„Ich brenne jetzt für mich selbst…warum Selbstfürsorge eine Herausforderung für Erwachsene aus schwierigen Elternkonstellationen bedeutet!
„Ich brenne jetzt für mich selbst!“ Diesen Impuls verdanke ich einer Klientin auf dem Weg aus ihrem Burnout. Überrascht findet sie auf der Suche nach beruflicher Orientierung diesen Satz für sich. Zunächst mag die Aussage im Wochenimpuls vielleicht ein wenig befremdlich wirken. Für sich selbst brennen? Wo doch vielmehr Egoismus in unserer Zeit eher zu bemängeln ist? Wenn Menschen in einer Familie mit erkrankten Eltern aufgewachsen sind, dann haben Sie meist von Anfang an gelernt, ihre eigenen Bedürfnisse völlig zurückzustellen, um dem Elternteil in der Krise helfen zu können. Sie befinden sich gleichsam auf dem Gegenpol von Egoismus: sie neigen eher dazu, wenn sie sich überhaupt in den Blick nehmen, dieses auf sich achten als puren Egoismus zu interpretieren. Sie setzen meist über Jahrzehnte, weit über ihre eigenen Grenzen hinaus, alles daran, ihre Eltern zu unterstützen, diese etwa von der Sucht wegzubringen, sie aus der Depression zu holen etc. Sich leidenschaftlich für ihre eigenen Bedürfnisse einzusetzen, ist Kindern aus belasteten Familien meist völlig fremd. Oft führen erst Krankheiten wie ein Burnout dazu, nicht mehr ausschließlich für Andere und Anderes zu brennen, sondern endlich auch für sich selbst. Ein wichtiger Schritt auf einem Weg zu mehr Lebensqualität.
Übung: Setzen Sie sich bequem hin. Spüren Sie, wie in den ersten Übungen auf diesen Seiten angeregt, Ihren Atem und wenden Sie sich Ihrem Körper zu…Wenn sie ein wenig mit ihrem Atem und Körper in Verbindung gekommen sind, spüren sie doch einmal nach, ob sie die Flamme, die für sie selber brennt, in Ihrem Körper spüren können. Lassen Sie sich Zeit… Wenn sie eine Körperstelle gefunden haben, verweilen Sie ein wenig dort. Spüren Sie hin: was erhält diese Flamme, was braucht sie, um ausreichend brennen zu können… Vielleicht gestalten Sie Ihre Flamme auf ein Papier. Malen Sie eine entsprechende Umgebung. Wenden Sie sich in dieser Woche dieser Körperstelle immer wieder einmal zu…
Wenn diese Flamme für Sie in Ihrem Körper nicht auffindbar ist, lassen Sie sich Zeit. Beginnen Sie, diese Flamme zu imaginieren oder malen, so, wie Sie für sie sein müsste.
Leichtigkeit und Schwere haben sich zusammengefügt!“ oder wie Frau N.`s Leben besser gelingt
Menschen mit belasteten Kindheiten warten, nicht nur im Advent: sie warten auf Heilung, auf ein besseres Leben – oft ist diese Besserung für sie gekoppelt an Veränderung erkrankter Elternteile oder Partner. Sie denken, dass ihr Leben nur besser sein könne, wenn etwa die Mutter aufhört zu trinken, der Vater nicht mehr so depressiv ist u.ä. Damit einher geht meist der verständliche Wunsch, für all die schlechten Erfahrungen der Kindheitstage doch noch entschädigt zu werden, endlich Ruhe und Frieden zu finden; andere möchten endlich eine Beziehung erleben, in der sie so geliebt werden wie sind – anders als damals.
Wie haben Menschen es geschafft, die mächtigen Spuren des Gestern hinter sich zu lassen und heute besser zu leben? Dazu möchte ich Ihnen hier immer wieder mal Menschen vorstellen, die ich auf kreativen Wegen interviewt habe und die auf ihre Weise ihren Weg zu einem besseren Leben schildern. Soviel vorab: Meist hatte das als besser empfundene Leben weniger mit der Veränderung des Angehörigen zu tun…
Beginnen wir mit einer jungen Frau, die ich hier Frau N. nennen möchte. Frau N. hat einen sozialen Studiengang abgeschlossen und ist aus ihrem Elternhaus erst kürzlich ausgezogen. Das war ein großer Schritt für sie. Ihr Vater ist Alkoholiker mit Dauerkonsum, „heimlich und heftig“, wie sie sagt, „mit allen Ausbrüchen und Auswüchsen, die man sich vorstellen kann“. Auch wenn er immer noch arbeite und ein bekannter Jurist in seiner Heimatsatdt sei: sein Alkohol-Doppelleben sei für die meisten Menschen wohl nicht vorstellbar, auch nicht seine heimische Cholerik. Um ihren Weg von der Zeit vor der Therapie bis heute zu schildern, wählt Frau N. Kunstdrucke, denen sie selbst Namen gibt.
Vor der Therapie „Stürzen“ (Kunstdruck von Frida Karlo)
„Ich war stumm und drohte zu erstarren. Ich hatte lauter ungute Männerbeziehungen und war nicht aus meinem Elternhaus abgelöst, fühlte mich für alles dort zuständig, während mir die Atmosphäre gar nicht gut tat. Ich hatte wenig Selbstbewusstsein, es fühlte sich an, als würde ich demnächst tief stürzen.“
Jetzt:„Dem Gipfel nahe“ (Kunstdruck v. C.D. Friedrich)
„Ich habe sehr viel geschafft, ich bin ausgezogen und viel selbstbewusster. Ich achte auf mich und spüre mich – ich schaue vom Gipfel in eine andere Welt, von der ich früher nur eine Ahnung hatte. Ich freue mich, dass ich das jetzt auch mit einem Partner, der mich achtet, teilen kann. Das ist neu. Ich fühle mich sehr leicht, Leichtigkeit und Schwere haben sich zusammengefügt. Ich habe eine eigene Familie und lebe in einer liebevollen Atmosphäre mit viel Zärtlichkeit, die mir so fremd war. Ich traue mich heute, mich auf mir liebe Menschen einzulassen. Ich habe einen Blick für meinn Leben – früher war ich nur mit meinen Eltern beschäftigt. Ich weiß jetzt, dass ich sie nicht ändern kann und auch nicht zuständig bin. Mir half, dass ich in der Therapie ernst genommen und so wieder achtsam für mich selbst wurde. Ich fühlte mich geschützt und unterstützt – in meiner eigenen Wahrnehmung- das hatte gefehlt.“ (zit. in Anlehnung an Barnowski-Geiser, W. :Hören, was niemand sieht).
Wie gelingt Frau N ihr neues Leben: sie musste etwas zurücklassen, in diesem Fall ihr Elternhaus und die damit verbundene ungute Dauernähe zum Suchtkranken und seinen Ausbrüchen. Sie musste Abstand zu ihrer eigenen Überverantwortlichkeit gewinnen und demütig einsehen, dass sie die Situation der Eltern nicht wirklich ändern kann. Sie musste einen Blick für die Leichtigkeit neben der Schwere finden, achtsam für Leichtes werden und wirklich leichter leben.
