche Umgebung braucht Ihr Rucksack oder Ihre Erntehalle? Malen Sie die Umgebung, die Ihre Ernte braucht? Wo wird Sie ungenießbar?

Malen Sie einen imaginären Schutz!

Eine gute Woche wünscht

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Vater, Mutter, Sucht – Wie erwachsene Kinder suchtkranker Eltern trotzdem ihr Glück finden.

Vater, Mutter, Kind: dieses alte Kinderspiel erfährt in Familien mit Suchtkranken eine tragische Abwandlung. Wenn Eltern suchtkrank sind, nehmen ihre Kinder einen anderen Platz ein, als es bei Kindern mit gesunden Eltern der Fall ist. Bei einem Menschen, der an einer Sucht leidet, kommt diese immer an erster Stelle. Die Sucht nimmt den Platz ein, der eigentlich den Kindern zusteht. Das Handeln des Süchtigen ist nicht auf seine Kinder, sondern auf sich und das Suchtmittel konzentriert, letzteres ist bei Suchtkranken der Dreh- und Angelpunkt. Wie und wann ist das Suchtmittel zu bekommen? Wie ist es zu vermeiden. Das sind die Fragen, die den Alltag bestimmen. Die Gedanken eines alkoholkranken Elternteils kreisen letztlich nur darum, wie er an Alkohol kommen kann, der Tablettensüchtige denkt ständig an seine Tabletten, der Drogensüchtige an seinen Stoff, der Workaholic an seine Arbeit usw. Dies bleibt nicht ohne Folgen für das System, für die Umgebung, in der Suchtkranke leben, hier vor allem für die Familien. Der Gebrauch des Suchtmittels greift in das Familienleben ein, bestimmt, wie die Mitglieder zusammen leben können oder eben auch nicht mehr.Featured image
So bekommen Kinder aus Suchtfamilien ungewollt einen Platz zugewiesen, der ihnen wenig gerecht wird. Die mit der elterlichen Sucht einhergehende Belastung wird nie mehr von ihnen weichen, denn wie eine Betroffene es ausdrückte: »Suchtkind bleibt man ein Leben lang!« Selbst wenn sie das Elternhaus schon lange verlassen haben oder der süchtige Elternteil verstorben ist: Sucht gleicht einem Zombie, der die Seelen der Kinder zu zerfressen droht – und das unbemerkt. Die Menschen aus dem Umfeld werden leicht zu Statisten, zu hilflosen Zuschauern, die unbeteiligt wegsehen, weil das Leid und die Ohnmacht zu unfassbar erscheinen, nicht begreifbar, nicht veränderbar. So sehen Erzieher/innen, Lehrer/innen und Nachbarn in der Regel untätig zu, während sich hinter den verschlossenen Türen der Suchtfamilie womöglich tagtäglich Dramatisches abspielt. Die Kinder dürfen nicht über ihr Leid sprechen, die Eltern schweigen aus Scham. Wenn sie doch mit ihrer Sucht an die Öffentlichkeit gehen, finden sie vielleicht einen Platz, an dem ihnen geholfen wird, ihre Kinder dagegen bleiben meistens selbst dann noch auf tragische Weise im Abseits.
Kommt die Sucht, wie so oft, nicht laut, sondern mehr schleichend, leise daher, wird es noch schwieriger, sie zu erkennen. Die Belastung für die Betroffenen nimmt immens zu, denn sie fragen sich, ob es diese Sucht überhaupt gibt oder gab, ob sie sich diese nur einbilden. »Ist das nicht normal, was meine Eltern da gemacht haben!«, lautet dann die Frage der Verunsicherten, oder: »Ist es nicht normal, dass Mama täglich Tabletten nimmt, die sie doch braucht!«, »Ist es nicht normal, ein paar Bier zu trinken?«, »Ist es nicht normal, auf sein Gewicht zu achten?« Oft noch als Erwachsene sind die Kinder suchtkranker Eltern tief verunsichert.

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Übung 4: Bin ich ein „Suchtkind“?

Vielleicht fragen Sie sich, ob sie selbst zum Kreis der betroffenen Erwachsenen gehören, die hier (auch im Buchtitel) angesprochen werden. Das wäre sehr typisch für die Art und Weise, wie erwachsene Kinder aus Suchtfamilien mit ihrer Kindheitsbelastung umgehen. »Suchtkinder«, wie ich erwachsene Kinder suchtkranker Eltern hier im Folgenden nennen möchte, nehmen oft grundsätzlich an, dass dieses Thema aus Kindertagen erledigt sei, und zum anderen, dass sie keine Probleme haben, oder wenn doch, dass diese Probleme (Symptome etwa körperlicher Art) nichts mit der früheren Situation in der Herkunftsfamilie zu tun haben. Dies kann ein tragischer Fehlschluss sein, mit weitreichenden Folgen für Ihre Lebensqualität…

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Zitate aus Befragungen (2008/2009; 2015) im Folgenden unkommentiert: Vielleicht finden Sie sich oder jemanden, der Ihnen wichtig ist, in diesen Aussagen wieder?

