Klopfen Sie sich mal selbst auf die Schulter

Wie mag es Ihnen gerade ergehen in diesen besonderen Zeiten? Gehören Sie zu denjenigen, die gerade mehr arbeiten müssen? Im Beruf, in der Familie, vielleicht mit zeitlich mehr Präsenz und unter ungleich schwierigeren Bedingungen? Oder gehören sie zu denjenigen, die sogar unmittelbar von der Krankheit Covid 19 betroffen waren, mit Krankheitssymptomen, Quarantäne …oder als mitbetroffene Anghehörige? Leben Sie alleine und müssen nun in diesen Zeiten sehr viel Zeit alleine verbringen, verspüren vielleicht oft Einsamkeit? Wir alle durchleben gerade unterschiedliche Lebenswirklichkeiten in einer uns weltweit gemeinsamen Pandemiezeit.

In der Zusammenarbeit mit Erwachsenen aus belasteten Familien fallen mir in dieser Zeit auf: die erhöhte Leistungsbereitschaft und die zugleich wenig bis garnicht vorhandene Würdigung dieser Krisenmeisterung.

Leisten bis der Arzt kommt

Menschen, die in belasteten Familien aufgewachsen sind, übernehmen oft früh Verantwortung und werden selbst von den erkrankten Eltern, die um sich und ihre Erkrankung kreisen, oft wenig gesehen:, so können die Kinder wenig Selbstwert aufbauen. Diesen geringen Selbstwert kompensieren die betroffenen Kinder, indem sie besonders viel leisten. Da diese Leistungen meist ebenso wenig gewürdigt werden durch die Erwachsenen, internalisieren die Kinder die fehlende Wertschätzung: sie erleben ihr eigenes Tun als bedeutungslos und wenig wertvoll. Sie strengen sich aber weiter an, gehen über ihre Grenzen, leisten“ bis der Arzt kommt“- so finden wir oft gerade hier Burnoutpatienten.

Gerade geht es weiter mit Lockdown light. Kann es sein, dass auch gerade Sie viel geschafft haben in dieser jetzigen Krise: Innovatives, Anpassungsbereitschaft, Einsatz, Mitmenschlichkeit.?Weil gerade Sie durch Ihre Lebenserfahrung eine KrisenmeisterIn sind, aber eben auch wenig Wertschätzung für dieses Meistern besitzen?

Eine biografische Antwort auf die Krise finden

Mit der Stunde der Geburt beginnt die Übung gegen die Unsicherheit und Zweifel im Leben die eigene biografische Melodie zu setzen.Durch Erorberungen, Erschütterungen, Laufbahnen, Fehltritte und Krisen hindurch drehen wir Lebensjahr für Lebensjahr den Film unseres Lebens. Wir selbst sind die Drehbuchautoren, führen Regie, spielen verschiedene Rollen…“

Annelie Keil: Auf brüchigem Boden Land gewinnen

Mit diesem Impuls der Woche möchte ich Sie ermuntern, den Film Ihres Lebens neu anzuschauen: aus der wertschätzenden Perspektive. Eine Ermutigung, sich doch selbst endlich auf die Schulter zu klopfen; das haben Sie vermutlich verdient. Und da die Corona-Krise noch einige Zeit andauern wird, haben Sie dieses Schulterklopfen auch dringend nötig – die Aussicht auf den Impfstoff kann nun zu Hoffnungen berechtigen, dass die massive Krise endlich scheint- aber wir brauchen weiter langen Atem.

Kreatives Selbstcoaching (30 Minuten einplanen )





Schreiben Sie auf, was Sie persönlich in der Zeit seit des Ausbruchs des Virus ( in Deutschland ca seit Ende Februar 2020) anders, gut, mehr gemacht haben, pro Aspekt ein neues Blatt.

Gestalten Sie ein Symbol auf das Blatt.

Ordnen Sie die Blätter. Fügen Sie noch ei weiteres hinzu. Geben Sie Ihrer Gestaltung einen würdigenden Platz.Schauen Sie sie in dieser Woche mindestens einmal am Tag an…

Wenn sich dieses Tun fremd anfühlt, machen Sie gerade wahrscheinlich den besten ersten Schritt in ein neues Drehbuch…Regisseurin Ihres Lebens-KunstWerks.