Gern empfehle ich an dieser Stelle das Online-Angebot einer Kollegin
Einen guten Start in eine Woche mit kleinen wunderbaren Momenten wünscht
Ihre
Waltraut Barnowski-Geiser
Gesundbleiben in Coronazeiten: Entspannen statt Alarmismus
Wenn Menschen in belasteten Familien aufgewachsen sind, dann mussten sie oft eine erhöhte Wachsamkeit entwickeln. „Hat die Mama schon angefangen zu trinken und tut gleich Unberechenbares?“… „Wird Papa gleich wütend und gewalttätig werden?“ „Werde ich gleich viele ungute Dinge zu hören bekommen?“…Das waren Fragen, die Sie sich als betroffenes Kind meist täglich stellen und möglichst richtig beantworten mussten: um Gefahren vorauszusehen und sich selbst vorausschauend in Sicherheit zu bringen. Diese erhöhte Wachsamkeit rettete damals womöglich Ihr Überleben. Wenn Sie diese Unsicherheiten, gar Bedrohungen über Jahre erleben mussten, hat sich die erhöhte Dauerwachsamkeit womöglich verfestigt und sich in Ihnen als neuronale Endlos-Spur verschaltet. Sie ist vielleicht Teil Ihres Erlebens geworden, den Sie nicht einmal mehr bemerken. Mit der Folge: Sie sind auch heute noch schnell sehr wach und hoch angespannt, wie ein Luchs, in Dauerbeobachtung vor lauernden Gefahren. Wie meine Praxisarbeit zeigt wirkt sich das Corona-Virus nun ungünstig auf Erwachsene aus belasteten Familien aus: sie klagen vermehrt über eine große Erschöpfung und Gereiztheit, die sie zunächst nicht mit ihrer Geschichte in Zusammenhang bringen. Dieser „Alarmismus“, wie ich ihn hier nennen möchte, in der Fachliteratur auch in Zusammenhang mit posttraumatischen Belastungsstörungen als Vigilanz bezeichnet, kostet viel Kraft und Energie. Unerkannt kann Alarmismus burnoutähnliche Symptome auslösen.
Was hilft?
Betroffene benötigen dringend Auszeiten: das in Höchstleitung arbeitende System muss dringend runtergefahren werden, damit sich Immunabwehr und Regeneration entfalten können – Ihr System braucht Pausen des Loslassens, des Nicht-Aufpassen-Müssens, mindestens einmal täglich. Heute können Sie sich solche Auszeiten meist selbst kreieren. Über Achtsamkeitsübungen, Waldspaziergänge, Natur-und Tiererlebnisse oder anderes, das sie positiv erleben. Vielen hilft auch eine tägliche Imagination, wie die eines sicheren Ortes.Also: Coronaregeln einhalten ist das eine, Infos sammeln auch: Selbstfürsorge mit Entspannen und Auszeit scheint eine dringend notwendige Maßnahme zur Gesunderhaltung. Alles kann mit nur einem bewussten Atemzug beginnen.: trainieren Sie Ihre hoffnungsvolle Seite.
Eine gute Woche wünscht Ihre
Waltraut Barnowski-Geiser
Auch verdammt stark: von den uebersehenen Stärken der Suchtkinder.
Kinder aus Suchtfamilien, und das wurde die längste Zeit (sogar in Forschungsaktivitäten jüngerer Zeit) sträflich übersehen, entwickeln auch besondere Stärken. Diese Stärken zeichnen die betroffenen Kinder in besonderer Weise aus; sie sind ihnen jedoch meist selbst wenig bewusst. Da sie für Ihre besonderen Leistungen in ihren Familien kaum Anerkennung erhielten, sogar eher zum Sündenbock gestempelt wurden, ist ihnen der Zugang zu ihren Stärken oft verwehrt: sie übersehen diese als Erwachsene so, wie sie es im Kindesalter durch die eigenen Eltern erfahren haben. Die betroffenen Kinder (auch Kinder psychisch und anders schwer belasteter Eltern) geraten in eine Tabu-Stärkenfresserspirale. In der elterlichen Scham über das eigene Unvermögen, elterliche Fürsorge angemessen und dauerhaft anzubieten, sondern diese viel zu früh an das Kind delegiert zu haben, fällt die alltägliche Höchstleistung des Kindes unter den Tisch. Es beginnt eine Negativspirale in einer verquer anmutenden familiären Dynamik: es wird so getan,als gaebe keine (Sucht)-Erkrankung, kein elterliches Versagen, kein Leiden der Kinder und folglich keine besondere Leistungen der Kinder. Über Jahrzehnte gelebt, wird diese Spirale Teil der Selbstzuschreibung der Kinder: das erwachsene Suchtkind leistet und leistet, und bewertet das in vertrauter Manier: „Ich habe doch gar nichts gemacht!“ Kommen dann noch entsprechende Partner, Arbeitskollegen oder Chefs dazu, wiederholt sich die Tabu-Stärkenfresserspirale allzu ungut.Die Tabu-Stärkenfresserspirale tritt auch bei anderen elterlichen Erkranungen
auf, die mit Tabusisierung einhergehen ( z.B. elterliche psychische Erkrankung, elterliche Traumatisierung etc.).
Vielleicht wagen Sie heute einen Blick auf Ihre Staerken,auch wenn das vielleicht ungewohnt erscheint.Welche besondere Staerke mussten Sie beinahe zwangslaeufig entwickeln…welche war Ihnen schon on die Wiege gelegt?
Eine gute Zeit in diesen sonnigen Spaetsommertagen wuenscht Ihre
Belastete Kindheit-als Erwachsene aengstlich?Wie Sie neuronale Bahnungen im Jetzt doch aendern koennen
„Warum leide ich bis zum heutigen Tag an Gefuehlen,die mich ueberfluten?“
Oder auch
„Warum fuehle ich nichts?“
„Warum bin ich,mir und anderen unerklaerlich, chronisch krank,psychisch belastet?“
Diese Fragen begegnen mir in der Zusammenarbeit mit erwachsenen Kindern besonders belasteter Familien immer wieder.Deshalb hier und heute dazu grundlegende Erklaerungsversuche.
Krisenkinder
Die schlechte Nachricht, die Ihnen als Betroffene sicher bereits bekannt ist, vorab: Kinder, die dauerhaft Krisen ihrer belasteten Familien ausgesetzt sind, können massive Folgen davontragen; diese Folgen sind teils messbar an ihrem Serum-Cortisolspiegel und in Hirnstrukturen, können sie doch neuronale Strukturen des Hippocampus, der Amygdala sowie des Corpus Callosum zerstören. Verursacht werden zum Teil organisch begründbare Regulationsstörungen, später auch komplexe Störungen von Lernen, Emotionen und Verhalten (Trost 2003). Auch wenn dieser Zusammenhang von neuronaler Schädigung für betroffene Kinder in quantitativen Untersuchungen noch nicht hinreichend untersucht ist, muss vermutet werden, dass Gehirne von Kindern aus belasteten Familien durch das emotionale Klima ihrer Familien stark geprägt sind. Es steht zu befürchten, dass lang andauernde wiederholte Belastungen der familiären Umwelt neuronal entsprechend verankert werden und diese‚ emotionalen Straßen’ auch dann aufgesucht werden, wenn es nicht mehr von Nöten ist. Dies zeigte sich bei denjenigen erwachsenen Personen, die bis ins hohe Alter keine Auflösung des familiären Tabus erfahren hatten, bei denen sich etwa Suchtbelastung durch etliche Jahrzehnte zog und auch im Erwachsenenalter lebensbestimmend blieb. Es scheint in diesem Fall schwer zu sein, eingefahrene Hirnstraßen zu verlassen (etwa die der Angst und Ohnmacht) und neue Straßen (Freude,Hoffnung etc.) zu befahren. Damit kann ein wesentlicher Faktor zur Orientierung in der Welt durch das familiäre Erleben maßgeblich negativ beeinflusst werden. Sogar genetisch scheinen diese Erfahrungen Spuren zu hinterlassen (In jüngerer Zeit wurde an Mäusen nachgewiesen, dass die Gene bei Nachkommen traumatisierter Mütter in Mitleidenschaft gezogen waren; sie zeigten sich als weniger Stressresistent und verzweifelter in eigenen Krisensituationen). Muss ich das wissen, denken Sie nun vielleicht, das ist doch nur traurig. Ich finde, ja, sie sollten sich mit diesen Dingen auseinandersetzen, um sich selbst ein Stück besser zu verstehen. Erst, wenn wir verstehen, warum wir wurden, was wir sind, können wir einen ZUgang zu unserer wahren Identität bekommen: im anderen Falle, wenn wir Altes nur unerkannt abspalten, drohen wir uns selbst fremd zu bleiben.
