Eine unheilvolle Allianz: Sucht trifft Beziehungsabhängigkeit

Wenn Sucht/ psychische Erkrankung und Beziehungsabhängigkeit sich vermählen, bedeutet das für Kinder, die aus dieser Ehe hervorgehen, meist Stress im Doppelpack.

Wenn ein Elternteil eine schwere Belastung in die Familie bringt, etwa eine Sucht, eine psychische Erkrankung o.ä., so steht dieses Elternteil, wenn es um die Einschätzung der eigenen kindlichen Belastung geht,  im Fokus.  Wenig im Blick ist dann oftmals, dass auch der andere Elternteil, dessen Belastung  vielleicht weniger augenfällig ist, entscheidend dafür sein kann, wie Sie sich als Kind fühlten und entwickelten. War wenigstens ein Elternteil gesund und stabil, wird dieser eine besonders wichtige Säule in Ihrem Leben gewesen oder auch aktuell noch sein. Ist der 2. Elternteil  ebenfalls erkrankt oder belastet, so potenziert sich die Belastung für die Kinder, wie Studien und Forschungen eindrücklich zeigen; das Risiko für eigene Erkrankung und Folgen für mitbetroffene Kinder steigt, die Lebensqualität beschreiben Betroffene als außerordentlich belastet.

Eine besondere Bedeutung kommt dem Maß der Abhängigkeit zu, in dem sich die Eltern miteinander befinden. Wenig erkannt und untersucht ist bislang, wie weitreichend die Auswirkungen einer belasteten Kindheit sind, wenn zur sucht/und-oder psychischen Erkrankung des einen Elternteils eine Beziehungsabhängigkeit des anderen Elternteils kommt, die in den Bereich der Bindungsstörung einzuordnen ist (Und manchmal als zusätzliche Erkrankung des Sucht-psychisch Erkrankten, auch Co-Morbidität genannt, auf beiden Seiten dazu kommt). Während ein stabiler Elternteil die Belastungen und Zumutungen, die durch die Sucht des einen Elternteils entstehen, nur bis zu einer bestimmten Obergrenze der Zumutbarkeit ertragen wird, kann tiefverwurzelte Beziehungs-Abhängigkeit ( oft des zweiten Elternteils) eine gefährliche Dynamik entfachen. Sie ist gleichsam das unsichtbare Öl im brennenden Feuer. Kindern wird unwissentlich, oft ohne Worte, vermittelt: Wenn wir Eltern uns trennen, werden wir alle katastrophal untergehen. Die Kinder lernen in diesen unguten Doppelbelastungskonstellationen, dass es kein Entkommen gäbe: Das Beieinanderbleiben wird zum obersten Wert, wichtiger als die Würde und die Gesundheit der Familienmitglieder, vor allem der Kinder. Diese Dynamik wurde zunehmend in Suchtfamilien beschrieben ( v.a. Rennert, Flassbeck, Wilson-Schaef, Barnowski-Geiser), es reicht jedoch über diese hinaus: sie betrifft alle Familien, in denen Eltern mit hochproblematischen Bindungsmustern schwierige Beziehungen eingehen (Barnowski-Geiser/Geiser-Heinrichs 2017)

Die Kinder drohen diese existenziellen Bindungs-Abhängigkeitsmuster mit in ihr Erwachsenenleben zu nehmen, erlebten sie doch kein Modell, das Autonomie und Eigenständigkeit vorlebt, erfuhren sie doch in ihren großen Nöten kaum angemessene Zuwendung oder Trost. Dies erschwert gesundes Erwachsenenleben ungemein, dies erschwert, reife Erwachsenenbeziehungen und Bindungen einzugehen, dies erschwert, notwendige Trennungen nicht als alles zerstörenden Abgrund zu erleben, vor dem Betroffene dann fortwährend auf der Flucht sind: indem sie sich nicht mehr binden, nur oberflächlich binden, starke Ängste ( Eifersucht etc.) entwickeln oder die Ängste in Süchten kompensieren.

Wenn Sie an sich selbst feststellen, das Sie immer weiter an Menschen festhalten, die Ihnen eher schaden als gut tun, kann der Blick auf die Dynamik zwischen Ihren Eltern wichtig werden. Erkannte Beziehungsabhängigkeit kann gewandelt werden, wenn es möglich wird, sie zu benennen und beschreiben… und vor allem: sie muss dann nicht von Generation zu Generation als unvermeidbares Vermächtnis weitergegeben werden. Der ehrliche, umfassende Blick auf uns selbst, verstehen können, wer und wie wir wirklich sind, führt meist in die Generation vor uns: nicht, um Schuld zu verteilen und anzuklagen, sondern um im Verstehen der generationalen Dynamik Neues im Jetzt und für die Zukunft möglich werden zu lassen.