Eine gute Woche wünscht

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Würdigen, was niemand sah: sich selbst wertschätzen lernen in einer belasteten Familie

In einer belasteten Familie geht oft viel verloren: Wahrheit, Glaube und Vertrauen beispielsweise bleiben dann auf der Strecke. Kinder aus diesen Familien gehen sich in der Folge, wenn die Belastung über lange Zeit anhält, oft selbst verloren; leben sie doch alltäglich in einem Tabu, das ihnen vermittelt, das eigentlich alles normal sei.  Ihre Nöte, aber auch ihre alltäglichen übergroßen Leistungen werden regelmäßig  übersehen. Ihre Überanstrengung und Überkompensation (Barnowski-Geiser/Geiser.Heinrichs 2017), die sie aufgrund der Erkrankungen oder Beeinträchtigungen der Eltern leisten müssen, verschwinden im familiären Nebel. Oft werden ihnen selbst diese Leistungen nie bewusst, manchmal erst im Rahmen von Therapie im Erwachsenenalter. Und dann sind Betroffene verunsichert, denn im Verlaufe ihrer familiären Zugehörigkeit zum tabuisierenden System ist ihnen auch selbst Wetschätzung und Würdigung für das von ihnen für das Familien- System Geleistete abhanden gekommen: Das Geleistete gibt es in der familiären Wahrnehmung so wenig wie es die Krankheit/Belastung der Eltern gab oder gibt. Geleistetes versinkt unter Scham, die die Kinder anstelle ihrer Eltern meist unbewusst übernehmen. Negative Selbstzuschreibungen sind dann an der Tagesordnung: „Ich bin doch so furchtbar angepasst!“ (wenn  die Überanpassungsleistung ständig nötig war),  oder „Ich hab doch so ein dämliches Helfersyndrom“ ( wenn sich Kümmern in krisenhaften Kindheiten als einzig lebbare Möglichkeit erschien) u. ä. lauten dann die unguten Selbst-Zuschreibungen.

Jetzt im Erwachsenenalter können Sie,insbesondere wenn die elterliche Belastung nun hinter ihnen liegt, neu und anders leben: indem Sie einen anderen Umgang mit sich selbst pflegen. Sie können Ihre Eltern vermutlich nicht ändern, so sehr Sie das auch wünschen, so sehr Sie sich dafür anstrengen, Als Angehörige einer belasteten Familie haben Sie vermutlich Großes geleistet (Oder tun es immer noch), entsprechende Bewältigungsmechanismen entwickelt, aus denen  spezifische, ihnen sehr eigene, Stärken entstanden sind – nur allzu lange wurden diese übersehen, von anderen und womöglich auch von Ihnen selbst. Im Heute, gerade jetzt, können diese durch Sie selbst Beachtung erfahren, neu in Resonanz und die Welt gehen, indem sie, auch wenn es ungewohnt erscheint, die Botschaft dieses Wochenimpulses umsetzen: Würdige, was niemand sah!

(Formulierung in Anlehnung an Buchtitel Barnowski-Geiser 2009: Hören, was niemand sieht) .

Sonniges auf Ihre Wege sendet

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Dr. Waltraut Barnowski-Geiser, Lehrende in Schulen, Hochschulen und therapeutischen Ausbildungsgängen. Leiterin der BEL-Kids-Projekte, Autorin. Publikationen zum Foschungsschwerpunkt familiäre Belastung u.a. Hören, was niemand sieht;  Vater, Mutter, Sucht und Meine schwierige Mutter, gemeinsam mit Maren Geiser-Heinrichs

Querlage-wie Wertschätzung heilt. Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte über einen kleinen Jungen aus einer belasteten Familie

Liebe LeserInnen,

nun sind Sie mit vielen tausend anderen Menschen offenbar regelmäßig lesend auf dieser Webseite unterwegs. Das freut mich natürlich und es stellt sich eine Verbundenheit mit Ihnen ein: der Online – Familie der Kinder und Erwachsenen aus belasteten Familien.