Hirne sind nutzungsabhängig: warum Kinder mit familiärer Belastung leicht ängstlich werden
Schauen wir weiter aus neurowissenschaftlicher Perspektive. Versuchte Erklärungen müssen im Angesicht der hochkomplizierten Vorgänge in unseren Hirnen unverschämte Vereinfachungen bleiben…versuchen wir dennoch eine Annäherung: Außenwelt hinterlässt Spuren in der Innenwelt. Neurologisch spricht man hierbei von inneren Repräsentationen der Außenwelt. Auch die Repräsentationen unserer Gefühlswelt (neurowissenschaftlichen Untersuchungen u.a. von Braun, Spitzer) spiegeln erlebte Erfahrungen. Unsere Gefühlswelt ist erlernt, vor allem in sozialer Erfahrung. Befinden, Stimmungen und Gefühle sind bei Kindern aus belasteten Familien stark in Mitleidenschaft gezogen. Kinder lernen etwa: „Wenn Papa trinkt, gibt es Ärger für mich!“ Wird diese Erfahrung wiederholt gemacht, wird diese Erfahrung auch neuronal verschaltet: sie bildet eine Hirnspur. Je öfter diese Erfahrung gemacht werden, umso tiefer gräbt sich diese Spur im Hirn ein, sprich: Kinder entwickeln Ängste ( eine Hirnautobahn „Angst“) und weitere mit diesem Erleben verbundene Gefühle werden nutzungsabhängig verschaltet. Aus dem Kind, das in einer Szene Angst hat, wird bei dauerhafter Wiederholung, leicht ein überängstliches Kind: insbesondere dann, wenn, wie oft in tabuisierenden Familien, das Gefühl des Kindes nicht benannt und besprochen werden darf, das Kind folglich keine angemessene Unterstützung in Form von Trost oder Halt erfährt. Das Befinden Betroffener wird durch dieses kindliche Krisenerleben geprägt, das Gehirn entsprechend gebaut – auch als Erwachsene, wenn das Elternhaus längst verlassen wurde, sind diese grundlegenden Verschaltungen angelegt. Es ist also nachvollziehbar, dass ein in der Kindheit entsprechend „verschalteter“ Erwachsener, der die Spur Angst zu einer regelrechten Autobahn im Kopf entwickelt hat (Formulierung in Anlehnung an Hüther), auch als Erwachsener schnell auf eben dieser Autobahn landet. Denkweisen, Selbstbild, Körpererfahrung usw. sind neuronal verschaltet: sie bilden ein Erlebens- Panorama im Jetzt, das im familiären System erlernt wurde.
Unterwegs auf der Hirnautobahn Gefühl
Gefühle sind neuronale Repräsentationen „Wir werden oft von den Gefühlen unbemerkt gesteuert.“ , sagt der Hirnforscher Spitzer schon vor einem Jahrzehnt. Emotionen bieten Kindern Orientierungshilfe beim Zurechtfinden in einer komplizierter werdenden Welt. (Spitzer 2003) Werden anstehende Probleme angemessen gelöst, stellt sich ein gutes Gefühl ein, das sich im Gehirn verankert. (Hüther 1999) Je früher diese Verschaltung erfolgt und je häufiger sie bei Belastungen und Herausforderungen aktiviert wird, umso stärker ist der Bahnungsprozess im Gehirn. Welche Verschaltung zu einem Gefühl gebahnt wird, hängt von subjektiven Empfindungen ab. „Mit jeder erfolgreich bewältigten Belastung, jeder bestandenen Herausforderung wird unter dem Einfluß der bei der kontrollierbaren Streßreaktion stattfindenden Aktivierung des noradrenergen Systems das jeweils empfundene Gefühl in Form von bestimmten dieser Empfindung zugrunde liegenden neuronalen Verschaltungen im Gehirn verankert.“ (Hüther 1999, S.69) Aber auch Belastendes und wiederholt nicht Bewältigtes wird im Gehirn als Trampelpfad abgespeichert. „Emotionale Verunsicherung führt zur Aktivierung limbischer und anderer stress-sensitiver neuro-endokriner Regelkreise und zwingt das Kind, nach geeigneten Strategien zur Wiederherstellung seines emotionalen Gleichgewichtes zu suchen. Einseitige, unbalancierte Bahnungsprozesse führen zwangsläufig zu defizitären Entwicklungen in anderen Bereichen (Wahrnehmung, Motorik, Lernverhalten, Motivierbarkeit, Sozialverhalten). (Trost 2003, S.60) Auch wiederholte Traumatisierungen wirkten nachhaltig destabilisierend auf die neuro-endokrinen und vegetativen Regelkreise.
Gefühle zwischen Ich und Du
Gefühle entstehen im sozialen Raum: Kinder und Erwachsene aus belasteten Familien fühlen nicht an sich, ängstigen sich nicht an sich, sind nicht an sich leer, schuldig, sondern ihre Gefühle sind Repräsentanten und zugleich Träger ihrer sozialen Beziehungen, sprich ihren belasteten Eltern oder Geschwister.
Gefühle werden in einer leibtherapeutischen Sicht sowohl in ihrer Leiblichkeit in Bezug aus Körper, Seele und Geist angesehen, als auch in ihrer Räumlichkeit aufgefasst, in letzterer insbesondere in ihrer Rückbeziehung auf das Subjekt. Psychiater und Leibphilosoph Thomas Fuchs: „Wie beim Tasten (‚Fühlen’) Empfinden und Selbstempfinden ineinsfallen, so ist das Gefühl als Gegenstandsbeziehung zugleich ein Selbstverhältnis, also Fühlen und sich-Fühlen in einem (sich fürchten, sich schämen, sich freuen). Die Furcht oder Angst vor (…) bedeutet auch Furcht oder Angst um mich selbst oder mein Leben. Die Scham vor den anderen ist zugleich die Scham über mich. Im Gefühl ist das Selbst sich nicht gegenständlich, als sein eigenes Objekt, sondern zuständlich, erleidend gegeben, als Subjekt affektiven Betroffenseins.“ (Fuchs 2000) Es lässt sich folgern, wie die sogenannte Zwischenleiblichkeit wirken kann: Betroffene aus belasteten Familien können innerlich derart verwoben sein mit erkrankten Angehörigen, auch und gerade in der Entwicklung ihrer eigenen Gefühlswelt, dass kaum noch eine Unterscheidung zwischen Ich und Du erlebt wird, weder leiblich noch räumlich. Die Gefühle der Eltern wabbern als Atmosphären in den Raum, für die Kinder kaum noch unterscheidbar, wo ihre eigenen Gefühle anfangen, wo sie teil einer Atmosphäre sind. „So werden Gefühle auch zu Indikatoren für die Qualität der Beziehung, in der die anderen Menschen und die Sachverhalte unserer Welt zu uns selbst stehen.“ (Fuchs) Es entsteht ein typischer Schwingungsraum zwischen Eltern und Kindern. Die gelungene oder misslungene Affektabstimmung und der Aufbau von Gefühlen ist maßgeblich für den Aufbau von weiteren Beziehungen. „Gefühle werden im Ausdruck, als Ausstrahlungen, Gesten und Handlungen ‚entäußert’, um so ihrerseits Gefühle in anderen zu induzieren. Ohne dass wir und dessen immer bewusst wären, wirken umgekehrt die Gefühle und Haltungen der anderen ständig auf unsere eigenen ein. So bilden Gefühle einen Raum mannigfaltiger Schwingungen, die sich ausbreiten und ein Eigenleben entwickeln, obwohl sie doch zugleich das persönlichste in uns sind.“ (Fuchs 2000) Also vereinfacht: was wir an Beziehungserfahrung gemacht haben, das wohnt in uns und das geben wir auch in irgendweiner Weise an andere weiter.