Eine gute Woche

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

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„Die eigene Würde retten!“ – von der Suche zwischen Wahrheit, Tabu und Lüge

Würde (so wie auch Würdigung und Wertschätzung), scheint, schauen wir auf manch eine belastete Familie, die über Jahre und Jahrzehnte eben ihren schweren Belastungen ausgesetzt war, oft leise und still, gleichsam klamm-heimlich verloren gegangen zu sein. Würde gleicht hier in diesen Familien einem Fremdwort, mit dem man nicht mehr viel anfangen kann, dass man sich, so scheint es, kaum leisten kann; beinahe scheint es Kindern nach vielen Jahren so, als würde sie den Menschen hier in ihrer Familie nicht einmal zustehen: die Ent-Würdigung ist zur Selbstverständlichkeit geworden. Was süchtige Menschen beispielsweise teils ihren Familien antun, überschreitet oft jede Grenze, oft auch jedes Vorstellungsmaß… und dabei denke ich nicht nur an körperliche Gewalt, sondern auch an verbale Dauerattacken, Kämpfe rund um das Aufrechterhalten des Tabus, das Ringen um Normalität, die beständige Suche in Sucht etwa, die die Angehörigen zu Statisten eines schleichenden Selbstmords degradiert… und das oftmals jahrzehntelange vergebliche Ringen auf Seiten mitbetroffener Kinder und Partner, doch noch gesehen und geliebt zu werden. Um diese Liebe zu bekommen, glauben diese erwachsenen Kinder, dass sie sich verbiegen müssten: Preis ist ihre eigene Würde, die sie zu verlieren drohen oder zumindest Teilaspekte derselben…die Selbstachtung nimmt schleichend Schaden.

Herrn M.s Mutter, so findet Herr M heraus, übersteht den Narzissmus und die Sucht des Vaters über Jahrzehnte, indem sie ihn einfach anders sieht als er ist. Nicht süchtig eben, sondern einfach großartig. Alles, was zu dieser, ihrer Wahrheit nicht passt, schneidet sie aus ihrer Wahrnehmung; sogar so weit, dass sie Menschen, die ihre Wahrheit als Lüge zu entlarven drohen, aus ihrem Leben verbannt. Anstatt ihre Sicht auf ihren Ehemann als Lüge zu sehen und in Frage stellen zu müssen, stellt sie diese Menschen, die Überbringer der „Wahrheit“ oder Realität, als Lügner hin. Herr M. erwartet, das seine Mutter dies endlich eingestehe, denn ihr Verhalten sei unter aller Würde: die Aufdeckung der familiären Wahrheit brauche er, so findet er heraus, um sich seinen letzten Funken von Würde zu bewahren. Er wolle nicht weiter, wie Jahrzehnte zuvor, mitspielen und heile Welt vorgaukeln. Gespräche mit seiner Mutter laufen erfolglos: immer deutlicher wird Herrn M., dass seine Mutter so stark in ihrer eigenen Identität verunsichert ist, so bindungsschwach und abhängig, dass eine realistischere Sicht auf den Vater ihr gesamtes Lebenskonzept erschüttern würde. Wenn der Sohn ihr diese weiter abverlange, werde sie eher den Kontakt zu ihm abbrechen, vermutet er…diesen Kontaktabbruch erwägt Herr M., wie er sagt selbst schon länger, um seine Würde nicht weiter zu beschädigen, er will endlich „die eigene Würde retten!“.

Viele chronisch belastete Familien stecken in einer Abhängigkeitsfalle, in der Wahrheit und Würde geopfert werden. Ein Ausweg scheint nicht in Sicht, solange die einzelnen Familienmitglieder nicht in der Lage sind, Hilfe zu suchen und mit Klarblick eigen-ständig schauen zu können. Es braucht Kraft, die Verblendung wirklich anzuschauen. Den Würdeverlust wahrzunehmen, ihn anzuschauen ist für Kinder aus belasteten Familien oft der 1. Schritt auf dem Weg zur Veränderung des eigenen Lebens. Dies erfordert Stärke, die oftmals nach jahrzehntelangem Kampf nicht mehr vorhanden zu sein scheint. Oftmals sind Lebenslügen und Verblendung Teil der Identität geworden, die Verstrickung bestimmt mehr und mehr über die einzelnen Familienmitglieder, ihre Sicht auf sich selbst, auf die Familie und die Welt.