Weihnachten steht vor der Tür. Ich mag Ihnen nochmal eine etwas andere Weihnachtsgeschichte zukommen lassen, die ich vor etwa 15 Jahren verfasst habe (und später dann auch gelesen habe auf der CD „Gefühlskinder“ mit dem Duo EigenARTs und Beate Theißen am Klavier): eine Geschichte, die ich damals unter dem Eindruck einer wahren Begebenheit verfasste. Ein kleiner Klient, Sohn einer trinkenden Mutter, erzählte sie mir. Diese Geschichte hat etwas Schweres und Tragisches und eine doch so, wie ich finde, gute Auflösung. Mir hat der Kleine gezeigt, wie überlebens-wichtig Wertschätzung für kleine und große Menschen ist. Deshalb möchte ich diese kleine Geschichte nochmal auf den Weg bringen, sie euch und Ihnen, als mein persönliches Weihnachtsgeschenk  zur Verfügung stellen-.

Ein gutes Weihnachtsfest für Sie und alle, die Ihnen lieb und wichtig sind wünscht Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Quer – Lage

Eine Kurzgeschichte von Waltraut Barnowski-Geiser

Endlich lag er richtig. Wie immer war es ihm schwer gefallen, eine Position einzunehmen, die ihm entsprach und doch korrekt war. Meistens lag er daneben oder war schiefgewickelt, wie Mama sagte. Jetzt ruhte er gerade, der Länge nach, quer. Zunächst hatte er in der Mitte gelegen, lang ausgestreckt, gegen die sengende Sonne blinzelnd. Er war überrascht, wie gut er dazwischen passte, aber dazwischen passen konnte er. Er passte auch zwischen Mama und Ingo, seinem 10 Jahre älteren Bruder und seit Ingo ausgezogen war, passte er auch zwischen Mama und Ken, ihrem neuen 15 Jahre jüngeren Freund, eigentlich 14 Jahre, 264 Tage und 9 Stunden! Aber so genau solle das wirklich niemand wissen, hatte Mama gestöhnt und wieder mit diesem flehenden Blick zum Himmel, “Oh dieser Junge!“ geseufzt. Das machte sie schon, seit er denken konnte, als er also noch ganz klein gewesen war.Dann wäre er am liebsten wie die Mäuse in ein Loch gekrochen. Obwohl er sich, wie er selber fand, oft ganz klein machte, war er Ken zu groß. Zu groß und zu viel! Hier draußen war sogar noch Platz um ihn herum , Bewegungsspielraum, den er nicht brauchte, nicht mehr. Die Arme eng an den Körper gepresst, fast wie die Soldaten im Counterstrikespiel, hatte er sich eingefügt. Benötigte den Adlerflügelspielraum für die Arme kaum. Im Rücken zwickte es ein wenig, eigentlich ein bisschen viel. Eigentlich bevorzugte er die Bauchlage, war in Erinnerung seiner vorgeburtlichen Eskapaden fast ein wenig stolz. Davon erzählte Mama oft, dass er schon da mit seiner Lage Schwierigkeiten gemacht hatte, er ein Kaiserschnitt wurde. Das klang so toll adelig, wenn Mama das sagte. Sie hatte sich Stunden mit ihm abgequält, weil er sich anders als andere Babies hingelegt hatte, eben quer, schon da ein Dickkopf, was er heute nicht mehr fand, fühlte er doch oft den Umfang seines Kopfes ab, Mamas Aussage, wie so oft, wörtlich nehmend. Er fand seinen Kopf eher klein, wie er ja überhaupt zu den Kleinen in seiner Klasse gehörte. Und dann hatten sie ihn erwartungsvoll aus Mamas Bauch herausgeschnitten, das Personal bestimmt enttäuscht über so einen kleinen blutigen schreienden unadeligen „Querschläger“. Das war der Beginn seines Lebens gewesen und er hatte gelesen, dass Menschen am Ende immer zurückblickten im Zeitraffertempo. „Zeitraffertempo“ war auch wieder so ein Wort, das Kinder eigentlich nicht benutzen, das tat man nicht. Immer musste er auffallen:  weil er  Worte so neu und lustig und fremd und spannend fand. Seine Deutschlehrerin gab sich begeistert, entzückt rief sie eins ums andere Mal: „Still, Kinder. Na, wie formuliert das unser kleines Sprachgenie?“ Das war ihm so peinlich, dass er sich bei ihr nicht mehr zu Wort meldete. „Sprachgenie, Sprachgenie!“, hatten die anderen gerufen, „spielt nicht mit dem, der ist doch so ein Genie, mit uns will der doch gar nichts zu tun haben.“ Er war halt so verdammt anders, hochbegabt sagten die Ärzte. „ Zu wenig Normalo, dein kleiner Typ!“ maulte Ken.