Tabu, Geheimnis, Gefühl
Wenn das, was Kinder aus belasteten Systemen bewegt, nicht besprochen werden darf, nicht nach Außen dringen darf, verstärkt das Stress und Belastung. Zudem verfestigt sich eine Spaltung zwischen innerem Erleben und dem nach Außen Gezeigten. Viele Kinder können folglich irgendwann nicht mehr unterscheiden, was sie im Angesicht der familiären Tabuisierung fühlen sollen und was sie tatsächlich erleben und fühlen. Gefühle werden zu Leerstellen des Erlebens oder mutieren zu diffusen Grundstimmungen. Dies kann zu einem chronifizierten schlechten Befinden führen, das sich die Betroffenen selbst nicht erklären können. Die erzwungene Verleugnung ihrer realen Lebenssituation (etwa die Drogensucht der Mutter) geht in der Regel so weit, dass sie sich sogar vorwerfen, sich grundlos schlecht zu fühlen. Dieses auf den ersten Blick paradox erscheinende Phänomen ist jedoch bei genauerer Sicht auf die belastete Biografie nachvollziehbar.
Stress und Krankheit
Viele kennen es aus eigener Erfahrung: Man wird zur anstehenden Prüfung nicht krank, aber kurz danach. Interessante Erkenntnisse hierzu liefert die Psychoneuroimmunologie: In der Stresssituation selbst ist ein Hochfahren des Systems erforderlich, eine Aktivierung des Immunsystems erfolgt. Ein Schutzsystem wird aufgebaut, da Entzündung nun gefährlich wäre. Es erfolgt eine Corstisolausschüttung im Körper. Cortisol supprimiert die zelluläre Immunaktivität, die uns vor viralen Infekten schützt. Und so findet man der Harvard University Zusammenhänge: bei Überforderung und Stress fordert das Zwischenhirn an, in den Nebennieren Adrenalin zu produzieren. Es erfolgt also eine Verteidigung auf körperlicher Ebene, Erregung wird gedämpft. Chronischer Stress dämpft in der Folge Immunabwehr und zelluläre Abwehr. Folge waren eine Reihe von Anfälligkeiten: die Versuchspersonen zeigten sich Grippe-und Herpesanfälliger, anfälliger für Neurodermitis-und Autoimmunerkrankungen sowie Allergien. Dies konnte auch an Kindern stressbelasteter Mütter nachgewiesen werden.Man fand beispielsweise Zusammenhänge zwischen traumatischen Erfahrungen im Kindesalter und Rheumaerkrankungen im Alter. Biochemische Vorgänge sind komplex. Der Zusammenhang zwischen Stress in der Kindheit und späterer Krankheit lässt sich heute erklären: Das überforderte System ist irgendwann erschöpft. Es kommt zu vermehrten Entzündungen, was zu schweren Erkrankungen wie Rheuma, Krebs usw. führen kann (hierzu auch Christian Schubert, Innsbruck, Integrativer Therapeut und Psychoneuroimmunologie/Psychotherapie- Integrierte Medizin).
Denken wir die vorangestellten Forschungen für Erwachsene aus belasteten Familien weiter, so wird deutlich:
es besteht ein Zusammenhang zwischen emotionalen Belastungen in Kindheitstagen und emotionaler Befindlichkeit im Erwachsenenalter
es besteht ein Zusammenhang von wiederholten stressenden Kindheitserfahrungen und chronischen/schweren Erkrankungen im Erwachsenenalter.
Eine große Belastung der Lebensqualität von Menschen mit belasteter Kindheit erschent evident.
„Help…I need somebody“
In der Überschrift, hier mit einem Oldie der Beatles, wird kurz auf den Punkt gebracht, was wir Kindheitsbelastungen, Stimmungs-und Befindlichkeitstörungen entgegensetzen können: Hilfe suchen und annehmen, die Verbindung und Zuwendung von anderen, nahestehenden Menschen… also können wir etwas tun!
Fasst man die vorab geschilderten Forschungsergebnisse zusammen, so sind die Belastungen und Folgen bei Kindheitsbelastungen hoch einzustufen. Und dennoch eine gute Nachricht aus der Forschung: es gibt Stärkendes! Widerstandskräfte, die uns schützen, sogenannte Resilienzen. Resilienzen sind also das, was uns stark macht. Resilienzen sorgen dafür, dass viele Menschen mit Kindheitsbelastungen eben auch nicht erkranken. Eine bedeutsame stabile Beziehung im Umfeld eines aufwachsenden Kindes ist eine solch hochwirksame Resilienz. Sind Erkrankungen vorhanden, zeigten sich etwa Meditation und soziale Anbindung als hochwirksam. Vernetzen und andere Menschen mit ins Boot Holen zeigt in allen Lebensphasen Wirkung. Nervensystem und Immunsystem können einander verständigen, dies können wir für uns nutzen. Decartes Dualismus hat lange Medizin bestimmt. Aber neuere Forschungen überprüfen, wie Gehirn und Immunsystem zusammenhängen und es wird deutlich: sie sind in ständigem Austausch. Ein gestresstes Gehirn beeinflusst das Immunsystem, somit gilt auch die Umkehrung: ein entspanntes Gehirn entlastet den Körper. Körper und Geist sind eine Einheit, was ganzheitliche, integrative, leiborientierte, kreative und komplementär-Medizin für Betroffene auf den Plan ruft. Basis bildet weiterhin die Schulmedizin. Gute Erfolge ließen sich auch durch kognitive Umstrukturierung erzielen, also problematische, dysfunktionale Gedanken, etwa durch einen anderen Gedanken zu ersetzen ( wie es in einigen Religionen und Philosophien auch seit Jahrtausenden gelehrt wird)… Selbstheilung können Sie aktiv unterstützen. Sogar ein EEG kann signifikant verändert werden. Sie können durch Ihre Lebens-und Denkweise Einfluss nehmen.
Ein wichtiger Faktor: eine soziale Umgebung, ein Feld der Hoffnung und Zuwendung (teils Liebe genannt ), im Idealfall im eigenen Zuhause. Der Satz: „Ich kann gesund werden!“, oder: „Ich kann meine Kindheitswunden überwinden!“ gehört zur hochwirksamen Einstellung, die Veränderung möglich werden läßt. Hilfe für Betroffene muss individuell erfolgen, spezifisch zugeschnitten sein: sie benötigt mindestens einen wohlwollenden Anderen. Immer sollte sie Anregung zur Selbsttätigkeit beinhalten (hierzu auch das AWOKADO-Selbsthilfe-Programm in Vater, Mutter, Sucht 2015 und Meine schwierige Mutter 2017). Glauben wir der Psychoneuroimmunologie, so helfen Krisenkindern bei der schwierigen Bewältigung vor allem: Optimismus, stabile Sozialkontakte, ein guter Alltag und körperliche Nähe.
Filmbeitrag Selbstheilungskräfte und Psychoneuroimmunologie
Fuchs, T. (2000). Leib-Raum-Person. Entwurf einer Phänomenologischen Anthropologie. Stuttgart: Klett Cotta.
Fuchs, T. (2008): Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. Stuttgart: Kohlhammer.
Hüther, G. (1999): Biologie der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Lammel, U. A. (2007). Phänomenologie einer Jugendkultur in den 90er Jahren und Anfragen an Soziale Arbeit in Praxis und Ausbildung. In H. Petzold, P. Schay, P. & W. Ebert (Hg.), Integrative Suchttherapie. Theorie, Methoden, Praxis, Forschung (2. Aufl.) (S. 17-63). Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
Michaelis, K. & Petzold, H. (2010). Zur Situation von Kindern suchtbelasteter Familien aus Sicht der integrativen Therapie. Integrativ-systemische Überlegungen zur Entwicklung von Risiko und Resilienz bei Kindern mit suchtkranken Eltern. Integrative Therapie, 36 (2/3), 252-280.
Orth, I. ( 2012): Unbewusstes in der therapeutischen Arbeit mit künstlerischen Methoden,kreativen Medien – Überlegungen aus der Sicht „Integrativer Therapie“ in Polyloge, Internetzeitschrift der EAG-FPI.