„Die Würde scheint uns weniger bedroht, wenn die Lüge wegen der Größe der inneren Gefahr verzeihlich ist, wie bei einer verleugneten tödlichen Krankheit oder beim Eingeständnis einer Unfähigkeit, die für das Selbstbild vernichtend wäre. Dann denken wir: das kann man von niemandem verlangen. Lebenslügen… sollten nur dann als würdelos beurteilt werden, wenn dem Betreffenden die Stärke zugeschrieben wird, ihrer Auflösung standzuhalten.“ Bieri, Eine Art zu leben, S.226

Eigen-ständig Denken wird in belasteten Familien oft als Bedrohung wahrgenommen, die mit Ausschluss belegt wird: oft ohne Worte liegt die Ausgrenzung doch drohend in der Luft, ist Teil einer unguten Atmosphäre, Teil des familiären Klimas geworden.Wir kommen in der Arbeit mit familiendynamischen Aspekten immer an ethische Fragestellungen, mit denen viele erwachsene Kinder, oftmals Tag und Nacht, und doch wenig bewusst, befasst sind.

Vielleicht halten Sie kurz inne und schreiben etwas zu den nachfolgenden Fragen:

  • Welche Werte sind in Ihrer Familie bestimmend?
  • Und für welche Werte möchten Sie eintreten?
  • Was bedeutet für Sie Würde und was braucht Ihre Würde?
  • Für wen stellen diese Ihre eigenen Vorstellungen eine Bedrohung dar?

Der Philosoph Peter Bieri hat ein  Buch über die Vielfalt der Würde verfasst, das ich all denjenigen unter Ihnen empfehlen mag, die über schnelle Lösungen hinaus interessiert sind,  gern tiefer schauen…auch wenn sich das Buch nicht speziell auf belastete Familien bezieht und somit einen Transfer auf die eigene Situation erfordert, halte ich es für diese unsere Zielgruppe lohnenswert.

Eine Art zu leben

 

Eine gute Zeit

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser

 

Mehr von dieser Autorin, u.a. bei Klett-Cotta

Würdige, was niemand sah: sich selbst wertschätzen lernen in einer belasteten Familie

In einer belasteten Familie geht oft viel verloren: Wahrheit, Glaube und Vertrauen beispielsweise bleiben dann auf der Strecke. Kinder aus diesen Familien gehen sich in der Folge, wenn die Belastung über lange Zeit anhält, oft selbst verloren; leben sie doch alltäglich in einem Tabu, das ihnen vermittelt, das eigentlich alles normal sei.  Ihre Nöte, aber auch ihre alltäglichen übergroßen Leistungen werden regelmäßig  übersehen. Ihre Überanstrengung und Überkompensation (Barnowski-Geiser/Geiser.Heinrichs 2017), die sie aufgrund der Erkrankungen oder Beeinträchtigungen der Eltern leisten müssen, verschwinden im familiären Nebel. Oft werden ihnen selbst diese Leistungen nie bewusst, manchmal erst im Rahmen von Therapie im Erwachsenenalter. Und dann sind Betroffene verunsichert, denn im Verlaufe ihrer familiären Zugehörigkeit zum tabuisierenden System ist ihnen auch selbst Wetschätzung und Würdigung für das von ihnen für das Familien- System Geleistete abhanden gekommen: Das Geleistete gibt es in der familiären Wahrnehmung so wenig wie es die Krankheit/Belastung der Eltern gab oder gibt. Geleistetes versinkt unter Scham, die die Kinder anstelle ihrer Eltern meist unbewusst übernehmen. Negative Selbstzuschreibungen sind dann an der Tagesordnung: „Ich bin doch so furchtbar angepasst!“ (wenn  die Überanpassungsleistung ständig nötig war),  oder „Ich hab doch so ein dämliches Helfersyndrom“ ( wenn sich Kümmern in krisenhaften Kindheiten als einzig lebbare Möglichkeit erschien) u. ä. lauten dann die unguten Selbst-Zuschreibungen.

Jetzt im Erwachsenenalter können Sie,insbesondere wenn die elterliche Belastung nun hinter ihnen liegt, neu und anders leben: indem Sie einen anderen Umgang mit sich selbst pflegen. Sie können Ihre Eltern vermutlich nicht ändern, so sehr Sie das auch wünschen, so sehr Sie sich dafür anstrengen, Als Angehörige einer belasteten Familie haben Sie vermutlich Großes geleistet (Oder tun es immer noch), entsprechende Bewältigungsmechanismen entwickelt, aus denen  spezifische, ihnen sehr eigene, Stärken entstanden sind – nur allzu lange wurden diese übersehen, von anderen und womöglich auch von Ihnen selbst. Im Heute, gerade jetzt, können diese durch Sie selbst Beachtung erfahren, neu in Resonanz und die Welt gehen, indem sie, auch wenn es ungewohnt erscheint, die Botschaft dieses Wochenimpulses umsetzen: Würdige, was niemand sah!

(Formulierung in Anlehnung an Buchtitel Barnowski-Geiser 2009: Hören, was niemand sieht) .

Sonniges auf Ihre Wege sendet

Ihre

Waltraut Barnowski-Geiser