Mama fand es schlimm, dass er immer auffallen musste. Erschreckt bemerkte er nun, dass sein jetziges Vorhaben so zum Scheitern verurteilt war. Er lag tatsächlich schon wieder falsch. Natürlich, so konnte das nicht gehen, quer musste er hier liegen, quer und mit dem Kopf nach unten. Als er noch kleiner war, hatte er immer geglaubt, wenn man die Augen zu mache, würde man nicht mehr gesehen. Darauf hoffte er auch nun. Im übrigen konnte er nicht gesehen werden, er war recht sicher, hatte er sich doch bestimmt zwei Kilometer von der Bahnhofseinfahrt weggeschlichen.

Robotergleich greift sein Arm in die Eisen, zieht den Restkörper nach, die Füße reichen knapp bis zur gegenüberliegenden Seite. Er stützt seinen heute tatsächlich groß schweren Kopf auf den Armen ab , senkt ihn und drückt seine schweißnasse Stirn auf die Handoberflächen. Er findet es schön, dass die Hände sauber duften, nicht den Duft tragen all dessen, was er angefasst hatte. All das, was er nicht hätte anfassen dürfen, das Verbotene. Egal, was er anfasste, am Ende war die Mama traurig und weinte und musste wieder trinken oder diese blöden Tabletten nehmen, von denen sie dann so weg war. Dann weinte sie nicht mehr, aber dann war sie ganz weit weg, wie in Afrika. Und dabei wollte er doch eigentlich ein Glücksbringer für Mama und alle Menschen sein. Er schaffte gar nichts. Manchmal hatte er schon überlegt, sich die Hände anzuhacken, aber er war so ein verdammt ängstlicher Scheißer. Ein beschissener Hosenscheißer. Ja, nicht einmal das hatte er gekonnt, er war nicht sauber zu kriegen gewesen. Und darüber hatte Mama auch geweint, Krokodilstränen. So ein großer Junge, neun Jahre alt, wie er. In seiner Verzweiflung hatte er dann manchmal alles an die Wände geschmiert, braune Farbe, Eigenproduktion, kostenlos und reichhaltig vorhanden. Es hatte nicht geklappt , es wieder wegzukriegen, und das Malen an den Wänden hatte Spaß gemacht. Das hatte die Mama aus Afrika zurückgeholt und dann half nur noch der Stock. Er hoffte sehr, dass der Stock ein Zauberstab wäre, dass er helfen würde, und verdient hatte er es ja, aber bis jetzt hatte der Stock nicht viel ausgerichtet. Manchmal passierte das einfach, es schoss aus ihm heraus, genau so sturzbachartig wie die Gedanken, kreuz und quer und hoch und runter, wie die Figuren auf seinem Game – Boy. Falls Mama ihn nachher finden würde, konnte sie sich freuen: er hatte nicht einmal Spuren unter den Nägeln, seit neustem entfernte er die braun – kotigen Reste dort mit seiner knallgelben Zahnbürste. Nicht auszudenken allerdings, wenn Mama bemerkte, dass er sich seit Tagen die Zähne nicht mehr putzte, igitt, sich vorzustellen, dass das Zeug da in seinen Mund käme. Eklig!

Das war auch echt doof gewesen, dass er Kens beste coole Lederjacke zum Verkleiden aus dessen Schrank in sein Zimmer geholt hatte. Natürlich wie immer nicht weggeräumt und dass dann auch noch das Schlimme passiert war. Manchmal hatte er einfach pech. Eigentlich immer! Fasziniert hatte er zugesehen, wie sich sein cremiges Dunkel in das wildgrüne Wildleder gegraben hatte, interessante Formen zutage traten. Ein Zwergnase über Kens Jackentasche entstand, so weich und warm, kuschelig fast und er hatte gelacht, Fratzen geschnitten, Zwergnase hatte immer andere Formen angenommen. Im Spiel konnte er sich vergessen. Eigentlich hatte er immer jemanden zum Spielen, also nicht wirklich, jetzt flunkerte er, aber er tat so. Zum Beispiel die Figuren auf seinem T-Shirt, die waren immer dabei. Er fand es sogar peinlich, wenn sie ihm beim Pinkeln zusahen, dann hielt er das T – Shirt so hoch, dass nichts Intimes sichtbar wurde.
Er war ein echter Pingel, sagte auch Mama. Und ein kleiner Spinner, meinte Ken. Oh je, wenn Ken seine Jacke finden würde! In der Mülltonne würde er nicht suchen und mit der alten Tischdecke darüber waren nur Umrisse zu sehen gewesen. Aber auf Mülltonne würde der nicht kommen. Und heute war es heiß, warum sollte er gerade heute seine Jacke suchen. Oder? Ken tat manchmal unberechenbare komische Dinge und irgendwie wusste der immer alles. Panik stieg in ihm auf. Wenn Ken jetzt käme, sein Herz pochte wild. Aber noch konnte er das nicht bemerkt haben und so schnell konnte er nicht hier sein. Diese scheiß Gedanken sollten endlich aufhören, Scheiß, Scheiß Angst, scheiß Kopf, sein Kopf sollte absein und die schlimmen Hände auch. Einfach ratsch. Er krallte sich noch tiefer in die Eisen, spürte ein Wummern unter sich, das ihn ganzkörperlich erfasste. Endlich.