Spitzer, M. (2002). Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg: Spektrum.
Trost, A. (2003). Interaktion und Regulation bei suchtkranken Müttern und ihren Säuglingen. In Landschaftsverband Rheinland, Dezernate Gesundheit und Jugend/ Landesjugendamt (Hg.), Suchtfalle Familie?!. Forschung und Praxis zu Lebensrealitäten zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. Dokumentation der gemeinsamen Fachtagung der KFH NW, Forschungsschwerpunkt Sucht, und des Landschaftsverbandes Rheinland, Dezernate Gesundheit und Jugend/Landesjugendamt. Köln.
„Leichtigkeit und Schwere haben sich zusammengefügt!“ oder wie Frau N.`s Leben besser gelingt
Menschen mit Kindheitsbelastungen warten auf Heilung, auf ein besseres Leben – oft ist diese Besserung für sie gekoppelt an Veränderung erkrankter Elternteile oder Partner. Sie denken, dass ihr Leben nur besser sein kann, wenn etwa die Mutter aufhört zu trinken, der Vater nicht mehr so depressiv ist u.ä. Damit einher geht meist der Wunsch, dass der kindlich erlebte Mangel, schlechte Erfahrungen doch noch entschädigt werden, endlich Ruhe und Frieden einkehre; andere möchten endlich eine Beziehung erleben, in der sie so geliebt werden wie sind – anders als damals.
Wie haben Menschen es geschafft, die mächtigen Spuren des Gestern dennoch hinter sich zu lassen und heute besser zu leben? Dazu möchte ich Ihnen einige Menschen vorstellen, die ich auf kreativen Wegen interviewt habe und die auf ihre Weise ihren Weg zu einem besseren Leben schildern. Soviel vorab: Meist hatte das als besser empfundene Leben weniger mit der Veränderung des Angehörigen zu tun…
Beginnen wir mit einer jungen Frau, die ich hier Frau N. nennen möchte. Frau N. hat einen sozialen Studiengang abgeschlossen und ist aus ihrem Elternhaus erst kürzlich ausgezogen. Das war ein großer Schritt für sie. Ihr Vater ist Alkoholiker mit Dauerkonsum, „heimlich und heftig“, wie sie sagt, „mit allen Ausbrüchen und Auswüchsen, die man sich vorstellen kann“. Auch wenn er immer noch arbeite und ein bekannter Jurist in seiner Heimatsatdt sei: sein Alkohol-Doppelleben sei für die meisten Menschen wohl nicht vorstellbar, auch nicht seine heimische Cholerik. Um ihren Weg von der Zeit vor der Therapie bis heute zu schildern, wählt Frau N. Kunstdrucke, denen sie selbst Namen gibt.
Vor der Therapie „Stürzen“ (Kunstdruck von Frida Karlo)
„Ich war stumm und drohte zu erstarren. Ich hatte lauter ungute Männerbeziehungen und war nicht aus meinem Elternhaus abgelöst, fühlte mich für alles dort zuständig, während mir die Atmosphäre gar nicht gut tat. Ich hatte wenig Selbstbewusstsein, es fühlte sich an, als würde ich demnächst tief stürzen.“
Jetzt:„Dem Gipfel nahe“ (Kunstdruck v. C.D. Friedrich)
„Ich habe sehr viel geschafft, ich bin ausgezogen und viel selbstbewusster. Ich achte auf mich und spüre mich – ich schaue vom Gipfel in eine andere Welt, von der ich früher nur eine Ahnung hatte. Ich freue mich, dass ich das jetzt auch mit einem Partner, der mich achtet, teilen kann. Das ist neu. Ich fühle mich sehr leicht, Leichtigkeit und Schwere haben sich zusammengefügt. Ich habe eine eigene Familie und lebe in einer liebevollen Atmosphäre mit viel Zärtlichkeit, die mir so fremd war. Ich traue mich heute, mich auf mir liebe Menschen einzulassen. Ich habe einen Blick für meinn Leben – früher war ich nur mit meinen Eltern beschäftigt. Ich weiß jetzt, dass ich sie nicht ändern kann und auch nicht zuständig bin. Mir half, dass ich in der Therapie ernst genommen und so wieder achtsam für mich selbst wurde. Ich fühlte mich geschützt und unterstützt – in meiner eigenen Wahrnehmung- das hatte gefehlt.“ (zit. in Anlehnung an Barnowski-Geiser, W. :Hören, was niemand sieht).
Wie gelingt Frau N ihr neues Leben: sie musste etwas zurücklassen, in diesem Fall ihr Elternhaus und die damit verbundene ungute Dauernähe zum Suchtkranken und seinen Ausbrüchen. Sie musste Abstand zu ihrer eigenen Verantwortlichkeit gewinnen und demütig einsehen, dass sie die Situation der Eltern nicht wirklich ändern kann. Sie musste einen Blick für die Leichtigkeit neben der Schwere finden, achtsam für Leichtes werden und wirklich leichter leben.
Nun werde auch ich ein paar Tage Blogschreibpause einlegen: eine gute Osterzeit,wenn auch mit ungewoehnlichen Einschraenkungen durch die Coronakrise, mit kleinen Dennochschoenen Momenten wünscht
Ihre
Waltraut Barnowski-Geiser
Meine schwierige Mutter? News für erwachsene Töchter und Söhne/Teil 1
„Erst als ich die Beziehung zu meiner Mutter bearbeitet habe, hat sich meine Beziehung zu meiner Tochter entscheidend verbessert!“ (Frau I. , 40-Jährige Pädagogin und Mutter einer 12jährigen Tochter)
Häufig ist in der Fachliteratur von schwierigen Kindern die Rede. Aber was ist mit schwierigen Eltern? Dieses Thema wird eher stiefkindlich behandelt… und wenn es um erwachsene Kinder mit schwierigen Kindheiten geht, erst Recht: wenig und nur vereinzelt kliententelspezifische Hilfe (wie etwa dankenswerterweise in den Beiträgen der KollegInnen Jens Flassbeck, Dami Charf); auch in der therapeutischen Szene muss man das Thema als Ordchideendisziplin bezeichnen. Die Not der betroffenen Menschen erscheint groß, die Ratlosigkeit der therapeutisch Tätigen ebenso: deshalb haben wir, meine Tochter Maren Geiser-Heinrichs ( Psychologin in einer Beratungsstelle) und ich, beschlossen, unsere Erfahrungen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen. Begonnen haben wir diese gemeinsamen Schritte mit einem Selbsthilfebuch für erwachsene Betroffene und begrenzen aufgrund der großen Komplexität der Themen: Wir haben uns als erstes der Mütterthematik bei erwachsenen Kindern gewidmet, die Väterthematik soll folgen. So viel vorab: wir halten beide Eltern (0der auch andere nahe Bezugspersonen) für bedeutsam in der Lebensentwicklung.
Gern möchten wir mehr Menschen für die Bedeutung kindlicher Erfahrungen sensibilisieren und für Veränderungswege öffnen. Erkennen ist der 1. Schritt auf dem Weg zur Veränderung. Die Qualität der Interaktion (wir beschreiben es in unserem Buch als lebenslangen Tanz) zwischen nahen Betreuungspersonen, meist zwischen der leiblichen Mutter und dem Kind, ist gerade in den ersten Lebensjahren des Kindes entscheidend und wird (nicht nur zu Beginn) entscheidend geprägt durch die Kompetenz der Mutter; sie sollte als die weisere (Begriff nach Grossmann&Grossmann) agieren ( und kann es nicht zwangsläufig wie gewünscht oder angenommen). Vor allem Feinfühligkeit und Bindungssicherheit sind als mütterliche Kompetenzen gefragt. Erlebt das Kind hier wenig Einfühlsames und wenig Sicheres, so kann dies weitreichenden Einfluss nehmen: u.a. auf seine Art und Weise in die Welt zu gehen, auf seinen Lebenserfolg, aber auch vor allem auf sein Selbsterleben. Ich empfehle zum tifergehenden Verständnis an dieser Stelle gern einen Vortrag von Karin Grossmann, in dem sie ihre eindrucksvollen Langzeit- Forschungsarbeiten zur Bindung zwischen Eltern ( auch unter väterlich-feinfühligen Aspekten) und Kind prägnant und gut verständlich erklärt (gut investierte 40 Minuten, finde ich). Wer mehr erfahren mag, dem sei das allerdings hochpreisige Buch des Forscherpaares ans Herz gelegt.