Die nachfolgenden Zitate stammen von Erwachsenen, die über mehrere Jahre mit suchtkranken Eltern gelebt haben:

„Es (das Suchtverhalten/ Anm. d.Verf.) war in unserer Familie zu einem stummen Thema geworden!“/Frau L.

„Es ging fortwährend darum, dass wir nach Außen eine perfekte Fassade lieferten – wie es mir ging, spielte keine Rolle!“/Frau I.

„… denn offensichtlich ist dieser familiäre Wahnsinn das Leben!“/Frau H.

„Wenn meine Mutter schreckliche Dinge im Suff getan hatte, taten alle so, als wäre nichts passiert!“/Frau Z.

„… ich bettle schon ein Leben lang um Liebe.“/Frau I.

„Entsetzt bemerkte ich, dass es dieses „Ich“ nicht mehr gab!“ /Frau I.

„… ich verschwinde, während ich sein Verschwinden zu verhindern suche.“/Frau E.

„Wir sind du und du bist wir!“/Frau E. zur Einstellung ihrer Mutter

Ich habe lieber, wenn etwas Schreckliches passiert! – Wenn es mal gut ist, warte ich nur auf das Schreckliche- das WARTEN ist noch furchtbarer“/Frau I.

„Vielleicht hätte ich ihn mehr lieben müssen! Dann hätte mein Vater vielleicht nicht getrunken“ (Frau S.)

„Ich tanze auf einer Hochspannungsleitung im kühlen Korsett!“/Frau P.

„Und ich war ihrer Ansicht nach schuld, dass sie immer mehr trank…“/Herr I.

Drogen waren für meine Eltern „Lifestyle“- sprach ich von Belastung wurde ich ausgelacht und als spießig dargestellt.“/Herr H.

„Bei uns zu Hause gab es gar keine Grenzen.“/Frau O.

„Ich habe oft schon Angst gehabt, bevor meine Mutter nach Hause gekommen ist/Felix

                                          „…alle Männer in unserer Familie waren depressiv…und süchtig.“ (Frau G)

„Ich kann ihm wirklich nicht die Mutter ersetzen!“ (Frau R.)

„Wir waren voll mit Gefühlen, die aus der Suchterkrankung resultierten und doch durften wir nie über unsere Gefühle reden. Gefühle waren das absolute Tabu!“/Herr I.

Wenn einige dieser Aussagen auch von Ihnen stammen könnten und sie sich zugleich schon lange fragen, ob das Verhalten ihrer Eltern mit dem Etikett „süchtig“ zu bezeichnen ist/war, dann könnten das Hinweise auf eine (möglicherweise auch verdeckte) elterliche Suchterkrankung oder andere familiäre Belastungen in der Kindheit sein. Vielfach ist die elterliche Suchterkrankung, wie Suchtkinder oftmals fälschlich annehmen, nicht nur an der konsumierten Menge fest zu machen (und auf die Kontrolle und Beweisführung wird oft viel Energie bei Angehörigen verwendet): Bedeutsamer und wirksamer für den eigenen Weg der Suchtkinder ist das Aufspüren krankmachender Familiendynamiken sowie der spezifischen Familienatmosphäre. Denn diese Dynamik und Atmosphäre kann massive Auswirkungen auf das Erleben der Suchtkinder haben, sogar wenn sie viele Jahrzehnte zurückliegt. Wenn Sie sich oftmals, (scheinbar grundlos) leer, schuldig und „unnütz“, nicht „richtig“, nicht zugehörig oder wertlos fühlen ( obwohl sie z.B. „objektiv“ viel leisten), dann kann die Wurzel dieser Gefühle in elterlicher Suchterkrankung begründet sein.Dann kann es für Sie wichtig sein, sich mit Familienatmosphären näher zu beschäftigen. Häufig stellen Suchtkinder in dieser Beschäftigung fest, dass diese negativen Stimmungen und Gefühle eigentlich gar nicht zu ihnen gehören, sondern zu ihren belasteten Eltern. Diese haben sie über Jahre während ihrer Erkrankung, meist unbewusst, an sie weitergegeben oder abgegeben (delegiert).