„Der Wupperexpress von Hagen nach Aachen über Rheydt, Erkelenz, Lindern trifft wenige Minuten später ein.“

Entfernt hörte er die nüchterne Lautsprecherstimme. Immer kamen alle zu spät, schon wieder, jetzt sogar der Zug, auf den er so dringlich wartete. Papa war das eine mal auch zu spät gekommen, und dann hatte es Mama gereicht, einmal zuviel meinte sie. Und sie hatte gesagt, dass sie mit so einem Unzuverlässigen nichts mehr zu tun haben wolle. Da hatte der Papa geschrieen und getobt, aber genützt hatte es ihm nichts, die Mama hatte ihn und Ingo genommen, war zu ihrer Mutter gegangen, weggezogen und seitdem hatte er keinen Papa mehr. Also, jedenfalls nicht einen, den er sah. Mama sagte, dass Papa kleine Hosenscheißer wie ihn eh hasste. Deshalb hätte der Papa ihn früher verprügelt. Klar, wie sollte der Papa ihn auch mögen. Er könne froh sein, dass er ihm nicht mehr begegnete, denn wenn der ihn zwischen die Finger kriegte, meinte die Mama…

Wie er jetzt wohl aussah? Ein zarter Kinderkörper , Kopf und Hände abschnittbereit auf den scharfkantigen Schienen präsentiert. Unsinnig sah das aus, sinnlos wahrscheinlich. Ohne Sinn, wie so vieles. Darüber dachte er oft nach, über den Sinn des Lebens. Mama mochte das nicht. “Das sind doch keine Gedanken für ein Kind!“, schimpfte sie. Die Schwester im Krankenhaus hatte ihm lange zugehört und nachdenklich gefragt: „ Wie willst du einen Sinn finden, wenn du deine Sinne nicht nutzt und schätzt.“ Das klang spannend, die Sinne nutzen, sich selbst schätzen. Und komisch! An ihm war vieles komisch, er konnte sich die verrücktesten Geschichten ausmalen, mit Menschen, die Kreide mit Ketchup aßen und für die die Sonne ein Schatz war, nicht Geld, sondern einfach Sonnenwärme. Mama wollte diese Geschichten nicht hören. „Fängst du wieder an, müssen wir dich wieder wegbringen?“ sagte sie dann und dann war er ganz schnell still. Er wollte nicht wieder in dieses Krankenhaus. Obwohl die da ganz schön nett zu ihm gewesen waren. Und die Schwester hatte sogar seine Hände geküsst und gemeint: „Du hast wunderbare Hände, Junge, du bist so ein wunderbares Kind.“ Das hatte so doll gekribbelt in seinem Bauch, fast so wie bei dem Kuss von Isa, er war ganz wild durch die Krankenstation gehüpft. Unmerklich lockerte er seinen Griff, die Beine suchten nach Boden. Kaum hörbar formten seine Lippen immer wieder dieselben Worte: „Ich bin ein wunderbares Kind.“

„Du bist ein wunderbares Kind!“… wie Wertschätzung heilt

Liebe LeserInnen,

nun sind Sie mit vielen tausend anderen Menschen offenbar regelmäßig lesend auf dieser Webseite unterwegs. Das freut mich natürlich und es stellt sich eine Verbundenheit mit Ihnen ein: der Online – Familie der Kinder und Erwachsenen aus belasteten Familien.