Ein Kind einer, nennen wir sie wie im Buch „schwierige“ Mutter, kann an den Folgen eines nicht gelungenen Bindungstanzes zeitlebens mit Leib und Seele leiden -und doch sind die Folgen nicht zwangsläufig, und auch nicht irreversibel oder irreparabel. Wie genau dieser Tanz zwischen Mutter und Kind vonstatten geht, wie der kindlich erlernte Tanz unser Erwachsenenleben bestimmt und vor allem, wie Betroffene sich im Erwachsenenalter selbst helfen können, möchten wir in unserem neuen Buch beschreiben: Meine schwierge Mutter. Das Buch für erwachsene Töchter und Söhne. Ein kreatives Selbsthilfeprogramm mit Selbsttest kann Sie in Ihrem persönlichen Veränderungs-Prozess unterstützen.
Unser Anliegen: Die Weitergabe durch die Generationen abmildern
In der therapeutischen Praxis zeigt sich: viele Probleme, die Mütter an ihren Kindern beschreiben, kennen diese selbst auch aus Kindheitsttagen… ohne dass ihnen dieser Teil ihrer Biografie wirklich bewusst wäre. Erst auf Nachfragen, etwa „Wie ging es Ihnen im Alter Ihrer Tochter?„, werden plötzlich Paralellen, Wiederholungen durch die Generationen überdeutlich. Die Mutter will nicht gewalttätig sein wie ihre Mutter…und findet doch in Augenblicken der Überforderung mit der eigenen Tochter keinen anderen Weg- Verzweiflung, Selbstvorwürfe, Schuld: ein ungutes Gebräu. Heute wollen diese Frauen und Männer es bei ihren Kindern anders machen: aber weit und breit kein geeignetes Modell in Sicht, ebenso kein verinnerlichtes Arbeitsmodell, das fähig schien, das Alte zu ersetzen. Wer keine feinfühligen Eltern erleben durfte, hat es schwerer, diese Fähigkeit in sich selbst auszubilden. Es wird zur Herausforderung, den eigenen Kindern das nötige Feingefühl, die erforderliche Bindungssicherheit zu geben. Dann lieber gar nicht erst Mutter oder Vater werden? Kinderlosigkeit wird oftmals die Not- Lösung, die zugleich selten gut erträglich scheint.Beim Thema schwierige Mütter bewegen wir uns in vielerlei Hinsicht auf einem engen Grat, Frauen vor allem zwischen den Polen eine schwierige Mutter Haben und schwierige Mutter- Sein.
Muttermythos und Tabu
Ihre eigene Mutter schwierig zu empfinden, können sich manche Menschen gut eingestehen und locker darüber plaudern (in manchen Kreisen gilt das sogar als cool und chick), für andere ist das ein so verbotenes Thema, das es kaum denkbar, geschweige denn aussprechbar wäre. Wenn das Schwierigsein ein geringeres Ausmaß zeigt, ist es leichter, wahrzunehmen und mitzuteilen, wenn das Ausmaß große ist, Traumatisierung, Beschämung und wiederholte tiefe Kränkungen beinhaltet, wird der Umgang schwieriger. Erschwert wird dieser Umgang, so zeigt sich in unseren Arbeiten, durch ethisch-moralische Maßstäbe. Man darf doch nicht die eigene Mutter in Frage stellen, denken Betroffene, das wollte man als Mutter doch auch nicht! Getreu dem ethischen Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren!“, können sich dann Betroffene, die in ihrer Kindheit viel Ungutes erlebten, oft nur noch ins Verdrängen retten- in der Folge ins Verstummen- und beschreiten so unbemerkt einen unguten Pfad der Weitergabe von Schwierigkeiten an die nächste Generation… Tabuisieren und Verschweigen waren der Preis, den die Kinder für ihre Zugehörigkeit zur Familie zu zahlen hatten. Die Gefahr ist dann groß, dass aus dem betroffenen Kind einer schwierigen Mutter neuerlich selbst eine schwierige Mutter wird: wer nicht um seine Biografie weiß, wer schwere Bindungsdefizite und Leerstellen im Erleben in sich trägt, droht unbewusst Ungutes an die nächste Generation weitergzugeben. Zugleich kann das Erkennen und Auseinandersetzen ebenso wie gute neue Erfahrungen einen Weg in ein jetzt.besser.leben. ebnen, auch im gute Mutter- oder Vater-Sein.
Im nächsten Beitrag mehr rund um diese Thematik. Für heute Danke fürs Lesen, fürs Weiterempfehlen, Diskutieren… wir freuen uns, wenn unsere Arbeit Ihnen weiterhilft.
Herzliche Grüße
Ihre
Waltraut Barnowski-Geiser
Leichtigkeit und Schwere haben sich zusammengefügt!“ oder wie Frau N.`s Leben besser gelingt
Menschen mit belasteten Kindheiten warten, nicht nur im Advent. Advent verbinden viele mit dem Warten auf das Licht. Christlich orientierte Menschen warten in der Adventszeit auf den Erlöser, den sie in Christus verkörpert sehen.Menschen mit Kindheitsbelastungen warten auf Heilung, auf ein besseres Leben – oft ist diese Besserung für sie gekoppelt an Veränderung erkrankter Elternteile oder Partner. Sie denken, dass ihr Leben nur besser sein kann, wenn etwa die Mutter aufhört zu trinken, der Vater nicht mehr so depressiv ist u.ä. Damit einher geht meist der Wunsch, dass der kindlich erlebte Mangel, schlechte Erfahrungen doch noch entschädigt werden, endlich Ruhe und Frieden einkehre; andere möchten endlich eine Beziehung erleben, in der sie so geliebt werden wie sind – anders als damals.
Wie haben Menschen es geschafft, die mächtigen Spuren des Gestern dennoch hinter sich zu lassen und heute besser zu leben? Dazu möchte ich Ihnen in den nächsten Wochen einige Menschen vorstellen, die ich auf kreativen Wegen interviewt habe und die auf ihre Weise ihren Weg zu einem besseren Leben schildern. Soviel vorab: Meist hatte das als besser empfundene Leben weniger mit der Veränderung des Angehörigen zu tun…
Beginnen wir mit einer jungen Frau, die ich hier Frau N. nennen möchte. Frau N. hat einen sozialen Studiengang abgeschlossen und ist aus ihrem Elternhaus erst kürzlich ausgezogen. Das war ein großer Schritt für sie. Ihr Vater ist Alkoholiker mit Dauerkonsum, „heimlich und heftig“, wie sie sagt, „mit allen Ausbrüchen und Auswüchsen, die man sich vorstellen kann“. Auch wenn er immer noch arbeite und ein bekannter Jurist in seiner Heimatsatdt sei: sein Alkohol-Doppelleben sei für die meisten Menschen wohl nicht vorstellbar, auch nicht seine heimische Cholerik. Um ihren Weg von der Zeit vor der Therapie bis heute zu schildern, wählt Frau N. Kunstdrucke, denen sie selbst Namen gibt.