Zusatzanregung: Suchen Sie ein Musikstück, das erzählt, wie Sie sich eine gute Familienatmosphäre vorstellen…Lassen Sie sich Zeit: Hören Sie in den nächsten Tagen Stücke im Radio oder zu Hause bewusster aus dieser Perspektive.

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Zu Beginn meiner Tätigkeit habe ich, wie viele professionell Tätige in diesem Bereich, mit erwachsenen Kindern aus Suchtfamilien gearbeitet, ohne wirklich das Ausmaß ihrer Belastung zu kennen. In meiner Praxis, in der Schule, in Ausbildungszusammenhängen gehörte dieses Thema zu meinem Aufgabenfeld, doch ich bemerkte zunächst nicht, wie weitreichend die Folgen der elterlichen Suchtbelastung wirklich waren – ich wusste ebenso wenig darum wie die Betroffenen selbst. Erwachsene Kinder aus Suchtfamilien ahnen oftmals nichts von ihrer Belastung und deren Ausmaß, sie sprechen nicht über ihre Herkunftsfamilie, scheint das alles doch viel zu lange her zu sein. Viele wissen nicht mehr, dass ihnen etwas angetan wurde – aufgrund diffuser körperlicher und seelischer Beschwerden merken sie nur, dass irgendetwas nicht mit ihnen stimmt. Da ihnen das Ausmaß selbst nicht bewusst ist, sie zudem gelernt haben, zu tabuisieren und zu verdrängen, sprechen sie nicht über das in der Kindheit Erlittene. Betroffene lebten und leben mit Eltern, die ihre Sucht verleugnen, und so verleugnen sie selbst, was ihnen angetan wurde.

Es soll nicht etwa »Grässliches«, Schlimmes und Traumatisches, das in Suchtfamilien passiert ist, gewaltsam an die Oberfläche gezerrt oder als Sensation zur Schau gestellt werden, vielmehr wird versucht, mit Hilfe eines gemeinsamen Blicks auf die kindliche Vergangenheit, eine neue Basis für ein zufriedeneres Leben mit sich und anderen zu schaffen.

Frau L. 44 Jahre: „Ich habe eigentlich neu laufen gelernt!“
„Ich fühlte mich vor der Therapie wie in einem Hamsterrad gefangen. Alles war schwarz und grau. Ich sah und spürte nichts mehr, ich wusste weder, wo ich hinwollte, noch warum sich alles so furchtbar anfühlte – ich gab mir daran die Schuld. Jetzt fühle ich mich gut, was mir auch sehr fremd ist, da es das in meinem Leben so wenig gab. Da brauche ich immer wieder Mut, dem Neuen zu vertrauen. Ich glaube, mir hat geholfen, dass ich in der Therapie Schritt für Schritt Begleitung hatte. Ich musste bei jedem noch so kleinen Schritt Hilfe haben, ob er gerade wieder wirklich für mich stimmig ist, ob es richtig ist für mich – oder ob ich nur reagiere auf das, was andere erwarten.

Das war mühsam, aber ich empfinde nun oftmals Frieden und Freude. Ich musste von Stunde zu Stunde Wegweiser haben, um jeweils zu wissen, wie es genau weitergeht. Ich habe eigentlich neu laufen gelernt. Es haben sich neue Ziele und Blickwinkel in dieser Zeit entwickelt. Ich habe meine Belastungen erkannt und abgeworfen.

Nach meinen Erfahrungen können erwachsene Kinder, auch wenn die Erfahrungen mit süchtigen Eltern schon Jahrzehnte zurückliegen, nur dann wirkliches Verständnis für sich selbst, ihr Verhalten, ihre Gefühle und ihre Nöte entwickeln, wenn sie einen Blick auf das, was ihnen angetan wurde, wagen. Oftmals sind sie erst dann in der Lage, ihre Stärken zu würdigen und Rollenmodelle des eigenen Lebens zu verstehen – im Buch Vater, Mutter, Sucht ermöglicht ein Selbsttest darüber näheren Aufschluss. Mittels meiner Forschungen und Praxiserfahrungen habe ich das AWOKADO-Programm zusammengestellt, das Suchtkinder auf dem Weg in ein glücklicheres Leben unterstützen kann; auch professionell Tätige können es bei der Arbeit mit Suchtkindern einsetzen. Wer verdrängt, steckt fest! Wer hinschaut und aktiv wird, kann wachsen – …

Text in Anlehnung an eine Leseprobe zu Vater, Mutter, Sucht beim Klett-Cotta-Verlag.