Weihnachten steht vor der Tür. Ich mag Ihnen nochmal eine etwas andere Weihnachtsgeschichte zukommen lassen, die ich vor etwa 15 Jahren verfasst habe (und später dann auch gelesen habe auf der CD „Gefühlskinder“ mit dem Duo EigenARTs und Beate Theißen am Klavier): eine Geschichte, die ich damals unter dem Eindruck einer wahren Begebenheit verfasste. Ein kleiner Klient, Sohn einer trinkenden Mutter, erzählte sie mir. Diese Geschichte hat etwas Schweres und Tragisches und eine doch so, wie ich finde, gute Auflösung. Mir hat der Kleine gezeigt, wie überlebens-wichtig Wertschätzung für kleine und große Menschen ist. Deshalb möchte ich diese kleine Geschichte nochmal auf den Weg bringen, sie euch und Ihnen, als mein persönliches Weihnachtsgeschenk  zur Verfügung stellen-.

Ein gutes Weihnachtsfest für Sie und alle, die Ihnen lieb und wichtig sind wünscht Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

Quer – Lage

Eine Kurzgeschichte von Waltraut Barnowski-Geiser

Endlich lag er richtig. Wie immer war es ihm schwer gefallen, eine Position einzunehmen, die ihm entsprach und doch korrekt war. Meistens lag er daneben oder war schiefgewickelt, wie Mama sagte. Jetzt ruhte er gerade, der Länge nach, quer. Zunächst hatte er in der Mitte gelegen, lang ausgestreckt, gegen die sengende Sonne blinzelnd. Er war überrascht, wie gut er dazwischen passte, aber dazwischen passen konnte er. Er passte auch zwischen Mama und Ingo, seinem 10 Jahre älteren Bruder und seit Ingo ausgezogen war, passte er auch zwischen Mama und Ken, ihrem neuen 15 Jahre jüngeren Freund, eigentlich 14 Jahre, 264 Tage und 9 Stunden! Aber so genau solle das wirklich niemand wissen, hatte Mama gestöhnt und wieder mit diesem flehenden Blick zum Himmel, “Oh dieser Junge!“ geseufzt. Das machte sie schon, seit er denken konnte, als er also noch ganz klein gewesen war.Dann wäre er am liebsten wie die Mäuse in ein Loch gekrochen. Obwohl er sich, wie er selber fand, oft ganz klein machte, war er Ken zu groß. Zu groß und zu viel! Hier draußen war sogar noch Platz um ihn herum , Bewegungsspielraum, den er nicht brauchte, nicht mehr. Die Arme eng an den Körper gepresst, fast wie die Soldaten im Counterstrikespiel, hatte er sich eingefügt. Benötigte den Adlerflügelspielraum für die Arme kaum. Im Rücken zwickte es ein wenig, eigentlich ein bisschen viel. Eigentlich bevorzugte er die Bauchlage, war in Erinnerung seiner vorgeburtlichen Eskapaden fast ein wenig stolz. Davon erzählte Mama oft, dass er schon da mit seiner Lage Schwierigkeiten gemacht hatte, er ein Kaiserschnitt wurde. Das klang so toll adelig, wenn Mama das sagte. Sie hatte sich Stunden mit ihm abgequält, weil er sich anders als andere Babies hingelegt hatte, eben quer, schon da ein Dickkopf, was er heute nicht mehr fand, fühlte er doch oft den Umfang seines Kopfes ab, Mamas Aussage, wie so oft, wörtlich nehmend. Er fand seinen Kopf eher klein, wie er ja überhaupt zu den Kleinen in seiner Klasse gehörte. Und dann hatten sie ihn erwartungsvoll aus Mamas Bauch herausgeschnitten, das Personal bestimmt enttäuscht über so einen kleinen blutigen schreienden unadeligen „Querschläger“. Das war der Beginn seines Lebens gewesen und er hatte gelesen, dass Menschen am Ende immer zurückblickten im Zeitraffertempo. „Zeitraffertempo“ war auch wieder so ein Wort, das Kinder eigentlich nicht benutzen, das tat man nicht. Immer musste er auffallen:  weil er  Worte so neu und lustig und fremd und spannend fand. Seine Deutschlehrerin gab sich begeistert, entzückt rief sie eins ums andere Mal: „Still, Kinder. Na, wie formuliert das unser kleines Sprachgenie?“ Das war ihm so peinlich, dass er sich bei ihr nicht mehr zu Wort meldete. „Sprachgenie, Sprachgenie!“, hatten die anderen gerufen, „spielt nicht mit dem, der ist doch so ein Genie, mit uns will der doch gar nichts zu tun haben.“ Er war halt so verdammt anders, hochbegabt sagten die Ärzte. „ Zu wenig Normalo, dein kleiner Typ!“ maulte Ken.