Vor der Therapie „Stürzen“ (Kunstdruck von Frida Karlo)
„Ich war stumm und drohte zu erstarren. Ich hatte lauter ungute Männerbeziehungen und war nicht aus meinem Elternhaus abgelöst, fühlte mich für alles dort zuständig, während mir die Atmosphäre gar nicht gut tat. Ich hatte wenig Selbstbewusstsein, es fühlte sich an, als würde ich demnächst tief stürzen.“
Jetzt:„Dem Gipfel nahe“ (Kunstdruck v. C.D. Friedrich)
„Ich habe sehr viel geschafft, ich bin ausgezogen und viel selbstbewusster. Ich achte auf mich und spüre mich – ich schaue vom Gipfel in eine andere Welt, von der ich früher nur eine Ahnung hatte. Ich freue mich, dass ich das jetzt auch mit einem Partner, der mich achtet, teilen kann. Das ist neu. Ich fühle mich sehr leicht, Leichtigkeit und Schwere haben sich zusammengefügt. Ich habe eine eigene Familie und lebe in einer liebevollen Atmosphäre mit viel Zärtlichkeit, die mir so fremd war. Ich traue mich heute, mich auf mir liebe Menschen einzulassen. Ich habe einen Blick für meinn Leben – früher war ich nur mit meinen Eltern beschäftigt. Ich weiß jetzt, dass ich sie nicht ändern kann und auch nicht zuständig bin. Mir half, dass ich in der Therapie ernst genommen und so wieder achtsam für mich selbst wurde. Ich fühlte mich geschützt und unterstützt – in meiner eigenen Wahrnehmung- das hatte gefehlt.“ (zit. in Anlehnung an Barnowski-Geiser, W. :Hören, was niemand sieht).
Wie gelingt Frau N ihr neues Leben: sie musste etwas zurücklassen, in diesem Fall ihr Elternhaus und die damit verbundene ungute Dauernähe zum Suchtkranken und seinen Ausbrüchen. Sie musste Abstand zu ihrer eigenen Verantwortlichkeit gewinnen und demütig einsehen, dass sie die Situation der Eltern nicht wirklich ändern kann. Sie musste einen Blick für die Leichtigkeit neben der Schwere finden, achtsam für Leichtes werden und wirklich leichter leben.
Einen guten Start in eine Adventszeit mit wunderbaren Momenten wünscht
Ihre
Waltraut Barnowski-Geiser
Vergessenen Kinder eine Stimme geben- Texte zur Coa-Aktionswoche 5
Raffaela, 13 Jahre:
„Ich habe jetzt einfach andere Wichtigkeiten!“
Vor der Therapie hatte ich viele Probleme mit meiner Mutter, ich dachte, dass ich schuld an allem bin. Ich war oft sehr, sehr traurig.
Es geht mir jetzt besser, ich achte mehr auf mich. Mir geht es gut, auch, wenn es meiner Mutter schlecht geht. Ich stürze nicht ab, wenn sie abstürzt, ich bin glücklicher. Ich kann mit meinen Freunden über ganz normale Sachen reden, ich bin nicht mehr nur voller Probleme, ich lache oft. Nachdem ich in der Therapie erzählt habe, was los ist, habe ich das auch ein paar anderen aus meiner Klasse gesagt, was mit Mama los ist. Die trösten mich jetzt, wenn was ist. Das hilft.
Ich habe jetzt einfach andere Wichtigkeiten. Familie, da ist so viel los, das lass ich hinter mir: ich konzentriere mich auf Freunde und Schule, dann geht’s mir gut. An dem anderen kann ich eh nichts machen.
Mein Zukunftswunsch ist, dass Mama clean ist und ich mit ihr zusammen wohnen kann.
Ob Mozart, LaFee oder Wir sind Helden…Musik hilft!
Haben Sie schon einmal bewusst darauf geachtet, welche Musik Sie meist hören und welche Sie früher viel gehört haben?
Für Menschen, die in schwierigen familiären Zusammenhängen leb(t)en, wird Musik oft besonders bedeutungsvoll. In der therapeutischen Arbeit zeigt sich, dass Musik insbesondere in bestimmten Lebenssituationen und in schwierigen Phasen eine wichtige Rolle spielt: Musik wird zur Trösterin, Halt Gebende im Alleinsein, ein Spiegel der gebeutelten Seele, sie schreit, was Betroffene nicht sagen dürfen…wenn wir Musik anhören, die aus einer früheren Zeit stammt, werden oftmals Szenen und Erinnerungen, Atmosphären und Menschen lebendig – und auch die Kraft, wie diese Krisen bewältigt wurden.
So fällt einer jungen Frau, erwachsene Tochter drogenabhängiger Eltern, unter Tränen ein, wie sehr ein Stück einer Popgruppe ihr als Jugendliche den Rücken stärkte – genau dann, bemerkt sie heute, hat sie dieses Stück immerzu gehört, genau dann, als ihre Eltern sich auf sehr unschöne Art und Weise trennten. Genau dann, als sie sich verlassen und „mutterseelenallein“ fühlte, niemanden mehr als Rückenstütze empfand.Ihr war damals nicht bewusst, wie sehr dieses Musikstück sie unterstützte.Musik war ihr unbewusst eine wertvolle Ressource.
Musik kann in der therapeutischen Arbeit als „Schlüssel“ oder „Code“, als Zugangsmöglichkeit zur Lebensbiografie und zu Kraftquellen (Ressourcen) dienen. Ein Zugang, der Möglichkeiten abseits der Worte eröffnet.
Und auch ein Sprachrohr kann Musik sein: In Familien, in denen das Tabu regiert, kann die gehörte Musik ausdrücken, worüber nicht gesprochen werden darf. So hört die 14jährige Tochter einer alkoholerkrankten Mutter fortwährend den Song „Wo bist du , Mama?“ von LaFee, lautstark lässt sie ihn immerzu durch die Räume klingen – was ihr in der Folge von ihrer nur ab und an anwesenden Mutter und von der im Haushalt lebenden Oma verboten wird – ein Verbot, das sie zunächst nicht begreift! Bis sie versteht, dass sie auf diese musikalische Weise das familiäre Tabu hörbar gemacht hat. Sie bringt durch den Musuktitel zur Sprache, was Mutter und Oma nicht wahrhaben wollen: dass das Kind die Mutter an die Sucht verloren hat und unter diesem Mangel (und den damit verbundenen Folgen für ihr eigenes Leben) schwer leidet.
Und manchmal fühlen sich Menschen von einem Musikstück zum ersten Mal wirklich verstanden: Da drückt ein Song aus, was sie selber nicht so hätten benennen können. Der nachfolgende Liedtext wurde mir von einer Betroffenen für den Blog empfohlen. Sie verbindet das Abdrucken hier mit der Hoffnung, dass das Stück anderen in ihrer belasteten Situation so helfen möge wie ihr. Ich danke von Herzen für diese Empfehlung:
Wie sind Helden „Kaputt“
Dein Vater ist kaputt
aber du bist es nicht, zerbeult und verbogen
und vielleicht nicht ganz dicht
Aber irgendwo darunter bist du seltsam o.k
Beinah unversehrt unter allem, was weh tut
Ich weiss du willst helfen. Ich weiss du grämst dich.
Ich weiss du willst abhauen.
Ich weiss du schämst dich.
Es ist okay jeder soll fliehen der kann.
Wenn du den Fluchtwagen fährst Schnall dich an
So viel kaputt
aber so vieles nicht
Jede der Scherben
spiegelt das Licht
So viel kaputt
aber zwischen der Glut
zwischen Asche und Trümmern
war irgendwas gut
Deine Mutter ist kaputt
aber du bist es nicht
Du trägst dieselben Verbände
Schicht über Schicht
Aber irgendwo darunter
bist du längst schon verheilt
Du hast viel zu lang
ihre Wunden geteilt
Ich weiss du willst helfen
aber du weisst nicht wie
Ich weiss du willst abhauen
aber das könntest du nie
Es ist okay – jeder soll helfen der kann
Wenn du die Scherben aufhebst
zieh dir Handschuhe an
So viel kaputt
aber so vieles nicht
Jede der Scherben
spiegelt das Licht
So viel kaputt
aber zwischen der Glut
zwischen Asche und Trümmern
war irgendwas gut
Du hast es gefunden
Und du musst es tragen
für dich und für alle
die dich danach fragen
Du hast es gefunden
Und du musst es tragen
für dich und für alle
die dich danach fragen
So viel kaputt
aber so vieles nicht
Jede der Scherben
spiegelt das Licht
So viel kaputt
aber zwischen der Glut
zwischen Asche und Trümmern
war irgendwas gut
Ich wünsche Ihnen eine gute Woche, „zwischen Asche und Trümmern war irgendwas gut“, im Sinne des Zitates der Helden wünsche ich Ihnen hilfreiche Hörerlebnisse!