Mama fand es schlimm, dass er immer auffallen musste. Erschreckt bemerkte er nun, dass sein jetziges Vorhaben so zum Scheitern verurteilt war. Er lag tatsächlich schon wieder falsch. Natürlich, so konnte das nicht gehen, quer musste er hier liegen, quer und mit dem Kopf nach unten. Als er noch kleiner war, hatte er immer geglaubt, wenn man die Augen zu mache, würde man nicht mehr gesehen. Darauf hoffte er auch nun. Im übrigen konnte er nicht gesehen werden, er war recht sicher, hatte er sich doch bestimmt zwei Kilometer von der Bahnhofseinfahrt weggeschlichen.

Robotergleich greift sein Arm in die Eisen, zieht den Restkörper nach, die Füße reichen knapp bis zur gegenüberliegenden Seite. Er stützt seinen heute tatsächlich groß schweren Kopf auf den Armen ab , senkt ihn und drückt seine schweißnasse Stirn auf die Handoberflächen. Er findet es schön, dass die Hände sauber duften, nicht den Duft tragen all dessen, was er angefasst hatte. All das, was er nicht hätte anfassen dürfen, das Verbotene. Egal, was er anfasste, am Ende war die Mama traurig und weinte und musste wieder trinken oder diese blöden Tabletten nehmen, von denen sie dann so weg war. Dann weinte sie nicht mehr, aber dann war sie ganz weit weg, wie in Afrika. Und dabei wollte er doch eigentlich ein Glücksbringer für Mama und alle Menschen sein. Er schaffte gar nichts. Manchmal hatte er schon überlegt, sich die Hände anzuhacken, aber er war so ein verdammt ängstlicher Scheißer. Ein beschissener Hosenscheißer. Ja, nicht einmal das hatte er gekonnt, er war nicht sauber zu kriegen gewesen. Und darüber hatte Mama auch geweint, Krokodilstränen. So ein großer Junge, neun Jahre alt, wie er. In seiner Verzweiflung hatte er dann manchmal alles an die Wände geschmiert, braune Farbe, Eigenproduktion, kostenlos und reichhaltig vorhanden. Es hatte nicht geklappt , es wieder wegzukriegen, und das Malen an den Wänden hatte Spaß gemacht. Das hatte die Mama aus Afrika zurückgeholt und dann half nur noch der Stock. Er hoffte sehr, dass der Stock ein Zauberstab wäre, dass er helfen würde, und verdient hatte er es ja, aber bis jetzt hatte der Stock nicht viel ausgerichtet. Manchmal passierte das einfach, es schoss aus ihm heraus, genau so sturzbachartig wie die Gedanken, kreuz und quer und hoch und runter, wie die Figuren auf seinem Game – Boy. Falls Mama ihn nachher finden würde, konnte sie sich freuen: er hatte nicht einmal Spuren unter den Nägeln, seit neustem entfernte er die braun – kotigen Reste dort mit seiner knallgelben Zahnbürste. Nicht auszudenken allerdings, wenn Mama bemerkte, dass er sich seit Tagen die Zähne nicht mehr putzte, igitt, sich vorzustellen, dass das Zeug da in seinen Mund käme. Eklig!