Ihre
Waltraut Barnowski-Geiser
Selbstfürsorge: eine Herausforderung!
Den Impuls dieser Woche verdanke ich einer Klientin auf dem Weg aus ihrem Burnout. Überrascht findet sie auf der Suche nach beruflicher Orientierung diesen Satz für sich. Zunächst mag die Aussage im Wochenimpuls vielleicht ein wenig befremdlich wirken. Für sich selbst brennen? Wo doch vielmehr Egoismus in unserer Zeit eher zu bemängeln ist? Wenn Menschen in einer Familie mit erkrankten Eltern aufgewachsen sind, dann haben Sie meist von Anfang an gelernt, ihre eigenen Bedürfnisse völlig zurückzustellen, um dem Elternteil in der Krise helfen zu können. Sie befinden sich gleichsam auf dem Gegenpol von Egoismus: sie neigen eher dazu, wenn sie sich überhaupt in den Blick nehmen, dieses auf sich achten als puren Egoismus zu interpretieren. Sie setzen meist über Jahrzehnte, weit über ihre eigenen Grenzen hinaus, alles daran, ihre Eltern zu unterstützen, diese etwa von der Sucht wegzubringen, sie aus der Depression zu holen etc. Sich leidenschaftlich für ihre eigenen Bedürfnisse einzusetzen, ist Kindern aus belasteten Familien meist völlig fremd. Oft führen erst Krankheiten wie ein Burnout dazu, nicht mehr ausschließlich für Andere und Anderes zu brennen, sondern endlich auch für sich selbst. Ein wichtiger Schritt auf einem Weg zu mehr Lebensqualität.
Übung: Setzen Sie sich bequem hin. Spüren Sie, wie in den ersten Übungen auf diesen Seiten angeregt, Ihren Atem und wenden Sie sich Ihrem Körper zu…Wenn sie ein wenig mit ihrem Atem und Körper in Verbindung gekommen sind, spüren sie doch einmal nach, ob sie die Flamme, die für sie selbser brennt, in Ihrem Körper spüren können. Lassen Sie sich Zeit… Wenn sie eine Körperstelle gefunden haben, verweilen Sie ein wenig dort. Spüren Sie hin: was erhält diese Flamme, was braucht sie, um ausreichend brennen zu können… Vielleicht gestalten Sie Ihre Flamme auf ein Papier. Malen Sie eine entsprechende Umgebung. Wenden Sie sich in dieser Woche dieser Körperstelle immer wieder einmal zu…
Wenn diese Flamme für Sie in Ihrem Körper nicht auffindbar ist, lassen Sie sich Zeit. Beginnen Sie, diese Flamme zu imaginieren oder malen, so , wie Sie für sie sein müsste.
Hilfe für die „Vergessensten der Vergessenen“ – Das AWOKADO-Hilfe-Konzept für erwachsene Kinder sucht-und psychisch erkrankter Eltern
Erwachsene aus Suchtfamilien müssen leider zu den „Vergessensten der Vergessenen“ gezählt werden. Zwei Denkfehler begünstigen dieses Vergessen:
1. Der Fehlschluss, dass die Kindheitsbelastung doch lang vorbei sei und damit im „Jetzt“, da Betroffene nicht mehr in der Herkunftsfamilie leben, ohne Folgen wäre (und nicht einmal das trifft bei vielen Erwachsenen zu, die oft ein Leben lang mit den Sucht- und psychisch Erkrankten konfrontiert sind).
2. Der Fehlschluss, dass,wenn die Betroffenen nicht von Kindheitsbelastung sprechen, auch keine Belastung vorhanden sei. Da die Kinder über Jahrzehnte in ihren Familien lernen, erkrankte Eltern zu schützen, nicht über ihr eigenes Leid zu sprechen ( es oft nicht einmal wahrnehmen zu dürfen), fehlen ihnen Worte. In Familien, die die elterliche Erkrankung tabuisieren, werden die Kinder frühzeitig zu „Burgbewohnern mit Haut und Haar“ (Barnowski-Geiser 2015). Oft erzählt allein ihr Körper oder ihre sie überfordernde Gefühlswelt, das sie bis heute schwer belastet sind: zu wirksam ist das kindliche Tabu, auch wenn Erwachsene das Elternhaus längst verlassen haben.
Zu diesen Denkfehlern gesellt sich ein großes Manko: Therapeuten, Ärzte und Pädagogen sind zu wenig bis gar nicht auf diese Klientel hin ausgebildet worden. UNd: reine INformation über diese Familien reicht als Hilfestellung nicht aus: Das AWOKADO-Konzept schließt hier eine Lücke der erlebensorientierten Arbeit mit Erwachsenen aus belasteten Familien.
Mehr als zehn Jahre lang arbeitete Dr. Waltraut Barnowski-Geiser mit Kindern und Erwachsenen aus Suchtfamilien und führte zugleich im Rahmen eines wissenschaftlichen Forschungsprojektes Befragungen und Interviews durch. Ihre Fragestellung: Was hilft „Suchtkindern“, ihr Leben zum Positiven zu verändern? Die Ergebnisse ihrer Studie und Befragungen mündeten im AWOKADO-Konzept. Dieses Konzept geht über psychoedukative Arbeit hinaus: Im AWOKADO-Konzept wird, resilienzfördernd und ressourcenorientiert, das Erleben Langzeit-Betroffener fokussiert, unter Einbeziehung der Systemperspektive. Ziel ist eine nachhaltige Verbesserung der Art und Weise „In der Welt zu Sein“.
Die Anfangsbuchstaben der ermittelten Hilfefaktoren stehen dabei für:
A Achtsamkeit Vom Kreisen um die Suchterkrankten zur Selbstachtsamkeit im „Jetzt“ W Würdigung der Belastung und Würdigung der Stärken Hinwendung zu den eigenen Wunden und zu den gewachsenen Kräften O Orientierung
Finden einer eigenen Weltsicht, abseits des Familientabus K Kreativität Schöpferische Potenziale als Quell von Lebensfreude im „Für mich sein“ A Aus-Druck Eine Bewegung vom Innen ins Außen; Abbau von Spannungen und Druck D Deckung und De-Parenting Das Erleben von Sicherheit und sicheren Zonen (Schutzräume) O Offenheit und Öffnung Positive Resonanz-und Beziehungserfahrungen in Netzwerken und Hilfegruppen
Die Namensverwandtschaft mit der Frucht Avocado schien sinnfällig: gilt die Avocado doch als äußerst heilsame und wirksame Frucht, die dosiert und maßvoll einzusetzen ist.
Auf der Basis des AWOKADO-Konzeptes, das sie seit vielen Jahren in therapeutischer Praxis anwendet, entwickelte Frau Barnowski-Geiser das AWOKADO-7-Schritte-Programm zur aktiven Selbsthilfe, das AWOKADO-Stärkungsritual sowie das schulische Präventionsprojekt BEL-Kids, das sie als modularisierte Fortbildung an Pädagogen, Therapeuten und Studierende multipliziert.
Das AWOKADO-7-Schritte-Programm konnte auch erfolgreich angewendet werden bei erwachsenen Kindern chronisch und existenziell erkrankter Eltern (z. B. bei elterlicher Krebserkrankung) sowie bei Erwachsenen von psychisch erkrankten Eltern.