Das war auch echt doof gewesen, dass er Kens beste coole Lederjacke zum Verkleiden aus dessen Schrank in sein Zimmer geholt hatte. Natürlich wie immer nicht weggeräumt und dass dann auch noch das Schlimme passiert war. Manchmal hatte er einfach pech. Eigentlich immer! Fasziniert hatte er zugesehen, wie sich sein cremiges Dunkel in das wildgrüne Wildleder gegraben hatte, interessante Formen zutage traten. Ein Zwergnase über Kens Jackentasche entstand, so weich und warm, kuschelig fast und er hatte gelacht, Fratzen geschnitten, Zwergnase hatte immer andere Formen angenommen. Im Spiel konnte er sich vergessen. Eigentlich hatte er immer jemanden zum Spielen, also nicht wirklich, jetzt flunkerte er, aber er tat so. Zum Beispiel die Figuren auf seinem T-Shirt, die waren immer dabei. Er fand es sogar peinlich, wenn sie ihm beim Pinkeln zusahen, dann hielt er das T – Shirt so hoch, dass nichts Intimes sichtbar wurde.
Er war ein echter Pingel, sagte auch Mama. Und ein kleiner Spinner, meinte Ken. Oh je, wenn Ken seine Jacke finden würde! In der Mülltonne würde er nicht suchen und mit der alten Tischdecke darüber waren nur Umrisse zu sehen gewesen. Aber auf Mülltonne würde der nicht kommen. Und heute war es heiß, warum sollte er gerade heute seine Jacke suchen. Oder? Ken tat manchmal unberechenbare komische Dinge und irgendwie wusste der immer alles. Panik stieg in ihm auf. Wenn Ken jetzt käme, sein Herz pochte wild. Aber noch konnte er das nicht bemerkt haben und so schnell konnte er nicht hier sein. Diese scheiß Gedanken sollten endlich aufhören, Scheiß, Scheiß Angst, scheiß Kopf, sein Kopf sollte absein und die schlimmen Hände auch. Einfach ratsch. Er krallte sich noch tiefer in die Eisen, spürte ein Wummern unter sich, das ihn ganzkörperlich erfasste. Endlich.

„Der Wupperexpress von Hagen nach Aachen über Rheydt, Erkelenz, Lindern trifft wenige Minuten später ein.“

Entfernt hörte er die nüchterne Lautsprecherstimme. Immer kamen alle zu spät, schon wieder, jetzt sogar der Zug, auf den er so dringlich wartete. Papa war das eine mal auch zu spät gekommen, und dann hatte es Mama gereicht, einmal zuviel meinte sie. Und sie hatte gesagt, dass sie mit so einem Unzuverlässigen nichts mehr zu tun haben wolle. Da hatte der Papa geschrieen und getobt, aber genützt hatte es ihm nichts, die Mama hatte ihn und Ingo genommen, war zu ihrer Mutter gegangen, weggezogen und seitdem hatte er keinen Papa mehr. Also, jedenfalls nicht einen, den er sah. Mama sagte, dass Papa kleine Hosenscheißer wie ihn eh hasste. Deshalb hätte der Papa ihn früher verprügelt. Klar, wie sollte der Papa ihn auch mögen. Er könne froh sein, dass er ihm nicht mehr begegnete, denn wenn der ihn zwischen die Finger kriegte, meinte die Mama…

Wie er jetzt wohl aussah? Ein zarter Kinderkörper , Kopf und Hände abschnittbereit auf den scharfkantigen Schienen präsentiert. Unsinnig sah das aus, sinnlos wahrscheinlich. Ohne Sinn, wie so vieles. Darüber dachte er oft nach, über den Sinn des Lebens. Mama mochte das nicht. “Das sind doch keine Gedanken für ein Kind!“, schimpfte sie. Die Schwester im Krankenhaus hatte ihm lange zugehört und nachdenklich gefragt: „ Wie willst du einen Sinn finden, wenn du deine Sinne nicht nutzt und schätzt.“ Das klang spannend, die Sinne nutzen, sich selbst schätzen. Und komisch! An ihm war vieles komisch, er konnte sich die verrücktesten Geschichten ausmalen, mit Menschen, die Kreide mit Ketchup aßen und für die die Sonne ein Schatz war, nicht Geld, sondern einfach Sonnenwärme. Mama wollte diese Geschichten nicht hören. „Fängst du wieder an, müssen wir dich wieder wegbringen?“ sagte sie dann und dann war er ganz schnell still. Er wollte nicht wieder in dieses Krankenhaus. Obwohl die da ganz schön nett zu ihm gewesen waren. Und die Schwester hatte sogar seine Hände geküsst und gemeint: „Du hast wunderbare Hände, Junge, du bist so ein wunderbares Kind.“ Das hatte so doll gekribbelt in seinem Bauch, fast so wie bei dem Kuss von Isa, er war ganz wild durch die Krankenstation gehüpft. Unmerklich lockerte er seinen Griff, die Beine suchten nach Boden. Kaum hörbar formten seine Lippen immer wieder dieselben Worte: „Ich bin ein wunderbares Kind.“